Samstag, November 23

Was die amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen seit den 1960er und 1970er Jahren erreicht hätten, sei bei einer Wahl von Donald Trump in Gefahr, schreibt die afroamerikanische Schriftstellerin Ayana Mathis.

Das Wetter in Berlin hat gewechselt. Es ist wieder grau, und die Luft ist kühl. Das wiegt schwer wie eine Vorahnung. Es ist der 1. November. Vier Tage bis zu den Wahlen.

Seit Anfang Oktober bin ich als Fellow der American Academy in Berlin. Es waren leuchtende Tage – ganz untypisch, sagt man mir. Sonnig. 15 Grad. Nicht ein Tropfen Regen. Ich war in gehobener Stimmung, obwohl es eine stetige Unterströmung gab, eine beklemmende Angst gleich unter der Oberfläche, die mich hinunterzuziehen drohte. Dennoch! Gerade jetzt funkelt die Sonne auf der Spree. In der Neuen Markthalle in Kreuzberg gibt es einen Weinstand, an dem drei Franzosen Austern aus der Schale lösen und mit einem köstlichen Glas Weisswein servieren.

Meine gehobene Stimmung und ich besichtigen die verbleibenden Abschnitte der Berliner Mauer und die Ausstellung Topografie des Terrors. Bei der Sophienkirche betrachte ich die mit Einschusslöchern übersäten Mauern und empfinde aufrichtiges und unbelastetes Mitgefühl. Ich gebe beschämt zu, dass es in den ersten Wochen meines Aufenthalts so schien, als würden meine gegenwärtigen Kümmernisse und die meines Landes neben den historischen Schrecken anderer schrumpfen.

Ein verurteilter Straftäter könnte Präsident werden

Aber natürlich sind meine Kümmernisse riesig, und sie unterscheiden sich auch nicht so sehr – obwohl der Kontext ein ganz anderer ist – von den deutlich deutschen Schrecken, die in der Topografie des Terrors gezeigt werden. Über die Zeit und die geografische Entfernung hinweg scheinen sich gesellschaftliche Missstände zu wiederholen: eine Form des Faschismus, eine Form der Repression und die sie begleitende Propaganda, Manipulation und Gewalt.

Die Missstände tragen andere Kleider, sie bedienen sich einer anderen Rhetorik und haben einen anderen Vertreter. Ich muss kaum namentlich erwähnen, von wem die gegenwärtige Bedrohung in den USA ausgeht – einem, wie ich hinzufügen möchte, rechtskräftig verurteilten Straftäter –, mit seinem Tross von Gaunern und Betrügern und weissen Suprematisten, von denen etliche ebenfalls unter Anklage stehen, wegen der Verschwörung, den Wahlausgang 2020 zu verfälschen, während andere wegen Geldwäsche und Unterschlagung belangt werden.

Robert Paxton, Politikwissenschafter, Experte des Vichy-Regimes und mit der Légion d’Honneur ausgezeichnet, hat vor wenigen Tagen die Meinung geäussert, es sei angemessen, Trump einen Faschisten zu nennen, obwohl er bis dahin gezögert hatte, das zu tun. Auch Kamala Harris hat Trump in ihrer Kampagne als einen solchen beschrieben. Dass dies für so viele meiner Landsleute in den Vereinigten Staaten keine besondere Rolle spielt, macht mich verzweifelt und angstvoll.

Was geschieht, wenn Trump verliert?

Hier ist die Liste meiner Sorgen: Auf beiden Seiten gibt es zu viele Menschen, die nicht genau wissen, was mit Faschismus gemeint ist, weil wir, was absurd ist, mehr Angst vor dem Sozialismus haben. Schlimmer aber ist, dass viele Amerikaner, Wähler und Politiker gleichermassen, sehr wohl wissen, was Faschismus bedeutet, aber zu dem Schluss gekommen sind, dass die Demokratie ihren Zielen nicht dient, weshalb sie diese als politisches oder gesellschaftliches Ideal aufgegeben haben.

Zwar mag es zutreffen, dass einige meiner Landsleute leicht zu verführen sind, aber das Problem besteht nicht darin, wie linksorientierte Medien in selbstgefälligem Ton oft behaupten, dass alle weit rechts stehenden Nationalisten ungebildete Menschen seien – sondern vielmehr ist es so, dass sie sich für weissen Suprematismus, für Fremdenhass und Isolationismus als diejenigen Ideale entschieden haben, um die herum sie die Zukunft unserer Nation gestalten wollen.

