Lando Norris gilt als grösste Zukunftshoffnung in der Königsklasse. Auf dem Weg an die Spitze müssen er und das McLaren-Team noch den Umgang mit dem Druck lernen.

Die Autos in der Formel 1 gleichen sich mehr und mehr an. Plötzlich gibt es wieder vier Teams, die um den Sieg fahren können. Aus der technischen Ausgeglichenheit ergibt sich nun die Frage nach dem stärksten Fahrer. Am vergangenen Wochenende in Montmeló siegte der Niederländer Max Verstappen im Red Bull, er ist der Mann im derzeit nur zweitbesten Auto.

Der bessere Wagen war zum wiederholten Mal der McLaren von Lando Norris, der Zweiter wurde. Für einmal hat der Titelverteidiger Verstappen den Machtkampf auf der Strecke gewonnen, aber Norris hat sich als Verstappen-Jäger positioniert, seit er im Mai in Miami den ersten Sieg erreichte. In den vier Rennen danach war der Brite dreimal Zweiter, jeweils nur knapp geschlagen. Am Wochenende geht das Duell am Grossen Preis von Österreich weiter.

Norris gilt schon seit einer Weile als Zukunftshoffnung der Formel 1. Der McLaren-Teamchef Zak Brown hat deshalb den Vertrag mit dem 24-jährigen Fahrer aus Bristol vorzeitig bis Ende 2024 verlängert – der Fahrermarkt funktioniert oft wie ein Optionshandel. Norris gilt als der Mann mit der aussichtsreichsten Zukunft, dicht dahinter folgt sein australischer Teamkollege Oscar Piastri. In der aktuellen WM-Wertung ist Norris Zweiter, allerdings mit noch satten 69 Punkten Rückstand auf Verstappen.

Dem Klischee des Rennfahrers entspricht er nicht

Norris ist in der schillernden Formel 1 ein zurückhaltender Typ, überbrückt die Schüchternheit manchmal etwas ungelenk. Aber auch höchst professionell: Schon in der Formel 2 reiste er mit eigenem Social-Media-Team. So richtig in die Rennfahrerklischees passt der Sohn aus reichem Haus nicht. Zwar begeistert er sich ähnlich wie der Gegenspieler Verstappen für das Sim-Racing, in der analogen Welt interessiert er sich aber vor allem für Grafikdesign und Fotografie. Im Motorsport will er nach dem Rekordchampion Lewis Hamilton der nächste britische Held werden. Seine Inspiration ist wie bei so vielen Ayrton Senna, obwohl er den Brasilianer zu dessen aktiven Zeiten kaum wahrgenommen haben kann.

Fahrerisch ist seine Persönlichkeit ein Mix aus den Fähigkeiten seiner Gegner. Norris besitzt wie Verstappen ein ungeheures Fahrgefühl, hat einen Instinkt wie Charles Leclerc und einen Kampfgeist wie Hamilton. Was ihm noch fehlt, scheint jener sportliche Killerinstinkt zu sein, mit dem sich Verstappen an die Spitze gesetzt hat.

In der turbulenten Startphase am vergangenen Sonntag in Spanien blitzte etwas davon auf, als er seinen niederländischen Rivalen auf den Grünstreifen neben der Geraden drückte. Was zwischen anderen Fahrern für grosse Verstimmungen gesorgt hätte, lächelten Norris und Verstappen nach dem Grand Prix einfach weg. Die beiden kennen sich aus Kart-Zeiten, wo der Verdrängungswettbewerb weit härter ist.

Aus «Lando No-Wins» wird ein Sieger

Jedes Grenzerlebnis dieser Art stärkt das Selbstbewusstsein von Norris, der in der Vergangenheit häufiger als zu nachdenklich charakterisiert wurde. Vielleicht handelt es sich dabei auch nur um ein Missverständnis. Niemand sonst hadert öffentlich so sehr über verpasste Chancen. Über seinen zweiten Platz im letzten Rennen, als er gegen Ende Verstappen immer näher gerückt war, sagte er: «Wir hätten nicht gewinnen können, wir hätten gewinnen müssen.»

Norris treibt sich mit der Erwartung an, dass es immer noch besser geht, bei McLaren können sie die vermeintlichen Selbstzweifel längst richtig einordnen. Zugleich erwächst daraus auch mehr und mehr Selbstsicherheit. Aus dem verspotteten «Lando No-Wins», der nach 108 sieglosen Rennen erstmals einen Grand Prix gewinnen konnte, ist ein Siegfahrer geworden. Um seine Kritiker mundtot zu machen, zelebriert er den Erfolg mit einer eigenen «We did it»-Fanartikel-Kollektion.

Vor einem Jahr in Spielberg hat McLaren, der seit der Jahrtausendwende immer mehr ins Straucheln geratene Formel-1-Dinosaurier, einen technischen Turnaround geschafft, der in der Kürze der Zeit seinesgleichen sucht. Seither funktioniert jedes Upgrade, der Rennwagen scheint auf den unterschiedlichsten Streckentypen zu funktionieren. Der erstaunliche Aufschwung, den der italienische Techniker Andrea Stella eingeleitet hat, dient mittlerweile sogar dem ehemaligen Seriensieger Mercedes als grosses Vorbild.

Bei der Rennstrategie hat Red Bull noch Vorteile

Auf der letzten Etappe ganz nach oben muss McLaren noch lernen, mit dem erhöhten Druck umzugehen. Norris, dem sein Teamchef Brown immer wieder bescheinigt, einen «unglaublichen Job» zu machen, kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Der designierte Teamleader sagt: «Wir haben alles, was wir brauchen. Es geht jetzt darum, alles zusammenzubringen.»

Das gilt vor allem für die richtige Rennstrategie, eine Sparte, in der Red Bull Racing immer noch führend ist. Der Einzelgänger Norris lebt seine Teamfähigkeit nicht nur öffentlich aus, in dem er vom Podest aus den Mechanikern dankt. Häufig hilft er am Sonntagabend nach Rennschluss der Crew bei der Demontage seines Rennwagens.

Wenn da nur nicht ein Verstappen wäre, der in der Form seines Lebens fährt. Norris sagt, dass der Kontrahent sich einfach keine Fehler leiste. Daher lautet seine Kampfansage: «Wir können uns gerade jetzt nicht leisten, ihn davoneilen zu lassen.» Nach dem Rennen in Spanien formulierte Norris erstmals den persönlichen Anspruch: «Ich denke, dass wir in dieser Saison eine Chance auf den Titel haben.» Dazu will er seine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstkritik auf das ganze Team ausdehnen: «Wir müssen uns mehr selbst provozieren.» Für seine Verhältnisse klingt das schon fast euphorisch.

Exit mobile version