Montag, November 25

Als Ort für die Revolutionstheorie wurde es vor gut hundert Jahren gegründet und entwickelte sich zu einem Zentrum gelehrter Gesellschaftskritik: Was hält das Frankfurter Institut für Sozialforschung heute zusammen?

Ein unabhängiges Institut für Sozialforschung, getragen von einem vermögenden Grosskaufmann und seinem politisch links engagierten Sohn: Das war etwas Aussergewöhnliches, selbst in einer aufgeschlossenen, der Wissenschaft zugetanen Stadt wie Frankfurt am Main. Niemand hätte sich 1923 vorstellen können, dass dieses Institut dereinst ein Ort sein würde, der in Verbindung mit dem Begriff «Kritische Theorie» weltweit bekannt werden sollte.

Die Anregung, ein solches Institut zu gründen, war von einem Kreis junger, linker Intellektuellen ausgegangen, zu denen neben prominenten Marxisten wie Georg Lukács und Karl Korsch auch Felix Weil und dessen Freund Friedrich Pollock gehörten. Erster Institutsdirektor war der «Kathedermarxist» Carl Grünberg, ein politischer Ökonom, der sich mit Studien zur Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung einen Namen gemacht hatte. Nachdem sich Grünberg Ende der zwanziger Jahre aus gesundheitlichen Gründen von der Institutsleitung zurückgezogen hatte, wurde Max Horkheimer sein Nachfolger.

Horkheimer war Privatdozent für Philosophie gewesen und wurde von der Universität Frankfurt 1930 zum Ordinarius für Sozialphilosophie ernannt. In der Rede, die er 1931 hielt, als er die Leitung des Instituts übernahm, legte er den Schwerpunkt der Arbeit auf empirische Sozialforschung. Genauer auf eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ökonomie, Psychologie, Soziologie, Geschichte und Recht unter einem sozialphilosophischen Dach. Das zeigte sich bereits in den ersten Projekten: etwa in einer Umfrage über das politische Bewusstsein der Arbeiter und Angestellten oder in Plänen für eine Studie zu den Entstehungsbedingungen und den sozialen Auswirkungen von Autorität.

Um die Studien einer grösseren Öffentlichkeit vorzustellen und ein Forum für den wissenschaftlichen Diskurs zu schaffen, hatte Horkheimer die «Zeitschrift für Sozialforschung» gegründet, als deren leitender Redaktor der Literatursoziologe Leo Löwenthal fungierte. Ihr Profil sollte die Zeitschrift dadurch gewinnen, dass ihre Autoren dazu beitragen, «eine Theorie des historischen Verlaufs der gegenwärtigen Epoche» zu entwickeln. Diese Tradition wird heute mit «West-End. Neue Zeitschrift für Sozialforschung» fortgesetzt.

Horkheimers Pessimismus

Es dauerte einige Jahre, bis das Markenzeichen Kritische Theorie zum ersten Mal auftauchte. 1937 war es so weit. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten war das Institut 1934 in die USA emigriert. Die Kritische Theorie sollte dem in New York ansässigen, mit der Columbia University assoziierten Institute of Social Research ein eigenständiges wissenschaftliches Profil verleihen.

Horkheimer betonte damals in einem Aufsatz ausdrücklich das besondere Erkenntnisinteresse der Kritischen Theorie: die individuelle Emanzipation, die zu einer Gesellschaft ohne Zwang und Ausbeutung führen soll. Gegen Ende des Textes stellte er die Erfolgsaussichten dieses Theorieprogramms allerdings selbst infrage. Aufgrund der historischen Situation, in der Europa unter dem Druck faschistischer Regime «zur finstersten Barbarei» hin dränge, könne es keine allgemeinen «Kriterien für die kritische Theorie als Ganzes» geben, schrieb er.

Horkheimer zog sich auf die Position zurück: Die Kritische Theorie sei nur als isolierte Praxis philosophischer Reflexion Einzelner am Leben zu erhalten, nicht jedoch im Sinne des politisch intervenierenden Denkens einer linken Bewegung. Mit diesem Pessimismus war der Keim dafür gelegt, dass der revolutionäre Hoffnungen hegende Felix Weil zusehends auf Distanz zu dem Institut ging, das ohne seine finanziellen Zuwendungen nicht entstanden wäre.

Weil hatte einen Ort für die Erneuerung des historischen Materialismus und die Revolutionstheorie schaffen wollen. Unter Horkheimer entfernte sich das Institut seiner Ansicht nach davon. Allerdings ist fraglich, ob es der Kritischen Theorie gezielt um die Kritik der kapitalistischen Gesellschaft und die Klärung der Gründe für das Scheitern der proletarischen Revolution ging. Und ob es je ein «Ganzes» gab, wie der Kulturwissenschafter Christian Voller kürzlich in seiner «Frühgeschichte der Kritischen Theorie» schrieb.

Die Wahrheit in der Negation

Dass das «institutionelle Kraftzentrum» des Instituts in der Freundschaft zwischen Horkheimer, Pollock, Löwenthal und Adorno bestanden habe, wie Voller behauptet, wird man kaum sagen können. Die Briefwechsel zwischen den vieren, die gegenseitigen Anfeindungen und Abgrenzungskämpfe zeigen ein anderes Bild. Das «Ganze» bestand von Anfang an aus gegensätzlichen Strömungen und unterschiedlichen politischen wie wissenschaftlichen Interessen. Die Kritische Theorie war von Anfang an ein plurales Unternehmen.

