Donnerstag, November 13

Millionen Menschen könnten im Sudan in den nächsten Monaten verhungern. Die Hoffnungen, das zu verhindern, liegen auf Gesprächen in der Schweiz. Doch die Menschen brauchen mehr.

Vergangene Woche war es so weit. Internationale Experten veröffentlichten einen 47-seitigen Bericht, in dem sie erklärten, im Sudan, dem drittgrössten Land Afrikas, herrsche eine Hungersnot.

Solche Erklärungen sind selten. Eine Hungersnot ist die oberste von fünf Stufen der IPC-Klassifikation, eines von Regierungen, Hilfsorganisationen und der Uno verwendeten Systems zur Einschätzung von Ernährungssicherheit. Erst zwei Mal haben die IPC-Experten seit der Einführung der Skala vor 20 Jahren eine Hungersnot erklärt – 2011 in Somalia und 2017 im Südsudan. Die jetzige Erklärung betrifft das Flüchtlingslager Zamzam in der umkämpften Region Darfur im Westen des Sudans. Rund eine halbe Million Menschen leben dort, viele von ihnen könnten in den nächsten Monaten verhungern.

Laut den Experten herrschen womöglich auch andernorts im Sudan Zustände, die unter das Etikett «Hungersnot» fallen. Doch dort fehlen die Informationen. Laut der Uno haben mehr als 25 Millionen Menschen im Sudan nicht mehr genug zu essen.

Die Situation im Sudan, wo seit 15 Monaten Krieg herrscht, ist dramatisch. Und sie könnte noch viel dramatischer werden. Forscher des niederländischen Konfliktforschungsinstituts Clingendael schätzten im Mai, bis Ende September könnten 2,5 Millionen Menschen verhungern. Viele Experten gehen davon aus, dass die jetzige Hungersnot im Sudan die schlimmste seit der grossen Hungersnot in Äthiopien in den 1980er Jahren werden könnte. Damals gingen Bilder von verhungernden äthiopischen Kindern um die Welt. Sie prägten auf Jahrzehnte hinaus die Wahrnehmung Äthiopiens im Westen.

Die Märkte sind leer, die Preise haben sich vervielfacht

Während in den 1980er Jahren Pop-Stars grosse Konzerte abhielten, um Geld zu sammeln für Äthiopien, ist es um den Sudan vergleichsweise ruhig. Das hat damit zu tun, dass die Kriege in der Ukraine und Gaza den Sudan-Krieg überschatten. Es hat auch damit zu tun, dass die Kriegsparteien im Sudan verhindern, dass zu viele Informationen und Bilder in die Welt dringen. Journalisten erhalten kaum Zugang zum Land. Selbst Hilfsorganisationen warten oft während Monaten auf Visa für ausländische Mitarbeiter.

Der Krieg im Sudan ist ein Konflikt zwischen zwei rivalisierenden Armeen, die um die Macht im Land kämpfen – die nationale Armee und die bis zu 100 000 Mann starke Miliz Rapid Support Forces (RSF). Für beide Parteien ist Hunger eine Waffe. Sie verhindern, dass Hilfe in von der Gegenseite kontrollierte Gebiete gelangt. Beide Parteien hoffen unter anderem, dass sich die Situation in den Gebieten des Feindes so sehr verschlimmert, dass er gezwungen ist, Ressourcen für Ernährung abzustellen, die sonst auf dem Schlachtfeld eingesetzt würden. Beiden Seiten wird vorgeworfen, Hilfskonvois und Materiallager humanitärer Organisationen geplündert zu haben.

Die Sprecherin des Welternährungsprogramms (WFP) der Vereinten Nationen für den Sudan, Leni Kinzli, sagt am Telefon: «Wir haben Pläne, mehr Hilfe zu liefern, aber dafür brauchten wir humanitären Zugang und eine Waffenruhe.» Keine der beiden Kriegsparteien zeigt ein Interesse daran. Die Region, für die vergangene Woche die Hungersnot erklärt wurde, könnte das WFP zum Beispiel vom Nachbarland Tschad aus mit Lastwagen erreichen. Doch weil die Gegend weitgehend von den RSF kontrolliert wird, verweigert die Militärregierung die Erlaubnis zur Einfuhr von Hilfsgütern.

Stattdessen retten sich jene Sudanesen, die können, über die Grenze nach Tschad. Bei einem Besuch der NZZ im Ort Adré im Mai sagten fast alle sudanesischen Flüchtenden am Grenzübergang, sie seien gekommen, weil es nichts mehr zu essen gebe. Der Krieg verhindert, dass Bauern anpflanzen und ernten können. Die Märkte sind leer, oder die Lebensmittel sind so teuer geworden, dass viele sie nicht mehr bezahlen können.

