Freitag, Oktober 11

Protokoll einer wunderbaren Sinnlosigkeit.

Ich weiss nicht mehr, warum, aber ich hatte irgendwann plötzlich grosse Lust, mich hinzusetzen – und nicht mehr aufzustehen. Eine Stunde lang sitzen, einfach so, und dabei absolut gar nichts tun: nicht lesen, nicht reden. Nicht Kaffee trinken. Nicht meditieren. Nicht achtsam atmen. Nicht gesund sitzen, mit geradem Rücken und eingezogenem Bauch. Nein, einfach nur sitzen. Normal halt, die Augen geöffnet.

Eine absolute Zeitverschwendung, dachte ich sofort. Wie unnütz und dämlich. Die Spülmaschine war noch nicht ausgeräumt. E-Mails waren noch nicht beantwortet. Termine nicht vereinbart. Es war später Nachmittag, eigentlich höchste Zeit, endlich in die Gänge zu kommen, zumal die Kinder schon bald wieder hungrig nach Hause kommen würden.

Und trotzdem, ich blieb sitzen. Die Neugierde war zu gross. Ich wollte wissen, was das grundlose Nichtstun mit mir anstellen würde.

Ich gegen das blanke Nichts, eine Stunde lang.

Von meinem Sessel aus starrte ich ins Wohnzimmer. Ein äusserst langweiliger Anblick: An der Wand gegenüber hingen zwei Bilder. Henri-Rousseau-Abdrucke, schwarz eingerahmt, Dschungelmotive. Davor stand der ovale Esstisch. Bis auf drei Gläser und einen Stapel mit zusammengelegter Wäsche war er erstaunlich aufgeräumt. Da war nichts Aussergewöhnliches, nichts, das mich hätte ablenken können. Perfekt also.

Ich schaltete mein Handy auf Flugmodus, machte den Sprachrekorder an, um allfällige Gedanken oder Gefühle vor mich hinzusprechen. Dann liess ich das Nichts auf mich zukommen.

Dies ist das Protokoll einer Sinnlosigkeit. Es zeigt, was passiert, wenn absolut nichts passiert – und unsere Gedanken sich von einem Thema zum nächsten hangeln.


02:03: Ich höre ein Auto. Bald werde ich es durchs Fenster sehen. Ich freue mich darauf, endlich läuft was.

02:10: Oh, ein alter Daihatsu. Gibt es diese Marke überhaupt noch?

03:06: Draussen fällt Regen in den Schnee, matschiges Grün kommt hervor. Was für ein trostloses Wetter.

03:37: Dai-ha-tsu.

03:44: Tiefer Seufzer.

03:50: Wie gerade die zwei Rousseau-Bilder nebeneinander hängen. Und trotzdem stimmt was nicht. Irgendetwas stört die Symmetrie. Aber was?

04:42: Der Geruch vom Mittagessen liegt noch in der Luft. Irgendetwas Wintriges, Suppiges, etwas mit Lauch und Sellerie.

06:50: Was, wenn während dieser Stunde gar nichts passiert?

07:11: Was, wenn ich einfach nur dumm herumsitze, abgestellt wie ein alter Daihatsu?

08:06: Also wirklich, gerader hätte man diese Bilder nicht aufhängen können. Vielleicht sind ja die Rahmen verbogen? Oder die Wand ist schief?

08:37: Dieses Wasserglas steht wohl schon länger auf dem Tischchen da. An der Innenwand haben sich kleine Luftbläschen gebildet. Ich trinke trotzdem daraus und höre, wie die kleinen Bläschen leise knistern, als sie an der Oberfläche ankommen.

09:42: Eine Stunde herumhocken, so etwas Bescheuertes.

13:02: Auf dem Boden liegen zwei Kindersocken. Daneben steht ein Spielzeug-Buggy. Es liegt aber keine Puppe drin, sondern ein selbstgebastelter Tennisschläger. Ein Holzstock mit einer angeklebten, leeren Toffifee-Box. Über die Box ist ein Netz gespannt, so ein Zwiebelaufbewahrungsnetz.

