Samstag, Oktober 19

Mit seinen Notizbüchern schreibt sich Peter Handke aus einer schnöden Welt heraus, um wieder ein Bewusstsein vom Leben zu bekommen. Es ist ein Akt der Epiphanien, aber auch der Abstürze.

Vielleicht braucht die Welt Entschleunigungsmaschinen wie diese. Mit ihnen werden die Geräusche der Vögel wieder hörbar und die Schattenrisse der Bäume auf den Mauern zum Spektakel. Im März 1976 schreibt der 33-jährige Peter Handke seine Adresse am Pariser Boulevard de Montmorency auf die erste Seite eines Notizbuches. Damit beginnt ein Projekt der Langsamkeit, wie es die Literatur sonst nicht kennt.

300 Hefte hat der Schriftsteller bis heute mit Beobachtungen, Gedanken und Zeichnungen gefüllt. Unter dem Stift in Handkes Hand muss die politische Gegenwart vor dem überzeitlichen Augenblick kapitulieren. Hier kann alles Essenz sein: jede Kaffeetasse, das schwarze Loch des Waschbeckenabflusses, das Rülpsen eines Arbeiters auf einem Villendach in die Mittagsstille hinein. Alles das ist auf bestürzende Weise grossartig. Dass man 21 Notizbücher Peter Handkes aus den Jahren zwischen 1976 und 1979 jetzt in faksimilierter und transkribierter Form digital vor sich hat, ist beinahe ebenso schön.

Kurze Versenkungsübungen während der Schreibkrise

Gemeinsam haben das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek und das Deutsche Literaturarchiv Marbach bis jetzt 2989 Seiten online zugänglich gemacht. Weitere 26 Notizbücher sollen ab 2025 folgen. Das sind noch einmal 3967 Seiten. Im Handkeschen Kosmos wäre man dann im Jahr 1986 – und damit immer noch bei einem Bruchteil seiner Carnets. Nur bruchstückhaft war auch das bisher Gedruckte. Unvollständig waren die Notizbuch-Kompilationen vom 1977 erschienenen Journal «Das Gewicht der Welt» bis zu «Gestern unterwegs».

In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, als er mit seinen Notizbüchern beginnt, ist Handke in einer Schreibkrise. Er arbeitet an der Erzählung «Langsame Heimkehr» und ist von der gleichen Einsamkeit umgeben wie der Held seiner Geschichte. Valentin Sorger, so heisst der Mann, hat sich aus seiner österreichischen Heimat nach Alaska zurückgezogen und findet auf sehr parabelhafte Art auch nicht mehr hinein in die äussere Welt. Peter Handke lebt die meiste Zeit in Paris, aber er reist auch viel. Er sammelt Material für die «Langsame Heimkehr», für «Die Lehre der Sainte-Victoire» und «Die Wiederholung», die erst 1986 erscheinen wird.

«‹Sich versenken›, wörtlich; anders kein Denkraum», wird 1978 in ein Heft notiert. Die kurzen, oft nur kleine Beobachtungen beschreibenden Sätze der Carnets sind Versenkungsübungen. Sie vermessen den Raum zwischen dem Tatsächlichen und dem, was unser Denken und unsere Gefühle daraus machen. Sie suchen nach einer Form, die dann auch zur literarischen Form werden könnte.

Aus der Wirklichkeit liest Peter Handke Stillleben, Bilder für sein «erzählendes Beschreiben» heraus: «Jemand, im Auto sitzend, das nicht anspringt, schaut beleidigt auf das Lenkrad.» Da ist der letzte kleine Sprung, den die Züge noch zu machen scheinen, bevor sie endgültig im Bahnhof halten. Da sind die bewegten Schatten der Bäume, die den Sommer Sekunde für Sekunde neu formatieren. Das Schöne mischt sich mit der Lakonie des Sterbens: «Toter auf der Rolltreppe, Füsse nach oben, Polizisten herum, ein Mann mit Bart klatschte ihm die Wange, hatte den Kopf im Arm.»

