Donnerstag, Mai 1

Vor fünf Jahren machte der Tiroler Wintersportort Negativschlagzeilen als «Ground Zero» der Corona-Pandemie. Nun sind die Gäste zurück, die Après-Ski-Exzesse sollen aber der Vergangenheit angehören.

Es ist erst mitten am Nachmittag, doch eine Gruppe deutscher Touristen prostet sich gerade mit der zweiten Runde Birnenschnaps zu. Sie steht rund um einen Stehtisch vor der «Hexenküche». Jedes Mal, wenn die Tür zur Bar aufgeht, dröhnt Schlagermusik nach aussen. Doch, sie seien schon auch auf dem Berg gewesen, erzählt Stefanie Engler. Aber weil das Wetter durchzogen sei, habe man eben früher mit Après-Ski begonnen.

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Die 45-jährige Norddeutsche verbringt zusammen mit ihrem Mann und den beiden Töchtern im Teenager-Alter wie jedes Jahr die Osterferien in Ischgl. Sie schwärmt von den modernen Liftanlagen und den guten Pisten. Und ja, natürlich gehöre die Party auch dazu.

Ein Hütten-Hit jagt den andern

Im Inneren des Lokals ist es stickig und so laut, dass man sich auch schreiend kaum verständigen kann. Ein Hütten-Song jagt den andern, und die Menge johlt dazu mit. Immer wieder «Johnny Däpp, Däpp, Däpp», «Hulapalu» oder natürlich «I hob ein Wackel-Wackel-Wackelkontakt», der Hit dieser Saison. Zu Hause möge er diese Musik nicht, sagt Finn Ketelsen, der mit seinen Handballfreunden aus Kiel angereist ist. Aber hier schon.

Doch diesen Ruf als Ballermann der Alpen will Ischgl eigentlich loswerden. Der Wintersportort wirbt mit der guten Infrastruktur, den 240 Pistenkilometern, «garantiertem» Schnee von November bis Mai dank hoher Lage und Beschneiung sowie mit mehreren Gourmetrestaurants. Trotzdem entkommt man dem Partybetrieb nicht, wenn man am Nachmittag oder Abend durch die Strassen Ischgls spaziert. Immerhin verspricht die «Schatzi-Bar» gegenüber der Talstation der Pardatschgrat-Bahn schlagerfreie House-Musik. Laut und feuchtfröhlich ist es dennoch. Auf den Tresen tanzen die «Schatzi-Girls» in bauchfreien Mini-Dirndln.

Vor fünf Jahren machte Ischgl weltweit Negativschlagzeilen als «Ground Zero» der Corona-Pandemie, wie es das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) im Mai 2020 in einer Studie formulierte. Ischgl stand quasi in einer Reihe mit Wuhan, Bergamo oder New York.

Als fatal bezeichnete das IfW dabei die langsame Reaktion der Behörden. Schon am 5. März hatte Island Ischgl als Risikogebiet eingestuft. Trotzdem wurde tagelang weitergefeiert. Als ein Barkeeper des Après-Ski-Lokals «Kitzloch» positiv getestet wurde, tauschte man lediglich das Personal aus. Eine Übertragung des Virus auf Gäste sei eher unwahrscheinlich, hiess es seitens der Landessanitätsdirektion.

Erst am 9. März wurden zunächst das «Kitzloch» und am Tag darauf alle anderen Bars behördlich geschlossen. Einige Tage später stellte die Regierung in Wien schliesslich die ganze Region unter Quarantäne. Laut einer Recherche des «Spiegels» sollen mehr als 11 000 Krankheitsfälle auf das Tiroler Dorf zurückzuführen sein. Gemäss der Studie des IfW hatte im März 2020 ein Drittel aller Infektionen in Dänemark ihren Ursprung in Ischgl.

Das chaotische Vorgehen sorgte im In- und Ausland für Unmut. Mitten in der Hochsaison habe man aus Profitgier jede Verantwortung vermissen lassen, lautete der Vorwurf an die Tiroler Behörden. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wurden Ende 2021 jedoch eingestellt, weil es keine Beweise für schuldhaftes Verhalten gab. Im Sommer 2023 wurden schliesslich auch 130 zivilrechtliche Einzelklagen sowie eine Sammelklage zurückgezogen, nachdem der Oberste Gerichtshof eine staatliche Haftung abgelehnt hatte.

