Der 36-jährige St. Galler Heer nimmt als erster Deutschschweizer an der Vendée Globe teil und ist in ständiger Alarmbereitschaft. Mehr noch als andere Menschen vermisst er die Entspannung.
Wellen gross wie Häuser, sechs, sieben Meter hoch. Ein Sturm heult. Tiefdruckgebiet folgt auf Tiefdruckgebiet. Windstärke 6 bis 7 Beaufort auf 46 Grad Süd. Ununterbrochen, während zweier Wochen.
Oliver Heer, 36 Jahre alt, meldet sich per Telefon aus dem südlichen Indischen Ozean, einem der gefährlichsten Segelreviere der Welt. Wegen starker Winde nennen die Segler es die Roaring Forties, die brüllenden Vierziger. In letzter Zeit hat sich Heer auf allen vieren auf seinem Segelboot bewegt, einen Kaffee zu trinken: fast unmöglich. So stark rollte und schwankte sein Segelboot. Heer sagt: «Ich habe mich wie in einer Waschmaschine gefühlt. Die letzten zwei Wochen waren purer Stress.» Er und seine Rennjacht brauchen jetzt eine Pause.
Daheim in der Schweiz steht eine andere Pause an. Weihnachten, die endlich wieder einmal weiss werden dürften. Heer hingegen sagt: «Ich bin nicht in Weihnachtsstimmung. Der 24. und der 25. Dezember werden Tage wie jeder andere sein.» Sein Alltag ist die Vendée Globe, die härteste Segelregatta der Welt. Die Skipperinnen und Skipper umrunden die Erde allein, vom Atlantik segeln sie entlang der Antarktis um das Kap der Guten Hoffnung, das Kap Leeuwin und das Kap Horn. Danach führt die Route ins Ziel in Les Sables-d’Olonne an Frankreichs Westküste.
Zwischenstopps und Hilfe von aussen sind verboten. Eine Pause bedeutet im Fall von Heer, dass er seine Jacht auf Schäden kontrolliert, der Seegang lässt das nun zu. Vielleicht kann er auch etwas öfter schlafen. Er bekommt normalerweise nur vier oder fünf Stunden Schlaf pro Tag, jeweils 30 Minuten am Stück. Länger zu schlafen, wäre gefährlich. Er muss das Meer, den Wind und das Schiff ständig kontrollieren.
Die letzten zwei Wochen waren mehr Abenteuer als Rennen
Heer nimmt zum ersten Mal an der Vendée Globe teil, als erster Deutschschweizer überhaupt. Er segelt zurzeit auf Rang 31 von noch 36 Teilnehmern, er liegt 5300 Seemeilen, das sind 9800 Kilometer, hinter dem Führenden. Doch die Platzierung ist sekundär. Bei der Premiere will er einfach ins Ziel kommen. «Dem ordne ich alles unter», sagt Heer.
Das bedeutet, dass er über die Festtage anderes zu tun hat, als an Weihnachten oder eine Silvesterparty zu denken. In den vergangenen zwei Wochen, bei rauer See im Südozean, sei er im Überlebensmodus gewesen. Heer sagt: «Ich kämpfte darum, mich und das Schiff in einem Stück durchzubringen.» Aus Sicherheitsgründen segelte er etwas weiter nördlich, eine längere Strecke zwar, dafür wich er so den schwersten Stürmen aus. Solche Entscheidungen trifft er jeden Tag.
In der Altjahreswoche soll das Wetter ruhiger werden, was bedeutet, dass die Wellen «nur» noch vier Meter hoch sind. Den nächsten Entschluss hat er bereits gefasst. Er werde grössere Segel aufziehen und sein Boot «pushen», sagt er. Heer ist bewusst geworden, dass er an einem Rennen teilnimmt – die letzten zwei Wochen hingegen sei die Vendée Globe mehr Abenteuer als Regatta gewesen. Nun will er so schnell segeln wie möglich.
Eine Havarie an der Transat gibt Selbstvertrauen an der Vendée Globe
Heer sagt, an Land sei er ein sehr geselliger Mensch, ein extrovertierter Typ: «Ich habe gerne Menschen um mich herum.» Doch nun ist er seit über sechs Wochen solo unterwegs, hält nur über das Internet Kontakt mit seinem Umfeld. An Land sind einsame Menschen in der Weihnachtszeit ein grosses Thema – Heer hat diesen Zustand selbst gewählt. Und er sagt: «Ich bin allein, aber nicht einsam.»
