Hochwasser-Experte Rolf Weingartner meint warnend, dass mit der Klimaveränderung plötzlich Siedlungen und Weiler gefährdet seien, die zuvor über Jahrhunderte sicher waren. Möglicherweise müssten einzelne von ihnen aufgegeben werden.

Herr Weingartner, die vergangenen Wochen waren vom Wetter her sehr aussergewöhnlich. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Haben Sie die Hochwassergebiete besucht? Oder studierten Sie Statistiken?

Ich war vor einer Woche in Leukerbad und habe die Situation im Süden des Wallis verfolgt. Aufschlussreich waren auch der Regenradar von Meteo Schweiz und die Abflussdaten des Bundes. Diese permanente Südanströmung mit den intensiven Niederschlägen und dem rasanten Anstieg der Pegel war schon sehr eindrücklich.

Wie einmalig war diese Wetterlage im historischen Blick?

Solche Südlagen haben immer wieder für katastrophale Hochwasser gesorgt und in der Folge den Hochwasserschutz in der Schweiz entscheidend geprägt. So war es beim Hochwasser 1868, bei dem gut 50 Menschen starben, bei den Unwettern von 1987, die im Wallis, in Uri und Graubünden grosse Zerstörung anrichteten, und bei den grossen Hochwassern 1999 und 2000 im Wallis. Was aber auffällig ist: In den letzten Jahren stellen wir eine starke Zunahme der Extreme fest, sowohl trockene als auch nasse. In den letzten Jahren – 2018, 2022 und 2023 – hatten wir es vor allem mit Trockenheit zu tun. Jetzt geht es wieder in die andere Richtung. Die Extreme lösen sich also sozusagen ab.

Ist das der Klimawandel?

Ja, und dabei zeigt sich, wie wichtig Kippwerte sind. Das Gesetz von Clausius Clapeyron besagt, dass ein zusätzliches Grad Temperatur sieben Prozent mehr Niederschlag ergibt. Doch kann diese Regel nicht linear ausgelegt werden. Es wäre falsch, zu glauben, es gebe mit der Erwärmung nur etwas mehr Feuchtigkeit und etwas mehr Niederschlag. Vielmehr wurde ein Kippwert überschritten.

Und was heisst das nun?

Es nimmt eben nicht nur die Niederschlagsmenge zu, sondern auch die -intensität. Weil der Boden die grossen Wassermengen, die vom Himmel fallen, nicht aufnehmen kann, fliesst überproportional mehr an der Oberfläche ab. Das wiederum mobilisiert viel mehr Geschiebe und verursacht sehr rasch enorm hohe Abflussspitzen, was noch grössere Schäden verursacht. Von den Unwettern betroffen sind dann auch Gebiete, die von Hochwasser bisher verschont blieben.

Skeptiker sagen: Solche Unwetterereignisse hat es in den Bergen immer gegeben.

Wir müssen unterscheiden zwischen Klima und Wetter. Was das Wetter betrifft, stimmt es: Solche Extremereignisse sind nicht neu. Entscheidend aber ist, unter welchen klimatischen Rahmenbedingungen sie ablaufen. Die Atmosphäre ist heute deutlich wärmer. Und diese hat erstens die Eigenschaft, dass sie mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann, was die Niederschlagsintensität erhöht. Zweitens steigt auch die Nullgradgrenze mit jedem zusätzlichen Grad um 150 bis 200 Meter. Das führt dazu, dass in sehr hohen Lagen kein Schnee mehr fällt, sondern Regen. Gerade im Wallis sind deshalb noch grössere Wassermassen den Berg hinuntergekommen.

Lässt sich die Zunahme der Niederschläge statistisch nachweisen?

Ja. Meteo Schweiz führt dazu eine Statistik von all ihren Stationen. Sie zeigt, dass die Starkniederschläge in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen haben. Das ist längst belegt. Und zwar für die gesamte Schweiz.

Wie gut ist die Schweiz darauf vorbereitet, was sie in Zukunft erwartet?

