Der Zürcher gewann 1950 den Giro d’Italia und ein Jahr danach die Tour de France. Nach der Karriere verlor sich Koblet – und verstarb früh. Am 21. März wäre die Schweizer Radsportlegende hundert Jahre alt geworden.
Am Montag, dem 2. November 1964, verlässt Hugo Koblet frühmorgens sein Zimmer an der Schaffhauserstrasse beim Berninaplatz in Zürich. Er erscheint verwirrt in seiner Tankstelle bei der offenen Rennbahn und fährt mit einem weissen Alfa Romeo Giulia auf die Forch. Zuvor hatte er vergeblich versucht, die von seiner Frau Sonja Koblet eingereichte Scheidung abzuwenden. Um 10 Uhr 30, es herrschen helle, klare Lichtverhältnisse, rollt der Wagen von der Forch auf abfallender Strasse nach Esslingen und von dort Richtung Mönchaltorf.
Ein Angestellter der Esslinger Kreuzgarage wird später seine Beobachtungen zu Protokoll geben: Ein weisser Alfa Romeo sei mehrere Male zwischen Esslingen und Mönchaltorf hin- und hergefahren, jeweils mit auffälligen Wendemanövern – als wolle der Fahrer die Strecke rekognoszieren. Ein letztes Mal wendet das Fahrzeug eingangs Mönchaltorf und befährt mit starker Beschleunigung die leicht aufwärts in Richtung Esslingen führende Strasse. Es folgt aber nicht der Rechtskurve, sondern steuert geradeaus in einen mächtigen Birnbaum.
Mit einem explosionsartigen Knall zerschellt das Fahrzeug am Baum. Der einzige Augenzeuge, ein Landwirt, eilt herbei und leistet sofort erste Hilfe. Ein Krankenwagen bringt den Schwerverletzten ins Bezirksspital Uster. Doch nach viertägiger Agonie gibt sein Herz den Kampf auf: Hugo Koblet stirbt in der Nacht auf den Freitag, den 6. November 1964, an den Folgen einer Fettembolie. Vier Tage danach findet im Zürcher Fraumünster die Trauerfeier statt – zehn Jahre vorher war an gleicher Stätte die Märchenhochzeit von Hugo und Sonja Koblet zelebriert worden. Tausende Anwesende, unter ihnen die internationale Elite des Radsports, erweisen demjenigen die letzte Ehre, der in der Radsportwelt nur Freunde hatte.
Am 21. März 1925 in Zürich geboren, scheinen dem kleinen Hugo kaum Talente in die Wiege gelegt worden zu sein: Er ist schmächtig und von stiller, träumerischer, eher scheuer Wesensart. Seine Mutter Helene Gross, lebenslang seine engste Verbündete, nimmt ihn deshalb häufig zur Ertüchtigung in ihre Bündner Heimat nach Pontresina mit. Den Vater, Adolf Koblet, Bäcker-Patissier an der Stadtzürcher Hildastrasse mit einer gefährlichen Neigung zu scharfen Getränken, erleben die zwei Söhne Adolf junior und Hugo nur als Kranken und Abwesenden – er stirbt bereits 1934.
Hugo Koblet wird rasch in den elterlichen Betrieb eingespannt: Mit dem Fahrrad bringt er nach der Schule Backwaren zur Kundschaft. Schliesslich packt ihn die Rennleidenschaft, und er organisiert für die Knaben des Quartiers lokale Velorennen. Nach dem Schulabschluss tritt er eine Lehre als Kunstspengler an und sucht danach den Kontakt zum Radrennfahrer und Velohändler Leo Amberg.
Als Achtzehnjähriger absolviert Koblet in der Kategorie Anfänger sein erstes Rennen: das Hasenberg-Klubrennen des Radfahrervereins Zürich in Dietikon. Und tatsächlich, der völlig unbekannte Sieger mit dem komfortablen Vorsprung von 30 Sekunden heisst Hugo Koblet. Doch der Lehrmeister Leo Amberg dämpft die grossen Erwartungen seines Schützlings: «Beine haben alle Rennfahrer, aber nur wenige haben Köpfe!» Als Zwanzigjähriger wechselt Koblet zu den Amateuren, ein Jahr später zu den Professionals.
Explosionsartiger Aufstieg an die Weltspitze
An die Spitze des Radsports stieg Koblet explosionsartig auf. Als Profi errang er zwar schnell einige Achtungserfolge, doch diese beförderten Koblet nicht in den Kreis der Elite. 1950, im Anno Santo der katholischen Kirche, wollten die Organisatoren dem Giro d’Italia mit einer internationalen Besetzung von Rang und Namen Glanz verleihen. Der Teamchef Learco Guerra folgte dem Vorschlag des italienischen Verbandspräsidenten Gino Ginelli: «Nehmt den jungen Schweizer Koblet ins Team auf. Es wird sich lohnen.»