Das einsame Glück des Schreibens? Dazu zitiert Peter Handke 1978 keinen Schriftstellerkollegen, sondern den Schauspieler Warren Beatty: «Da ist ein Raum mit einer Schreibmaschine. In den gehst du jeden Tag für ein paar Stunden und erzählst deine Version der Dinge. Dann bekommst du einen Anruf aus irgendeiner weit entfernten dreckigen Stadt. Jemand sagt dir, dass du noch mehr Geld und noch mehr Zeit bekommst, zu schreiben, weil die Leute unbedingt lesen wollen, was du zu sagen hast. Das ist eine Phantasie, sich aus der Welt zu verabschieden.»

Zweischneidige Form der Einsamkeit

Die zweischneidige Form der Einsamkeit ist in Handkes Notizbüchern immer präsent. Als Glück, ganz bei und für sich zu sein. Und als Fluch. «Ich bemerkte, dass ich schon Tage nicht mehr an meinem Handrücken gerochen hatte», wird im Sommer 1976 in ein Heft geschrieben. Oder: «Muskeln vom Haarwassereinmassieren.» Später heisst es: «Das stille Sitzen am Tisch nachts, nur bewegt von seinem Herzschlag, war sein ‹Night Express›.»

Neben sich in Paris hat der Schriftsteller in den siebziger Jahren seine Tochter Amina, die im Grundschulalter ist. «Bonne fête papa et je t’embrasse beaucoup», schreibt Amina 1976 mit rührend artiger Schrift in ein Notizbuch. «Kind, freundlicher Leitzwerg», formuliert der Vater, den der Zweifel an seiner Rolle nie verlässt. In den Notizbüchern ist die Tochter ein ferner Planet und Handke ihr Astronom: «Das Kind liegt im Bett, schaut in den Garten hinaus und bewegt die Lippen.» Wieder und wieder ist Amina so beschrieben. Ihre Gesten, von ihr Gesagtes. Sie ist der freundliche Eindringling, entstanden in der Beziehung Handkes zur Schauspielerin Libgart Schwarz.

Die Frauen im Leben des Schriftstellers sind ein Kapitel für sich. Frauen überhaupt. Und die Sexualität. «Seine Arme wurden stark vor Liebe», heisst es einmal hoffnungsfroh. Ein paar Zeilen weiter unten steht dann aber schon: «Nicht sich wieder auf eine Frau wälzen.» Das Ich in den Heften wird mitunter zum Er, als müsste sich der Dichter von allem Triebhaften doppelt distanzieren: «Er traf die fremde Frau, und sie bekamen eine Mitte; es war nur folgerichtig, dass sie miteinander schliefen.» Die heissen Verführungsversprechen der promisken siebziger Jahre scheinen den Autor als Eishauch erreicht zu haben.

Lärmempfindlicher Dichter

In seinen Notizbüchern gönnt sich Peter Handke keine falsche Romantik. Seine Lebensmitschriften sind kein Ort der Selbstverklärung, und sie spekulieren auch nicht auf eine literaturbetriebliche Nachwelt. Wer eitel genug ist, seine eigene Eitelkeit fürchten zu müssen, sollte kein Tagebuch schreiben. Das hat einer wie Martin Walser geahnt, der sich seiner literaturgeschichtlichen Bedeutung im Alter des jungen Handke schon sicher war und im Zwiespalt mit sich selbst notiert hat: «Nichts Schlimmeres als das regelmässige Tagebuch, auch wenn es gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt ist, aber welches ist das nicht! Das schleicht sich doch ganz von selbst in den kleinschreibenden, sorgfältig notierenden Geist ein, die Korrumpierung ist unvermeidbar!» Im Gegensatz zu Martin Walser unternimmt der österreichische Schriftsteller in seinen Diarien den Versuch, etwas Drittes zwischen sich und die Welt zu stellen: einen Beobachter. «Der Beobachter ist frei vom Fall des eigenen Ichs», sagt Handke, und zu diesem Objektivierungsversuch gehört vor allem der schonungslose Umgang mit sich selbst.