Wir sind gut aufgestellt. Nach den Hochwassern von 1987, 1999 und 2005 hat man den Schutz entscheidend vorangebracht. Es wurden die Gefahrenkarten eingeführt, man baute Frühwarnsysteme auf und investierte viel in bauliche Massnahmen. Die meisten Schwachstellen wurden damit behoben. Jedoch müssen wir noch viel stärker den sogenannten risikobasierten Hochwasserschutz umsetzen.

Worum geht es da?

Beim traditionellen Hochwasserschutz geht es darum, die Hochwassergefahr selbst einzudämmen. In den letzten Jahrzehnten jedoch hat die Zahl der exponierten Gebäude und Infrastrukturen in den Gefahrengebieten enorm zugenommen. Der eigentliche Treiber des Risikos ist seither nicht mehr die Gefahr selbst, vielmehr sind es die exponierten Gebäude und deren Verletzlichkeit. Hier müssen wir mehr machen.

Inwiefern?

Für die Gebäude in der Zone mit erhöhter Gefahr (blaue Zone) sind zwar Objektschutzmassnahmen vorgeschrieben. Aber diese betreffen nur neue Gebäude. Die bestehenden Häuser bleiben also ungeschützt. Das muss sich ändern. Nehmen die Hochwasser zu, müssen zusätzlich auch Objektschutzmassnahmen für die stark überbaute gelbe Zone mit geringer Gefahr vorgeschrieben werden. Denn auch bei diesen Gebäuden muss man in Zukunft damit rechnen, dass sie überflutet werden. Da es in dieser Zone etwa Einkaufszentren und Tiefgaragen gibt, entstehen dort bereits bei sehr kleinen Wassertiefen grosse Schäden.

Gibt es auch exponierte Bergtäler, bei denen es nicht mehr möglich sein wird, die Bewohner und Gebäude gegen Wetterextreme zu schützen?

Es kommt auf die Situation im Einzelnen an. Es gibt das Beispiel Guttannen im Kanton Bern, wo einzelne Häuser aufgegeben werden müssen. Für mich zeigt es, dass wir angesichts der drohenden Gefahren den Alpenraum neu denken müssen. Guttannen ist ein Dorf, das seit Jahrhunderten an einem Standort liegt, der vor Lawinen ebenso schützt wie vor Bergstürzen und Murgängen. Mit der Klimaveränderung jedoch hat sich die Situation geändert. Plötzlich gelangen Teile von Siedlungen und Weilern in Gefahrenzonen, die zuvor über Jahrhunderte sicher waren.

Kann es sein, dass Siedlungen und Infrastrukturen in gewissen Alpentälern künftig öfter zerstört werden, als man sie wieder aufbauen kann?

Diese Gefahr besteht an einigen Standorten. Darum muss der Raum so geplant werden, dass künftige Gefahren mitberücksichtigt werden. Was in der Vergangenheit richtig war, darf nicht mehr der Massstab sein. Das kann etwa heissen, dass Bauzonen infrage gestellt werden müssen oder Entwicklungen von neuen Siedlungen.

Müssen auch bestehende Siedlungen und Infrastrukturen aufgegeben werden?

Möglicherweise ja. In den letzten Jahrzehnten wurde der Alpenraum durch verschiedene Nutzungen einem enormen Druck ausgesetzt, sei es durch die touristische Infrastruktur, die Wasserkraft, den Transitverkehr und vieles mehr. Dadurch kam es zu einer starken Verzahnung zwischen dem Menschen und den Naturgefahren. Nun müssen wir die beiden Systeme wieder entkoppeln und abwägen, welche Räume für eine Entwicklung geeignet sind und welche nicht. Anders gesagt: Wir müssen die Gefahren bei der Nutzung des Alpenraums wieder stärker berücksichtigen.

Welche Gebiete sind davon besonders betroffen?