13:23: Warum liegt ein Tennisschläger in einem Spielzeug-Buggy?

13:41: Wie sind all diese Dinge hierhergekommen?

14:41: Wie viele Sachen wir Menschen in einem Leben anhäufen. Ich könnte wohl nur einen Bruchteil von dem aufzählen, was ich besitze. So viel Zeug, das man nie braucht. Alte Handys, Schoko-Brunnen, Frühstücksei-Öffner, «Frohe Weihnachten»-Teetassen. Widerliche Schnäpse, hässliche Vasen. Aufladekabel, so verdammt viele Aufladekabel.

18:06: Freitag-Taschen, CDs, USB-Sticks. Ausgetrocknete Stifte, stumpfe Scheren, herrenlose Schlüssel. Unterschiedlich grosse Aufsätze für unterschiedlichste Kopfhörer. Auch von solchen, die ich schon lange entsorgt habe.

18:54: Oder verstaubte Hobbyutensilien. E-Gitarren, zum Beispiel. Effektgeräte für E-Gitarren. Viel zu grosse Verstärker für E-Gitarren. Teuer gekauft, heute fast wertlos.

19:14: Relikte vergangener Passionen.

19:30: Allein schon in der Küche kommt einiges zusammen. Zum Beispiel überflüssiges Spezialgewürz: Caprese-Gewürz. Heisse-Schokoladen-Gewürz. Stullen-Gewürz. «Ich will auf’s Ei»-Gewürz.

19:53: Am Ende braucht man ja sowieso immer die gleichen Gewürze.

20:08: Salz, Pfeffer, Curry, Chili, Safran, Paprika, Oregano, Dill.

20:20: Herbes de Provence. Und natürlich Chili.

20:34: Aber wer braucht eigentlich Nelken? Wer einen grossen Muskatnussstreuer? Und wer, bitte schön, verwendet Brotgewürz fränkischer Art? Liegt alles bei uns in der Schublade, kein Witz. Gleich neben den Zwiebeln im Netz.

21:20: Unnütze Teesorten, auch so ein Thema: So Motto-Tees wie Kuscheltee, Gute-Laune-Tee, Heisse-Liebe-Tee.

22:01: Namastee.

22:13: Draussen-regnet’s-ab-unter-die-Decke-Tee.

23:54: Aaahh, ziemlich bequemer Sessel, gutes Rückenpolster.

24:17: Bin ich froh, muss ich nicht auf irgendeinem kalten Boden herumhocken und meditieren. Wo dir dann irgendwann der Hintern so weh tut, dass du nur noch an deinen Hintern denken kannst und daran, wie sehr dir der Hintern weh tut und wie du von all dem versprochenen Entspannungs- und Achtsamkeitszeug gar nichts hast.

25:37: Diese eine Topfpflanze dort im Gestell, die mit den länglichen Blättern, die sehe ich zum ersten Mal. Wie lange sie wohl schon dort steht?

26:11: Ich übersehe ständig Pflanzen. Blumensträusse bemerke ich erst, wenn sie welken und einen Kompostgeruch verströmen. Manchmal putze ich einen Tisch, hebe eine Vase an, wische unten durch, stelle die Vase wieder hin. Alles, ohne einen Blick auf die Blumen zu werfen.

28:33: Frage mich gerade, ob ich vielleicht noch einschlafe.

29:32: Meine Drahtbrille drückt, die muss runter. Keine Ahnung, warum ich die einmal schön gefunden habe.

33:15: Der arme Schnee da draussen. Er hat keine Chance gegen den Regen.

33:45: Ich sollte die Schlittschuhe zum Schleifen bringen, bevor der Winter vorbei ist.

34:25: Gähn. Bartkratzgeräusche.

37:54: Draussen schlägt’s drei Uhr. Gedanken schwirren nur noch so vorbei. Ich müsste sie pflücken, um sie zu Ende zu denken. Aber ich bin zu faul dazu.

41:23: Gerade gemerkt, dass ich eingeschlafen bin. Mein zuckendes linkes Bein hat mich aufgeweckt.