Zwar kennt Heer das Gefühl der Verlorenheit auf dem Meer. Doch wenn dieses stärker und stärker zu werden droht, denkt Heer an die Menschen daheim. Liest die Sprüche, die Freunde und Familie mit Filzstift an die Wand seines Bootes geschrieben haben. «Du kannst es schaffen, du wirst es schaffen. Und wir schauen dir dabei zu», steht da.
Doch oft geniesst er das Alleinsein. So sehr, dass er das Starlink-Internet und sein Handy ausschaltet. Heer will dann seine Ruhe haben, hängt seinen Gedanken nach. Er denkt daran, dass die Vendée Globe sein grosser Traum gewesen ist. Dass viele Hochseesegler nie das Privileg haben, sich im Südozean mit Wind und Wetter zu messen. «Ich weiss nicht, wie oft ich noch hier sein werde. Es ist ein grosses Glück, dass ich hier segeln darf. Die Natur und das Meer sind wunderschön», sagt Heer.
Ablenkung mit «Harry Potter» und Geschichten über Polarforscher
Er weiss aber auch, dass es mit diesem Glück schnell vorbei sein kann. Das hat er an der Transat, einer Atlantiküberquerung, im vergangenen Mai erlebt. Wegen eines technischen Defekts am Autopiloten kenterte seine Jacht. Mitten in der Nacht, 1300 Kilometer von der nordamerikanischen Küste entfernt. Die Elektronik stieg aus, Heer befreite sich aus der Notsituation, indem er sechs Tage lang von Hand steuerte. An diese Grenzerfahrung erinnert er sich während der Vendée Globe oft. Auch wegen des Unglücks an der Transat sei er im Südpolarmeer weniger Risiken eingegangen: «Doch im Nachhinein gibt mir der Unfall Selbstvertrauen, weil ich die Situation gemeistert habe.»
Zurzeit ist Heer über 1000 Kilometer von Australien, dem Festland, entfernt. Er hat einmal gesagt, die nächsten Menschen in solchen Situationen seien die Astronauten auf der Internationalen Raumstation, über 400 Kilometer über der Erde. Totale Abgeschiedenheit: Manchmal schleicht sich dieses Gefühl auch in Heers Gedanken. Dann hört er Hörbücher, «Harry Potter» zum Beispiel. Oder Podcasts über Geschichte und Expeditionen, zuletzt über den britischen Polarforscher Ernest Shackleton, der über hundert Jahre vor Heer in der Antarktis unterwegs gewesen ist. «Das lässt mich vergessen, dass ich so weit vom Land entfernt bin, normalisiert meine Situation», sagt Heer.
Auf seiner Jacht befinde er sich in seiner eigenen Welt. «Ich bin glücklich hier», sagt Heer. Ein Ritual für Weihnachten oder Neujahr hat er nicht, auch wenn ihm die Familie ein paar Geschenke mitgegeben hat. Dazu einen Adventskalender. Jeden Tag eine Lindor-Kugel. Vielleicht wird er an Heiligabend ein Päckli öffnen, das ihm eine Kollegin aus dem Prättigau mitgegeben hat. Darin befindet sich ein geräucherter Rehrücken. «Ich werde mir ein Stück gönnen, aber nur, wenn es die Situation zulässt», sagt Heer.
Drei Fläschchen irischer Whiskey, drei Zigarren, ein geräuchter Rehrücken
Am vergangenen Wochenende hat Heer ein Fläschchen Whiskey getrunken, das zweite von drei an Bord. Dazu zündete er eine Zigarre an. Whiskey und Zigarren sind Geschenke von Segelkollegen und seinem Team, um die Passage der drei Kaps zu feiern. Heer hat das Kap der Guten Hoffnung und das Kap Leeuwin bereits passiert, nun segelt er dem Kap Horn entgegen.
Von französischen Seglern ist bekannt, dass sie sich während der Vendée Globe gerne ein Gläschen Rotwein genehmigen. Heer sagt: «Ich mache das nicht. Ich könnte den Wein nicht richtig geniessen.» Bis er wieder geniessen darf, wird es dauern. Bis zum Ziel sind es noch mehr als 23 000 Kilometer. So glücklich Heer auf dem Meer ist, so stark sehnt er das Ende der Regatta herbei.
Denn während des Rennens ist er ständig in Alarmbereitschaft. Er sagt: «Ich bin immer leicht gestresst, entspannt bin ich nie.» Heer zählt deshalb nicht die Tage, bis er wieder unter Menschen sein wird. Sondern bis er die Kontrolle abgeben darf. Endlich loslassen. Endlich entspannen.