Ich kann keine einzelnen Regionen nennen. Die Kernräume in den Siedlungsgebieten sind meistens nicht gefährdet. Aber vielerorts wurden im Alpenraum die Siedlungen immer weiter ausgedehnt. Nehmen wir etwa den Talboden im Rhonetal. Früher war das ein Hochwassergebiet. Die Dörfer lagen an den Seiten des Tals, wo sie geschützt waren. Nach und nach ist man aber in Gebiete vorgedrungen, wo es Gefahren gibt. Da die Alpennordseite im 20. Jahrhundert über mehrere Jahrzehnte von Katastrophen verschont blieb, ging man damit locker um. Nun braucht es unbedingt eine Risikobetrachtung.

Im Wallis hätte eine Rhonekorrektion die Menschen im Talgrund schützen sollen. Doch das Projekt wurde durch die Kantonsregierung auf die lange Bank geschoben. Hätte damit ein Teil der Unwetterschäden im Wallis verhindert werden können?

Ganz klar, ja. Mit dem Projekt würden Räume geschaffen, die das Wasser zurückhalten können. Der Hochwasserschutz ist eine vielschichtige Aufgabe; er kann sich nicht darauf beschränken, Flüsse zu kanalisieren. Es braucht auch Verbreiterungen und Revitalisierungen, um Überschwemmungen zu verhindern.

Man hätte dem Fluss also mehr Platz geben müssen?

Genau. Im 19. Jahrhundert nahm die Rhone viel mehr Raum ein. Heute befinden sich dort Siedlungen und Felder. Von einer Rhonekorrektur hätten viele profitiert, aber einige Landwirte hätten auch Land verloren. Mit ihnen muss nun der Dialog gesucht werden. Und es muss endlich mit der Korrektion vorwärtsgehen.

Im Wallis kam der Regierungsrat zum Schluss, dass die Hochwasserrisiken zu hoch eingeschätzt worden seien und das Projekt überdimensioniert sei.

Das ist eine Fehleinschätzung. Mit der Klimaveränderung werden die Starkniederschläge zunehmen und damit auch die Hochwassergefahr. Es ist für mich deshalb unverständlich, dass der Staatsrat mit dem Gutachten einer Immobilienfirma das breit abgestützte, auf mehreren Expertisen fussende Projekt zunichtemachte. Es kann nicht sein, dass ein solches Projekt auf einer so schwachen Grundlage rückgängig gemacht wird. Es braucht eine langfristige und nachhaltige Planung bei einem solchen Vorhaben.

Inwieweit kann auch mit dem Bau neuer Stauseen wie etwa dem Gornerli-Projekt die Gefahr von Hochwasser verringert werden?

Die Mehrfachnutzung von Speicherseen kann sehr hilfreich sein. Wenn sich Starkniederschläge abzeichnen, kann der Stauseebetreiber vor dem Ereignis Wasser ablassen, um Speicherraum zur Verfügung zu stellen. Damit wird das Hochwasser zurückgehalten. Wird der Stausee Gornerli oberhalb von Zermatt realisiert, trägt das im oberen Mattertal deshalb zu einer Dämpfung des Hochwassers bei.

Sinkt damit auch die Hochwassergefahr im Rhonegebiet?

Ja, da das Einzugsgebiet der Rhone aber sehr gross ist, reicht es nicht, wenn nur das Wasser von einem Stausee zurückgehalten wird. Vielmehr müssen alle Stauseen in der Region einbezogen werden, um eine dämpfende Wirkung zu erzielen.

Zur Person

Rolf Weingartner ist emeritierter Professor für Hydrologie am Geographischen Institut der Universität Bern. Seine Forschungsgebiete sind die regionale Hydrologie mit einem Fokus auf die Gebirge, den Klimawandel, die Wasserressourcen und Hochwasser in der Schweiz. Der 70-Jährige ist unter anderem Leiter des «Hydrologischen Atlas der Schweiz» (Hades) und stand dem Mobiliar-Lab für Naturrisiken der Universität Bern vor. Weingartner forschte in seiner Laufbahn auch an Universitäten in Deutschland und Neuseeland. Er ist Vater dreier erwachsener Kinder und lebt mit seiner Frau in Thun.

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