Ich fürchte, selbst wenn Vizekanzlerin Harris gewinnt – und ich bete mit jeder Faser meines Wesen für ihren Sieg –, dass wir eine gewalttätige tribalistische Rechte lediglich aufhalten, nicht aber stoppen. Ich fürchte, dass mein Land, wenn Donald Trump nicht gewinnt, Schrecklicheres erleben wird als das, was am 6. Januar 2021 geschehen ist. Ich fürchte, dass der relative Fortschritt der vergangenen sechzig Jahre – eine Folge der Freiheitsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre – lediglich eine aussergewöhnliche Phase darstellt in einem Land, das sich auf den Genozid an der indigenen Bevölkerung, auf die Sklaverei und die Rassengesetzgebung der Südstaaten, Jim Crow genannt, gründet und davon genährt ist. Und ich fürchte, dass wir uns dieser Geschichte nicht stellen werden, sondern im Gegenteil uns eher noch intensiver an einen nationalen Mythos von unbesudeltem Edelmut, von Güte und Freiheit klammern werden.

In seinem berühmten «Letter to My Nephew» schrieb James Baldwin: «Aber es ist nicht zulässig, dass auch die Urheber der Verheerung unschuldig sind. Die Unschuld stellt das Verbrechen dar.» Dieses obsessive Festhalten an unserem Mythos verhindert, dass wir uns selbst klar sehen und einschätzen, und es öffnet Tür und Tor für Trump und seine Avatare der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.

Es ist nicht die Zeit für Verzweiflung

Ich bin – Sie werden es bemerkt haben – ziemlich düsterer Stimmung. Gerade las ich Berichte von Trumps Wahlauftritt am 29. Oktober im Madison Square Garden in New York City (wo ich lebe! Wo das Verhältnis von Demokraten zu Republikanern 10 zu 1 ist), bei dem er zuliess, dass seine Redner Puerto Rico eine «schwimmende Insel von Müll» nannten, und er Juden als minderwertig und alle Palästinenser als gewalttätig bezeichnete.

Mitten in dieser Situation rufe ich Freunde in den USA an. Sie sind so verunsichert wie ich und suchen nach Zeichen, dass die Situation nicht den schlimmsten Ausgang nehmen wird. Ich werde abergläubisch. Wenn ich einen Artikel lese, in dem der Autor Harris favorisiert, muss ich einen zweiten lesen, in dem Trump favorisiert wird. Als würde meine gerechte Sondierung von Nachrichten den Ausgang des Wahlkampfs beeinflussen. Telefongespräche und Social Media beanspruchen viel Zeit und nähren enorme Befürchtungen. Ich bin abgelenkt. Ich kann nicht richtig arbeiten.

Ich bin Schriftstellerin und frage mich, welche Bedeutung meine Arbeit an diesem entscheidenden Punkt hat. Deshalb wende ich mich literarischen Lichtgestalten wie Toni Morrison zu, die sagte: «Dies ist genau der Zeitpunkt, da Künstler sich an die Arbeit machen. Jetzt ist nicht die Zeit für Verzweiflung, nicht der Raum für Selbstmitleid, nicht das Bedürfnis nach Schweigen, nicht der Moment für Angst. Wir sprechen, wir schreiben, wir setzen Sprache ein. So geschieht die Heilung von Zivilisationen.»

Wenn ich dann an das Werk dieser Schriftsteller denke, von Morrison bis zu Louise Erdrich und Eudora Welty und so vielen anderen, verstehe ich, um wie vieles ärmer wir wären ohne sie. Wie immer der Weg aus diesem Morast aussieht, er wird von den Worten dieser Schriftsteller erhellt. Und ich denke daran, dass wir alle überall immer nach vorn geschwommen sind, gegen die rückwärts ziehende Unterströmung. Die dunklen Mächte sind immer dann, wenn sie angehalten wurden, von Menschen angehalten worden, die sich in Märschen und Boykotten zusammenfanden, die geschlagen und ermordet wurden, genau deshalb, damit eine andere Zukunft möglich werde.

Die Macht der moralischen Vorstellungskraft

Die Tatsache ihres Opfers kann ich auf zwei unterschiedliche Arten betrachten: mit Verzweiflung und in dem Gedanken, dass wir wieder einmal an dieser Stelle sind und alle ihre Anstrengungen nichtig waren. Oder ich kann diesen Moment in dem Gedanken betrachten, dass wir fortwährend in Bewegung sind und es immer eine Unterströmung geben wird. Helden und Anführer und gewöhnliche Menschen müssen sich stets dagegen wappnen.

In der zweiten Sichtweise liegen ein gewisser Schrecken und eine Menge Ungewissheit. Sie verlangt Vertrauen in die Macht der moralischen Vorstellungskraft, die Martin Luther King und andere Denker beschworen haben. An einem entscheidenden Punkt wie dem jetzigen erscheint sie kaum mehr als ein dürftiger Halt. Aber wahr ist auch, dass sie uns im Schlimmsten beigestanden hat und uns in hellere, wenn auch vergängliche Tage geführt hat in dem langen Fortgang der menschlichen Geschichte. Und so werde ich mich daran festhalten, mit aller mir gegebenen Kraft.

Die Schriftstellerin Ayana Mathis lebt in New York City. Von ihr ist gerade bei DTV der Roman «Am Flussufer ein Feuer» erschienen. – Aus dem Amerikanischen übersetzt von Susanne Höbel.

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