Hat der beschädigte Ruf dem Tourismus geschadet? Stefanie Engler, die Ischgl auch vor der Pandemie bereits regelmässig besuchte, meint, es sei leerer als vor der Pandemie. Auch die Kieler Handballer kommen jedes Jahr her und finden, es sei wenig los. Sie waren allerdings in der Nacht davor trotzdem unterwegs, «bis es nicht mehr ging». Die letzten seien um fünf Uhr morgens im Bett gewesen.

Im Winter in den Alpen, im Sommer auf Mallorca

An diesem Abend tritt im «Kuhstall» Matty Valentino auf, der Tiroler ist einer der Stars der Après-Ski-Szene. Er tingelt im Winter durch die Alpen, singt im Sommer auf Mallorca und im Herbst an den Oktoberfesten. Über 200 Veranstaltungen kommen so pro Jahr zusammen, an denen er in Lederhose und mit Sonnenbrille zum Feiern und Trinken animiert. Das Lokal ist zwar nicht voll, aber an der Bar und vor der Bühne stehen die Menschen dicht gedrängt. Der Jägermeister fliesst in Strömen. Zum Hit «Auffe aufn Berg und oba mit de Ski» macht die Masse die entsprechende Bewegung mit den Armen mit. «Ihr seids der Wahnsinn», lobt Valentino begeistert. Einige tragen trotz später Stunde immer noch Funktionsshirt und Skihose.

Dass es weniger voll ist als sonst in den Osterferien, liegt laut dem Geschäftsführer des örtlichen Tourismusverbands, Thomas Köhle, allein daran, dass die Feiertage dieses Jahr spät im April sind. Da fehle für einige schon das Wintergefühl, und sie reisten lieber in den Süden. Er blickt aber auf eine hervorragende Saison zurück, bis Ende März sei man praktisch ausgebucht gewesen. Auf seinem Smartphone prüft Köhle die aktuelle Zahl der Gäste im Skigebiet. «9600 Personen sind derzeit oben auf dem Berg, und die Spätaufsteher kommen erst», sagt er zufrieden. Es ist ein Montagmorgen um 11 Uhr.

Im April entscheide sich jeweils, ob es ein gutes oder ein sehr gutes Jahr werde, erklärt der Tourismuschef. Ischgl tut viel, um die Saison zu verlängern: Es bewirbt das Frühlingsskifahren als «Spring Blanc» und veranstaltet Konzerte an den Wochenenden. Die Wertschöpfung im Winter sei einfach ungleich höher als im Sommer, so erklärt Köhle die Strategie. Zum traditionellen Saisonabschluss am ersten Maiwochenende kommt dieses Jahr One Republic. Da werde auf den Strassen wieder kein Durchkommen sein, meint Köhle.

Diese Events im Skigebiet hat Ischgl quasi erfunden. Man mache das schon seit dreissig Jahren, sagt er. Mittlerweile haben das viele Wintersportorte kopiert und feiern ebenfalls das «Opening» und «Closing» der Saison.

Die Pandemie sei schwierig gewesen, räumt Köhle ein, auch wenn er findet, Ischgl sei zu Unrecht derart kritisiert worden. 70 Prozent der Touristen seien Stammgäste, und es sei nicht klar gewesen, ob sie zurückkämen. Aber sie seien zurückgekommen, sagt Köhle. Die Zahlen für diese Saison liegen noch nicht vor, aber er meint, dass erstmals wieder das Vorkrisenniveau von 1,4 Millionen Nächtigungen erreicht oder sogar übertroffen werden könnte. Corona werde immer Teil der Geschichte des Orts sein, erklärt der Tourismuschef. «Aber nach fünf Jahren können wir einen Haken daruntersetzen. Ischgl is back.»

Das bestätigt auch Bernhard Zangerl, der neben einem Hotel und dem «Kuhstall» auch das damals viel gescholtene «Kitzloch» betreibt. Diese Saison sei noch besser gewesen als die letzte, erklärt er. Auch Zangerl wurde vor fünf Jahren berühmt, weil er sich als einer von wenigen in Ischgl den Medien stellte und auch Fehler einräumte. Selbst CNN und die «New York Times» berichteten über ihn.