Und wie: Koblet fährt angriffig, spekuliert wie ein alter Fuchs auf die Zeitbonifikationen, kommt gut über die schweren Dolomiten-Etappen und liegt schliesslich, gekleidet in die Maglia rosa, über fünf Minuten vor Gino Bartali, einem der Favoriten. Das völlig Unerwartete geschieht, Koblet steht als Sieger des Giro d’Italia 1950 fest. Am Tag danach erfolgt die Audienz des Protestanten Koblet bei Papst Pius XII. In Chiasso und Lugano organisieren die Ticinesi überschwängliche Siegesfeiern; auf dem Zürcher Bahnhofplatz empfängt eine riesige Menschenmenge den im feudalen Delahaye 135 M sitzenden Giro-Gewinner.
Anfang Juli 1951 startet Koblet in Metz zur 38. Tour de France: Am 15. Juli reisst der Franzose Louis Deprez nach 37 Kilometern aus. Koblet reagiert als Einziger und macht sich allein auf die Verfolgung. Der «Campionissimo» Fausto Coppi sagt seinen Mitstreitern: «Den lassen wir im Gegenwind. Nach hundert Kilometern deponieren wir ihn. Dann ist er für den Rest der Tour erledigt!» Koblet holt Deprez nach wenigen Kilometern ein und lässt ihn stehen.
Bei Etappenhälfte hat Koblet einen Vorsprung von fast drei Minuten. Nun lancieren die Generäle des Pelotons ein dramatisches Verfolgungsrennen: vorne der einsame Koblet, hinten ein Feld mit 45 Fahrern. Ihre Anstrengungen sind vergebens, der wagemutige Aussenseiter erreicht das Ziel in Agen 2 Minuten und 35 Sekunden vor dem Rest. Danach kommt Koblet gut über die Alpenetappen, gewinnt das Einzelzeitfahren von Aix-les-Bains nach Genf und fährt die zwei letzten Etappen sicher im Peloton mit.
So wird Koblet am 29. Juli 1951 im mit 50 000 Zuschauern vollbesetzten Pariser Parc des Princes in die gelbseidene Schärpe des Tour-de-France-Siegers gekleidet und absolviert strahlend die Ehrenrunde. Niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass dieser glanzvolle Sieg der Höhepunkt von Koblets Karriere sein sollte – und der sportliche Niedergang dieses Ikarus auf Rädern bereits bevorstand.
Ein Abenteuer in Mexiko und eine fatale Spritze
Noch während der Frankreichrundfahrt 1951 traten die Organisatoren der mexikanischen Vuelta der Amateure an den mutmasslichen Sieger heran, sie wünschten sich ein prächtiges Aushängeschild. Obwohl Koblet seinem Körper bereits den Giro d’Italia, die Tour de Suisse und die Frankreichrundfahrt zugemutet hatte, stufte er das Mexiko-Abenteuer naiv als angenehmen Ersatz für die Winterpause ein: «Warum auch nicht? Ich will etwas sehen von der Welt, solange ich jung bin und die Gelegenheit dazu habe.»
In Mexiko-Stadt wird er vom Staatspräsidenten fürstlich empfangen und von der Menge begeistert gefeiert. Die Vuelta fährt er als Show-Element teils auf dem Rennrad, teils auf dem Motorrad mit. Schliesslich das endlose Spektakel der Preisverteilung: Filmvorführungen, Tanz und Musik, Check-Übergaben, Cocktails sowie die überbordende Präsentation des Tour-de-France-Siegers. Am Morgen nach der Vuelta fliegt Koblet in die kalte Schweiz zurück. Das Nachspiel der vielfältigen Verlockungen: Koblet hatte sich eine venerische Krankheit zugezogen.
Die Tour de Suisse 1952 ist dann von Beginn weg von nasskalter Witterung geprägt. Auf der Etappe von Adelboden nach Monthey herrscht Dauerregen, ein gewaltiges Gewitter geht nieder. Koblet, der Publikumsliebling, ist bereits an einer Nierenbeckenentzündung erkrankt und von Schüttelfrösten geplagt, quält sich aber im Feld ins Ziel. Es folgen hohes Fieber von über 39 Grad, eine schlaflose Nacht und der Entschluss zur sofortigen Aufgabe.
Doch der autoritäre Rennleiter Carl Senn setzt sich um 2 Uhr morgens gegen die scharfen Einwände des sportlichen Leiters und von Koblets Hausarzt durch: Koblet, der nie Nein sagen kann, lässt sich durch den Tourarzt mit dem gefährlichen Amphetamin Akzedron fit spritzen. Am nächsten Vormittag startet er gedopt zur fünften Etappe, dem 81 Kilometer langen Einzelzeitfahren von Monthey nach Crans. Nach einer längeren Zickzackfahrt bleibt Koblet fast stehen, dem Zusammenbruch nahe.
