Der britische Dirigent ist eine der bekanntesten Persönlichkeiten der klassischen Musik. Jetzt erhält er den Ernst-von-Siemens-Musikpreis und begeht am Sonntag seinen 70. Geburtstag. Ans Aufhören denkt er trotzdem noch lange nicht.
Das Alter ist keine Zahl, sondern vor allem eine Haltung. Ein junger Mensch kann im geistigen Profil älter wirken als ein an Lebensjahren reiferer Mensch. Auch unter den namhaften Dirigenten gab und gibt es dafür Beispiele. Da sind etwa der 29-jährige Klaus Mäkelä oder der auch erst 36 Jahre alte Lahav Shani: Beide machen derzeit steile Karriere, beide übernehmen demnächst Posten bei führenden Institutionen. Während Mäkelä von 2027 an sowohl das Amsterdamer Concertgebouw-Orchester wie auch das Sinfonieorchester in Chicago leiten wird, wirkt Shani ab 2026 als Chefdirigent bei den Münchner Philharmonikern.
In der Öffentlichkeit stehen die beiden für eine frische, neue Generation; auch für Teile der Fachkritik. Wenn man sich dagegen ihre künstlerischen Profile und Programme anschaut, scheinen die vermeintlichen Jungstars eher ein nostalgisches, teilweise längst überwundenes Bild zu bedienen: das vom Dirigenten als charismatischem Star am Pult. Fragen des historisch korrekten Stils, der Einsatz für eine Erweiterung des Repertoires oder die Pflege der zeitgenössischen Musik? Alle diese grossen Themen der vergangenen Jahrzehnte stehen für sie offenbar nicht im Mittelpunkt. Ganz anders beim gut doppelt so alten Simon Rattle.
Vertrauen beim Publikum gewinnen
Seit Beginn seiner Laufbahn pflegt Rattle, der 1955 in Liverpool geboren wurde, ein unerhört breites Repertoire: von der alten bis zur neuesten Musik, quer durch alle Genres. Er integriert dabei völlig selbstverständlich Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis und setzt wegweisende Akzente in der Musikvermittlung. Für dieses Engagement erhält Rattle, der am Sonntag seinen 70. Geburtstag feiert, den diesjährigen Ernst-von-Siemens-Musikpreis, eine der angesehensten Auszeichnungen in der klassischen Musikwelt.
Auf sein besonderes Profil als Dirigent angesprochen, formuliert es Rattle auf seine spezielle, britische Art. «Ich bin ein altes Nikolaus-Harnoncourt-Baby. Und ich bin ein altes Pierre-Boulez-Baby.» Das sagte er Mitte November in Tokio während einer grossen Asien-Tournee mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das er seit 2023 als Chefdirigent leitet.
Von dem 2016 verstorbenen Originalklang-Pionier Harnoncourt hat Rattle wesentliche Impulse empfangen. Der Komponist und Dirigent Pierre Boulez wiederum, Mitbegründeter der Lucerne Festival Academy, hat Hörgewohnheiten auf die Probe gestellt; er zählte zu den ersten Dirigenten, die in ihren Programmen das musikalische Erbe sinnstiftend mit der Moderne zusammenführen. Diese Art der Programmierung inspirierte Rattle nachhaltig.
Bei der Gestaltung von Programmen gehe es darum, «einen Weg zu finden, dass die Leute einem vertrauen», so Rattle, damit sie sich auch auf Unbekanntes abseits des gängigen Repertoires einliessen. Diese Erfahrung habe er auch beim City of Birmingham Symphony Orchestra gemacht, wo er 1980 als Chefdirigent begann und dem er bis 1998 als Musikdirektor internationale Beachtung verschaffte. «Wir haben so viele Sachen dort gewagt. Aber an einem Punkt haben wir einen reinen Beethoven-Zyklus realisiert. Es gab viele Zuschriften, die das bedauerten: ‹Nur Beethoven? Habt ihr nicht interessantere Ideen?›» Sein Fazit: «Man muss Geduld aufbringen, aber die Idee, mit dem Programm eine Geschichte zu erzählen, das ist der springende Punkt.»
Differenzen in Berlin
Nach Birmingham ging es für Rattle zu den Berliner Philharmonikern, wo er bis 2018 wirkte: als Nachfolger Claudio Abbados. In Berlin musste Rattle bald feststellen, dass nicht alle seinen innovativen Kurs mitgehen mochten. Zwar gab es auch unter Abbado Reibereien, aber die künstlerischen Diskussionen um Rattle bekamen teilweise einen befremdlichen Einschlag. Etwa diejenige um die Klangtradition des Orchesters, den sogenannten «deutschen Klang», der angeblich vom britischen «Globalisierer» Rattle zerstört werde.
Die Zeit Rattles bei den Berliner Philharmonikern blieb und endete spannungsreich, obwohl ihm das Orchester viel zu verdanken hat. In seine Amtszeit fiel der Start der Online-Konzerte in der «Digital Concert Hall», und Formate wie das legendäre Strawinsky-Projekt «Rhythm is it» von 2003 zeigten beispielhaft, wie moderne «education», also Musikvermittlung für breite Schichten, funktioniert.
Die Reibereien in Berlin haben Spuren hinterlassen. Auf einer Medienkonferenz in Seoul zum Auftakt der jüngsten Tournee mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BR) sagt Rattle vieldeutig, dass die Berliner auch «ungestüm» sein könnten. Sein neues Münchner Ensemble nennt er hingegen ein «kooperatives Orchester», eine «Familie» gar. Tatsächlich war Rattle beim BR Wunschkandidat als Nachfolger des 2019 verstorbenen Mariss Jansons, und zwar nicht nur bei den dortigen Musikern und Choristen, sondern auch des bereits schwer erkrankten Jansons selber.
Rattle nennt seinen grossen Vorgänger beim BR in München einen «echten Freund», und so ist es fast ein Déjà-vu, dass nun Rattle mit dem Siemens-Musikpreis ausgezeichnet wird: Auch Jansons war 70 Jahre alt, als ihm 2013 dieser Preis verliehen wurde. Für die BR-Symphoniker brannte Rattle indes schon als Jugendlicher, seit er im Oktober 1970 in Liverpool ein Gastspiel des Orchesters unter dem damaligen Chefdirigenten Rafael Kubelík erlebt hatte.
Authentisches Miteinander
«Da war so eine starke Verbindung zwischen dem Dirigenten und den Musikern», erinnert er sich, «nicht nur strahlten sie pure Freude beim Spielen aus, es schien, als würden hier alle gleichgesinnt und mit derselben Philosophie musizieren.» Diese Geschichte möchte Rattle in München seit 2023 fortsetzen und hat dafür das London Symphony Orchestra verlassen, dem er zwischen 2017 und 2023 vorstand.
Als Dirigent sucht Rattle das authentische Miteinander und fordert es auch ein. Auf den Proben während der Asien-Tournee der BR-Symphoniker fiel die kollegiale, entspannte Atmosphäre auf. Ob er ein Orchester bei künstlerischen Differenzen nicht auch manchmal am liebsten erwürgen wollte? «Das würde nicht helfen», erwidert Rattle trocken. «Ich hatte Lehrer, die genau das taten, aber es hat nicht wirklich genützt. Und vergessen Sie nicht: Ich bin Brite. Wir Briten sind nur ernst, wenn wir einen Scherz machen, und dieses Orchester versteht das. Wir geniessen gemeinsam, während es entsteht. In der Musik ist es so: Wenn alle in dieselbe Richtung gehen, ist das eine unaufhaltsame Kraft. Es ist erstaunlich, was das für einen Unterschied macht.»