41:46: Vor mir liegt ein Plüschdino. Ein Diplodocus. Langer Hals, kleine Augen. Verkaufstechnisch keine gute Idee, das hat mir einmal ein Verkäufer eines Spielwarengeschäfts gesagt. Je grösser die Augen der Plüschtiere, desto eher wollen die Kinder sie haben.

42:33: Aber ein Diplodocus mit langem Hals und riesigen Augen? Schrecklich. Dino auf Drogen.

47:35: Ab und zu rumpelt ein aufgetautes Eisstück das Dach hinunter. Es hört sich an, als würde jemand im oberen Stock eine schwere Kiste von der einen Ecke in die andere ziehen.

49:21: Langes Gähnen.

51:12: Wenn die Stunde rum ist, muss ich nach diesen Rousseau-Bildern schauen. Am besten mit der Wasserwaage.

53:00: Irgendeiner bohrt da draussen.

54:55: Ich merke gerade, dass mir die ganze Zeit lang nie langweilig war. Ich hatte auch keine Mühe, sitzen zu bleiben. Meine Befürchtung, ich würde herumhoppeln, unter Strom sein, sofort wieder etwas machen wollen, hat sich nicht bewahrheitet.

56:44: Nichts machen – und das ohne Grund. Das mache ich wieder einmal.

57:51: Wie komisch dieser Gedanke ist, wie ungewohnt. Wie falsch auch.

59:43: Das Nichts ist dermassen verquer . . .

1:00:01: Finger knackst.

1:00:42: . . . dass es gar keinen Platz hat in unserer Gesellschaft. Nichts wirkt deplatzierter als das Nichts. Nichts irritiert so sehr wie das Nichts.

1:01:38: Das Nichts macht uns fertig.

1:03:32: Bartkratzgeräusche.


Ich schaute auf mein Handy. Eine Stunde und drei Minuten waren vorbei. Das Trinkglas mit dem abgestandenen Wasser war leer. Ich setzte meine Drahtbrille auf und ging in die Küche.

Während ich die Spülmaschine ausräumte, dachte ich: Schon sonderbar, wie das Nichtstun, diese banale und urmenschliche Selbstverständlichkeit, in der heutigen Zeit so viele Erklärungen braucht. Es scheint fast so, als wäre das Sitzen ohne Grund ein grosses gesellschaftliches Tabu. Als müsste es um jeden Preis gemieden werden.

Das pure Nichtstun hätte das Zeug, zum Symbol des Widerstands zu werden, dachte ich, während ich den Risottoreis mit Bouillon ablöschte. Sitzen without a cause! Gegen den aktivistischen Zeitgeist, gegen die Selbstoptimierung!

Sitzen gegen das ewige Sollen! Sitzen gegen den Wahn der Aufmerksamkeitsökonomie! Sitzen gegen die Überreizung, die Ablenkung, die digitale Zupflasterung des Lebens!

Das nichtsnutzige Sitzen könnte aber auch eine Ehrenrettung dieser in Verruf geratenen Alltäglichkeit sein. Gerade jüngst erschienen diverse Medienberichte, die vor dieser lebensgefährlichen Körperhaltung warnten. «Sitzen tötet», hiess es. Sitzen, das neue Feindbild der Menschheit!

Aber um all das ging es mir nicht. Mein Nichtstun hatte keinen Zweck, weder wollte es den gesellschaftlichen Umsturz, noch wollte es eine Antithese sein gegen den Gesundheitswahn. Mein Nichtstun war grundlos. Und dennoch fühlte es sich nicht nach einer verlorenen Stunde an.

Der Risotto war fertig. Doch etwas liess mich nicht los. Nachdem ich den ovalen Esstisch fürs Nachtessen gedeckt hatte, ging ich in den Keller und holte die Wasserwaage. Und ja, was soll ich sagen: Die verdammten Rousseau-Bilder hängen tatsächlich gerade. Ich kann wohl endlich meine Drahtbrille entsorgen.

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