An diesem Nachmittag ist es eher ruhig in der Bar, auf der Terrasse sitzen Gäste und essen – zu Preisen wie in der Schweiz. Gefeiert werde aber wieder wie vor der Pandemie, sagt Zangerl, auch wenn bei ihm wie in den anderen Lokalen mittlerweile auf die primitivsten Sauf-Lieder verzichtet werden soll. In diesem März gab es im «Kitzloch» sogar einen neuen «Flügerl»-Rekord. 3000 Shots mit Wodka und Red Bull bestellte eine Gruppe von Stammgästen – 9000 Euro kostet das. Die Getränke werden dann jeweils mit Feuerwerk gebracht und die Rekordhalter an der Wand verewigt. Nach 52 Minuten seien bereits alle getrunken gewesen, erzählt Zangerl.

Das Tragen von Skischuhen ist ab 20 Uhr verboten

Der junge Gastronom hadert mit dem Bild, das die Medien während der Pandemie zeichneten. Gleichzeitig hat er auch Verständnis. «Ischgl polarisiert, wir wurden Opfer unseres Erfolgs», meint er. Dabei habe man sich stets an die behördlichen Anweisungen gehalten. Für das «Kitzloch» seien die Schlagzeilen im Nachhinein sogar positiv gewesen. Damals eher ein Geheimtipp, ist es heute die vielleicht bekannteste Après-Ski-Bar der Welt. Viele kämen vorbei, wollten sie sich anschauen und machten Selfies, erzählt Zangerl.

Vom Ballermann-Image will man auch hier weg – aber wie gelingt das in Ischgl? «Après-Ski ist ein Teil des Pakets, aber nicht der wichtigste», betont der Bürgermeister Werner Kurz. Man verfüge über 12 000 Betten, aber nur über 2500 Sitzplätze in Après-Ski-Lokalen, rechnet er vor. Es gehe praktisch jeder Gast Ski fahren, aber nicht jeder feiern. Im Vordergrund solle das Skifahren stehen, die modernen Anlagen, die Kulinarik, Wellness und Erholung, sagt der langjährige Gemeindevorsteher.

Gegen den Exzess geht man schon länger vor. Er bringt zwar Geld, gleichzeitig schreckt diese Art von Tourismus andere Zielgruppen ab – weshalb etwa auch Mallorca eine Neupositionierung versucht. Bereits seit acht Jahren ist in Ischgl das Tragen von Skischuhen ab 20 Uhr verboten, zum einen wegen des Lärms, zum anderen aus Sicherheitsgründen. 2020 wurde zudem ein Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen eingeführt. Reisebusse, die Tagesgäste oft nur für die Partys herbeikarrten, müssen den Ort bis 19 Uhr 30 verlassen. «Die wollen wir nicht mehr haben», sagt Kurz.

Ein privater Sicherheitsdienst sorgt für die Einhaltung dieser Regeln. Während der fünfmonatigen Wintersaison sind täglich zwischen 15 und 2 Uhr vier Streifen unterwegs. An diesem Nachmittag patrouillieren zwei Ungarn vor dem «Kitzloch» und haben die Terrasse im Blick. Jetzt sei es ruhig, aber im Dezember und Februar sei es «zu viel» gewesen, erzählen sie. Da müsse man auch einmal ein Auge zudrücken bei der Durchsetzung des Alkoholverbots, weil bis auf die Strasse hinaus Leute stünden.

Diese Massnahmen würden helfen, die Akzeptanz für den Tourismus zu erhalten, meint der Bürgermeister Kurz – obwohl Ischgl jeden Winter vom 1600-Seelen-Dorf zur Kleinstadt anwächst mit zusätzlich 12 000 Gästen und rund 2500 Saisonarbeitskräften. Es gebe kaum Widerstand, sagt Kurz, auch weil die Einheimischen profitierten von den Investitionen in die Infrastruktur. So würden Arbeitsplätze geschaffen und Landflucht verhindert. Der Tourismus soll weniger schrill sein, ist für die Region aber alternativlos.

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