Auch wenn Adorno immer wieder seine Verbundenheit mit Horkheimer zum Ausdruck brachte und in der Zeit des amerikanischen Exils dessen Zustimmung suchte: Mit der Konzeption der Kritischen Theorie ging er seinen eigenen Weg. Für ihn bedeutet sie die Anstrengung, die Erfahrungen mit der Welt und ihrem falschen, sich in sinnloser Arbeit, tumbem Konsum und kulturindustrieller Betäubung erschöpfenden Zustand in dialektischen Denkprozessen zu objektivieren. Die Wahrheit der Theorie bewährt sich in Einsichten, die aus der Kritik des Gegebenen in Form bestimmter Negation gewonnen werden.

Um die Grundstruktur der Gegenwartsgesellschaft zu analysieren, bediente sich Adorno der Begrifflichkeit von Marx. Aber er erhob den Anspruch, dessen Kapitalismustheorie weiterzuentwickeln. Die Widersprüche der Gesellschaft zeigen sich seiner Ansicht nach nicht mehr in Form von Klassengegensätzen und revolutionären Bewegungen. Ein Klassenbewusstsein im traditionellen Sinne lasse sich empirisch nicht feststellen, war er überzeugt. Und die Erfahrung der Verelendung hielt er für die Arbeiterklasse nicht für bestimmend. In der Gegenwart manifestierte sich Herrschaft für ihn als Systemzwang und hatte dementsprechend einen anonymen, unpersönlichen Charakter.

Diese These ist nicht weit entfernt von den Zeitdiagnosen, die Jürgen Habermas in seiner Gesellschaftstheorie entwickelt hat – auch er ein eigenständiger Repräsentant der Kritischen Theorie, der allerdings nie in Adornos Fussstapfen als Institutsdirektor trat. Habermas’ Kommunikationstheorie markiert die sprachtheoretische Weiterentwicklung der Kritischen Theorie. Er zeigte, dass die Bedingung der Möglichkeit von Kritik in der Struktur der Sprache selbst angelegt ist. Kritik bedeutet für Habermas die diskursive Praxis zwanglosen Argumentierens.

Durch die Vernunftauszeichnung der sprachlichen Kommunikation überwindet Habermas die in der europäischen Bewusstseinsphilosophie bis dahin vorherrschende Perspektive der Zwecktätigkeit eines einsamen Subjekts. An dessen Stelle treten die Wechselbeziehungen miteinander sprechender und handelnder Personen. Damit schlägt Habermas die Brücke zur Zeitdiagnose: Die gesellschaftliche Entwicklungsdynamik der Moderne führt dann zu grundsätzlichen Störungen, wenn die Alltagspraxis der Verständigung durch Kalküle ersetzt wird, die rein instrumentellen oder strategischen Zwecken folgen.

Der Zeitgeist lässt grüssen

Nochmals eine andere Spielart der Kritischen Theorie zeigt sich bei Axel Honneth, der von 2001 bis 2018 Direktor des Instituts für Sozialforschung war. Im Mittelpunkt seines an Hegel orientierten Denkens steht die Anerkennung als essenzielles Grundprinzip sozialer Gerechtigkeit. Davon ausgehend, macht er Formen sozialer Missachtung zum Gegenstand der Kritik.

Soziale Anerkennung ist für Honneth Voraussetzung für jedes kommunikative Handeln. Daraus ergibt sich die Forderung, dass sich eine moderne kritische Gesellschaftstheorie den historisch gewachsenen Verletzungen von Identitätsansprüchen widme, die aus dem Mangel an gegenseitiger Anerkennung im konkreten Zusammenleben resultieren.

In den hundert Jahren, während deren das Institut für Sozialforschung bereits besteht, sind seine Vertreter stets eigene Wege gegangen. Es gibt nicht eine, sondern mehrere kritische Theorien. Gemeinsam ist ihnen die Absicht, gesellschaftliche Krisentendenzen und Konflikte mit philosophischer und soziologischer Theoriebildung in ihrem historischen Kontext zu erfassen. Der derzeitige Direktor des Instituts, Stephan Lessenich, kündigte kürzlich an, er werde «den Kanon der Bezugstheorien um queerfeministische und posthumanistische Ansätze, antirassistische und dekoloniale Perspektiven» erweitern.

Der Zeitgeist lässt grüssen. Eine Konferenz «Futuring Critical Theory», die im Herbst des vergangenen Jahres am Institut stattfand, war nicht viel mehr als eine Sammlung ziemlich beliebiger Projektideen. Was würde Adorno dazu sagen, dass die Kritische Theorie Anschluss an popkulturelle Formen des Widerstandes suchen müsse? Ist das «Gesellschaftskritik ‹von unten›»? Ist das die «Petite Auberge Aufbruch», als die Stephan Lessenich das Institut kürzlich bezeichnete – in ironischer Anlehnung an Georg Lukács, der die Vertreter der Kritischen Theorie einmal «Grand Hotel Abgrund» genannt hatte?

Aufklärung mit dem Ziel, Freiheitsräume zu erweitern, bezeichnet einen normativ-kritischen Zugang zur Gesellschaft. Dies eint die Vertreter einer Kritischen Theorie der Gesellschaft trotz allen Differenzen. Es gibt keinen Anlass, hinter den Anspruch zurückzufallen, den inneren Widersprüchen des menschlichen Zusammenlebens auf den Grund zu gehen und die strukturellen Ursachen für Gerechtigkeitsdefizite zu begreifen.

Stefan Müller-Doohm ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Oldenburg.

Exit mobile version