Krisen leugnen, aber Hilfe ins Land holen

Der Einsatz von Nahrung und Hilfe für politische Zwecke hat im Sudan eine lange Geschichte. Die Autoren eines Artikels in der «New York Review of Books» schrieben Ende Juni unter dem Titel «Der Sudan verhungert»: «Während sechs qualvoller Jahrzehnte haben die postkolonialen Herrscher des Sudans Hunger als Waffe eingesetzt; sie wählten ein paar wenige aus, die überlebten, den grossen Rest überliessen sie dem Tod.»

In den Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit des Sudans 1956 waren Regierungen vor allem darauf bedacht, die Versorgung der Hauptstadt Khartum und anderer bevölkerungsreicher Gebiete am Nil sicherzustellen. Sie enteigneten Subsistenzbauern in ländlichen Gebieten und verteilten Land an Angehörige der politischen Elite, die grosse Landwirtschaftsbetriebe einrichteten. Die Betriebe produzierten oft in Monokultur, zum Beispiel Hirse. Durch Export der Ernte beschafften die Eliten ausländische Devisen, mit denen sie dann Weizen importierten – der vor allem in den sudanesischen Städten konsumiert wird.

Die Monokulturen und zwei lange Bürgerkriege lösten Ernährungskrisen aus. Die Regierungen des Sudans reagierten auf diese, indem sie die Krisen einerseits kleinredeten, gleichzeitig aber Hilfsorganisationen ins Land holten, die die hungernde Bevölkerung versorgten. Die Regime stellten sicher, dass jene Gegenden am besten versorgt wurden, die für die politische Stabilität am wichtigsten waren – vor allem die Millionenstadt Khartum.

Es ist auch diesmal so. Die sudanesische Militärregierung steuert Hilfe in die von ihr kontrollierten Gebiete und verhindert mit bürokratischen Auflagen, dass sie in andere gelangt. Doch es gibt einen Unterschied: Diesmal droht auch in Khartum, der mehrheitlich von den RSF kontrollierten Hauptstadt, eine Hungersnot. Einer der Autoren des Artikels in der «New York Review of Books», der Konfliktforscher Joshua Craze, sagt am Telefon: «Die sudanesischen Streitkräfte wissen genau, was sie tun. Sie machen das seit Jahrzehnten so.»

Viele Experten glauben aber auch, dass die Vereinten Nationen, die der wichtigste Helfer im Sudan sind, sich zu defensiv verhalten. Sie sagen, die Uno solle sich nicht länger die Bedingungen vom Militär diktieren lassen und auch mit anderen Gruppen zusammenarbeiten, um Zugang für Hilfsgüter zu schaffen. Zum Beispiel an der Grenze zu Tschad mit den RSF, wie das andere humanitäre Organisationen tun.

Der Konfliktforscher Craze sagt, vor allem die Hilfsorganisationen der Uno seien «konservative Institutionen, die auf die Zustimmung von Regierungen angewiesen sind und sie so faktisch unterstützen». Craze hält die Sorge des Uno-Hilfsapparats, aus dem Land gewiesen zu werden, wenn man die Auflagen des Militärs nicht befolge, für unbegründet. Denn die Armee sei darauf angewiesen, dass die Hilfsorganisationen die von ihr kontrollierten Gebiete versorgten.

Gespräche in der Schweiz werden wenig ändern

Weil sich die Herangehensweise der Uno kaum ändern wird, liegen die Hoffnungen zurzeit auf Gesprächen, die auf Betreiben der USA ab dem 14. August in der Schweiz stattfinden sollen. Doch die Erfolgsaussichten sind bescheiden. Bei früheren Verhandlungen in der saudischen Stadt Jidda willigten die Konfliktparteien in mehrere Waffenruhen ein, die sie gleich wieder brachen.

Diesmal haben die RSF zugesagt, an den Gesprächen teilzunehmen. Die Armee aber stellt Bedingungen, die schwer erfüllbar sind. Sie hat zum Beispiel in einem Statement gefordert, die RSF müssten sich zuerst aus eroberten Orten zurückziehen. Die RSF, die militärisch die Oberhand haben, werden das nicht tun. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass die Gespräche scheitern, bevor sie begonnen haben.

Vieles hängt davon ab, ob die USA genügend Druck auf die Kriegsparteien ausüben, um zumindest eine Waffenruhe und Zugang für Hilfsgüter zu ermöglichen. Die Regierung von Joe Biden wünscht sich zwar einen aussenpolitischen Erfolg vor den Wahlen im November – ein Erfolg, der in der Ukraine und in Gaza gerade unmöglich scheint. Doch gleichzeitig zögern die USA, Druck auf Verbündete im Nahen Osten auszuüben, die die Kriegsparteien im Sudan unterstützen. Allen voran die Vereinigten Arabischen Emirate, die die RSF mit Waffen beliefern.

Leni Kinzli, die WFP-Sprecherin, sagt: «Wir rufen die internationale Gemeinschaft auf, mehr Druck auszuüben, um den humanitären Zugang zu öffnen. Und damit die beiden Kriegsparteien aufhören, uns Steine in den Weg zu legen.» Gerade scheint weder das eine noch das andere zu passieren.

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