Das Doping hatte eine Herzerweiterung mit einer Sprengung der Herzkammer bewirkt. Die irreversibel beschädigte Aortaklappe liess bis zu 25 Prozent des vom Herz gepumpten Blutes wieder zurückfliessen, entsprechend reduzierte sich Koblets Kapazität zur Sauerstoffaufnahme. Nach dem Mexiko-Abenteuer vom Dezember 1951 und dem «Gift von Monthey» vom Juni 1952 war es definitiv vorbei mit der Leichtigkeit des Siegens. Von nun an büsste Koblet bereits bei mittleren Steigungen massiv an Leistung ein.
Die Leere nach dem Rücktritt 1958
Gänzlich unvorbereitet für das Leben nach dem Radsport, stellt sich Koblet vorerst als Juniorentrainer in den Dienst des Radsportverbandes. Die vermeintliche Rettung: Ein Koblet-Verehrer bietet ihm die Vertretung erstklassiger italienischer Marken (Fiat, Alfa Romeo, Pirelli) sowie den Posten eines Agip-Botschafters im erdölreichen Venezuela an. Im November 1959 reist Koblet nach Caracas. Doch schon bald muss er feststellen, dass der Markt längst von den grossen amerikanischen Autokonzernen dominiert wird; ausserdem fehlen ihm betriebs- und marktwirtschaftliche Kenntnisse.
Der Geschäftswelt ausweichend, besucht er nun vermehrt gesellschaftliche Anlässe, wirkt etwa als Kommissär und Ehrenstarter bei Gentleman-Autorennen. Er kündigt seinen dreijährigen Vertrag und kehrt in die Schweiz zurück. Vom Landessender wird Koblet als Kommentator und Experte für Radsportanlässe verpflichtet, zusammen mit dem erfahrenen Sepp Renggli. Schliesslich erhält er eine existenzsichernde Offerte: Koblet übernimmt die Pacht von zwei Agip-Tankstellen bei der offenen Rennbahn Oerlikon und an der Limmattalerstrasse in Zürich Höngg. Sein übergeordneter Auftrag? Er soll ein landesweites Agip-Tankstellennetz aufbauen.
Doch Koblet gelingt der Schritt ins Leben nach dem Radsport nie: Er hadert mit dem Alterungsprozess, seine Beschäftigungen als Radioreporter und als Verbandstrainer des Nachwuchses empfindet er als Engagements wider Willen, die Position als Tankstellenleiter erscheint ihm als Abstieg. Und vor allem kann er seinem aufwendigen Lebensstil nicht entsagen.
Schon Jahre zuvor, als Koblet unterwegs zu Rennen in Belgien war, hatte ihm der Radprofi Armin von Büren, sein langjähriger Partner im Sechstagerennen, zur persönlichen Vorsorge geraten. Koblet antwortete ihm, bezeichnend für seine Nonchalance gegenüber fast sämtlichen Lebensbereichen: «Armin, ich liebe das Geld nicht so wie du, mir ist es egal. Ich spare nicht, ich gebe das Geld aus, denn ich lebe ohnehin nicht lange.» Er sollte damit recht behalten.
Was bleibt vom «pédaleur de charme»?
Person, Leben und Lebensleistung Koblets gerieten in den Jahrzehnten nach seinem Tod nicht in Vergessenheit. 1993 publizierte der französische Radsportreporter Jean-Paul Olivier ein Buch über Koblet; 2005 erschien ein grossformatiger Fotoband zu dessen Rennsportkarriere.
Der Dramatiker Gerhard Meister schrieb zur Gegensätzlichkeit von Ferdy Kübler und Koblet das 2009 in Bern aufgeführte Theaterstück «Hugos schöner Schatten». Koblet ist ohne Kübler fast nicht zu denken; sein ebenso erfolgreicher Antipode auf dem Rad war auch ein Gegenentwurf im Leben: Während der hochbegabte Künstler Koblet kosmopolitische Werte ausstrahlte, hatte der disziplinierte Arbeiter Kübler typisch schweizerische Qualitäten. Koblet erarbeitete sich die Form hauptsächlich im Rennen; Kübler fuhr trainingshalber fast täglich über den Klausenpass. Koblet rann das im Koffer mitgeführte Bargeld durch die Finger; Kübler war ein Sparfuchs. Und Koblets Kräfte waren schon vor dem 40. Lebensjahr erschöpft, der zähe Kübler wurde hingegen fast hundert Jahre alt.
2010 veröffentlichte Daniel von Aarburg den Film «Hugo Koblet. Pédaleur de charme. Aufstieg und Fall des James Dean des Radsports». Ebenfalls bleibend sind der Hugo-Koblet-Weg in Zürich Oerlikon sowie das Denkmal der Tessiner Koblet-Enthusiasten auf dem Monte Ceneri. Unvergessen die stilistische Eleganz des «pédaleur de charme», die Empathie des Feinfühligen und die Grosszügigkeit des radsportlichen Ausnahmekönners gegenüber weniger bemittelten Konkurrenten, denen er freigebig Teile des eigenen Materials zur Verfügung stellte.
So bleibt Hugo Koblet als ein Star des Radsports in Erinnerung, dem auf dem Rennsattel fast alles und im realen Leben nur wenig gelingen wollte. Am 21. März wäre er hundert Jahre alt geworden.