In den «aufgerissenen Rachen des Notizbuchs» wirft der österreichische Schriftsteller auch alles, was ihn selbst verschlingen könnte. Es sind Orte der Unsicherheit, der Selbstbezichtigung und der Anklage. Ohne seine Idiosynkrasien, seine Abneigungen, wäre der aus der österreichischen Provinz stammende Mann vielleicht nicht Dichter geworden. Sie halten den existenziellen Graben zwischen dem Ich und der Welt immer offen und befähigen zu einer Art analytischer Empathie. «Widerwille vor der Vielfalt der Arten», wird 1978 in einem Heft notiert, das es mittlerweile auch in Buchform gibt. Vor zwei Jahren ist «Die Zeit und die Räume» bei Suhrkamp erschienen, und es bildet damit die gedruckte Form der opulenten Handkeschen Schrift- und Skizzenlandschaften. In seinem allerersten Heft von 1976 verfasst der mürrische Dichter eine ganze Autobiografie der Lärmempfindlichkeit.

In einer langen Suada wird die Familie wegen der Geräusche, die sie zu machen pflegte, vors innere Gericht gezerrt: «das allgemeine Körperkratzen», «das Schrei-Niesen der Mutter», der Stiefvater mit seinem «Husten am nasskalten Morgen am Klosett». Aus dem entschleunigten Blick wird plötzlich Raserei: «Es gäbe Erklärungen – und trotzdem zerspringe ich vor scheusslicher Wut in der Nacht, vor Schreiwut, vor Wut, mit dem Kopf an die Wand zu rennen, wenn mein Kind in der Nacht Speichel schluckt oder husten muss!» 1979 wünscht sich Peter Handke: «Wenn ich alt werde, möchte ich ein Humorist werden können.» Vielleicht ist der heute 81-Jährige auf dem Weg dorthin, aber er war es lange nicht.

«Wie nahe war ich an der Gewalt (nicht an Selbstmord, an Gewalt); es ist sofort möglich», wird 1978 aufgeschrieben. Und wieder in Er-Form: «Er sucht Streit (braucht ihn); er sucht die natürliche Feindschaft, hinter allen Gründen.» In dem, was er für natürliche Feindschaft hielt, hat sich der Österreicher oft starrsinnig eingerichtet. Er hat die serbischen Kriegsverbrechen beim Massaker von Srebrenica im Jahr 1995 verharmlost und mit Kriegstreibern wie Slobodan Milošević sympathisiert. In den frühen Notizbüchern wird Handkes Prädisposition des Zorns allerdings kaum politisch konkret. Aphoristisch heisst es einmal: «Meine Vorstellung bei der Beschreibung aller sozialistischen Harmonien: Und was ist in der Nacht?»

Seinen Kampf gegen die Medien führt der Dichter damals schon. «Entehrt durch Zeitunglesen», steht da. Und: «Immer mehr die Idee, dass die Nachrichtenwelt (überall gibt es ‹noch Schlimmeres›, so wollen es die Medien) einem jeden das Bewusstsein vom Leben nimmt (Aufrichten der Literatur dagegen!)».

Mit seinen Notizbüchern schreibt sich Peter Handke aus einer schnöden Welt heraus, um wieder ein Bewusstsein vom Leben zu bekommen. Es ist ein Akt der Epiphanien, aber auch der Abstürze. Man muss dieses grosse beglückende Theater aus Aussenwelt und Innenwelt ertragen können und nickt dankbar nach Tausenden Seiten, wenn selbst der Dichter schreibt: «Ruhe jetzt!, sagte ich zu meinem inneren Auge.»

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