Freitag, Oktober 4

Schlucken bereitete ihr Schmerzen, gehen oder sprechen konnte sie nicht: Musste ein dreijähriges, schwerstbehindertes Mädchen sterben, weil die Eltern es als Last empfanden? Oder wollten sie ihre Tochter von ihrem Leiden erlösen?

Es sei für sie in Ordnung, dass sie hier sei, vor Gericht, sagt die 32-jährige Mutter gleich zu Beginn der Befragung. «Ich würde heute genauso entscheiden wie damals.» Und später wird sie sagen: Die achtzehn Jahre Gefängnisstrafe machten ihr keine Angst.

Zwei Versionen ein und derselben Geschichte werden derzeit vor dem Bremgartner Bezirksgericht verhandelt. Es geht um dieselbe Tat, denselben Zeitpunkt und dieselben Beteiligten. Und trotzdem sind beide Darstellungen grundverschieden.

Die erste Version beschreibt ein Elternpaar, das mit zunehmender Verzweiflung versuchte, seinem Kind ein würdiges, schmerzfreies Leben zu ermöglichen: Die dreijährige Tochter Sophie* war schwerstbehindert, neun Monate nach ihrer Geburt 2017 stellten die Mediziner eine Zerebralparese fest – eine Fehlbildung des Hirns, höchstwahrscheinlich verursacht durch einen Infekt während der Schwangerschaft. Das Mädchen konnte weder sprechen noch gehen, schlucken war ihm meistens unmöglich. In der Folge war es untergewichtig. Sophie hatte jeden Tag und insbesondere in der Nacht starke Schmerzen und litt kurz vor ihrem Tod immer häufiger unter spastischen Anfällen.

Das Leiden der Tochter mit ansehen

So erzählten es die Eltern von Sophie am ersten Verhandlungstag vor dem Bezirksgericht. Kurz nach ihrer Verhaftung vor vier Jahren hatten beide die Tat gestanden: Gemeinsam haben sie ihre dreijährige Tochter im Mai 2020 getötet, indem sie ihr einen mit der Partydroge MDMA (Ecstasy) und dem Schlafmittel Zolpidem präparierten Schoppen verabreichten und ihr danach mit einem Tuch die Atemwege blockierten, bis das Herz nicht mehr schlug. «Ich habe meine Tochter nicht ermordet, ich habe ihr geholfen», sagte die Mutter, als die Gerichtspräsidentin sie fragte, wie sie sich heute fühle. Und der Vater sagt: «Ich fühle mich weder skrupellos noch als Mörder. Es macht mich traurig, dass mir so etwas vorgeworfen wird.»

Mutter und Vater erzählen in der Befragung vor Gericht von den ersten glücklichen Monaten mit Sophie. Wie sie nach der Diagnose alles versucht hätten, um eine Besserung der Krankheitssymptome zu erreichen: Das hiess, nicht nur nach den geeigneten Therapien zu suchen, sondern ihrer Tochter auch ein schönes Leben zu bieten – ihr Bücher vorzulesen, auf den Spielplatz zu gehen, sie in Kontakt mit Tieren zu bringen, so dass sie mal eine Kuh, mal einen Esel streicheln konnte. Doch in den letzten Monaten ihres Lebens habe Sophie noch viel mehr gelitten, fast gar nichts habe ihr noch Freude gemacht, sie habe Angst gehabt vor dem Schoppen, weil sie sich verschluckte, und sich vor dem Schlafengehen gefürchtet, weil das Liegen nach kurzer Zeit grosse Schmerzen bereitete.

Und irgendwann war es dem Paar unerträglich, das Leiden seines Kindes weiter mit ansehen zu müssen.

Die zweite Version der Geschichte stellt die Eltern in einem ganz anderen Licht dar. Es geht darin um den Egoismus eines Paares, das überfordert gewesen sei mit der Betreuung des schwerstbehinderten Kindes und dieses zunehmend als Last empfunden habe. So steht es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Bremgarten: Das Paar sei bei der Tötung von Sophie mit besonderer Skrupellosigkeit vorgegangen. Man habe mit der Tat schlicht und ergreifend seine eigenen Interessen durchsetzen wollen – unter «Geringschätzung des Lebens des Opfers» und durch die «Elimination der als lästig empfundenen Tochter». Einen ernsthaften Versuch, ihr das Leben zu erleichtern, hätten sie gar nicht erst unternommen.

So viele schöne Bilder im Kopf

Dieser Darstellung widerspricht die Grossmutter von Sophie, die ebenfalls zu den Angeklagten gehört. Ihr wird Gehilfenschaft zum Mord vorgeworfen, da sie laut Staatsanwaltschaft von dem Tötungsvorhaben wusste, aber nichts unternommen habe, um ihre Tochter und deren Partner davon abzubringen. Die 53-Jährige erinnert sich daran, wie es war, wenn sie ihre Tochter besuchte, die ihr stets mit Sophie auf dem Arm die Tür öffnete. «Sie waren unzertrennlich – ich habe immer nur Liebe gesehen.» Ihre Tochter habe auch nie überfordert gewirkt mit der Betreuung, «jeder Griff sass». Der Umgang sei immer so liebevoll gewesen, ihre Tochter habe zum Beispiel sehr darauf geachtet, dass Sophie stets sauber angezogen und zurechtgemacht gewesen sei. «Ich hab so viele schöne Bilder im Kopf, ich könnte den ganzen Tag erzählen, aber ich will sie nicht aufhalten», sagt die Grossmutter zur Gerichtsvorsitzenden unter Tränen. Sie vermisse ihre Enkelin genauso, wie auch ihre Tochter und deren Partner sie vermissen würden.

Dass das Paar Sophie tatsächlich töten würde, habe sie wirklich nicht kommen sehen – auch wenn es ihr das MDMA, das es schliesslich an jenem Mai-Abend 2020 in den Schoppen gab, gezeigt habe. «So etwas im Kopf haben ist das eine, es machen das andere.» Noch heute erinnere sie sich, wie innig die Tochter mit Sophie war, und denke, das sei alles nicht wahr, «wie in einem Traum». Sie frage sich auch heute noch, ob sie anders hätte reagieren können.

Lange Haftstrafen und Landesverweis

Die Staatsanwaltschaft findet: Ja. Als Grossmutter hätte sie sich für das Wohlergehen ihrer Enkelin einsetzen müssen. Sie fordert fünf Jahre Gefängnisstrafe und fünfzehn Jahre Landesverweis für sie – alle Angeklagten in diesem Prozess sind deutsche Staatsbürger.

Hart sind die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft an die Adresse von Sophies Mutter. Sie habe sich geweigert, das Kind zur Entlastung wenigstens zeitweise in externe Betreuung zu geben. Und die bereits geplante operative Einsetzung einer Magensonde mit dem Ziel, dass sich die Ernährung verbessere, habe sie kurzfristig abgesagt. Die Beschuldigte sagt dazu, dass die Operation einige gewichtige Nachteile mit sich gebracht hätte, die für sie damals dagegen gesprochen hätten. Die Fremdbetreuung sei nicht infrage gekommen für sie, weil die Tochter sehr auf sie fixiert gewesen sei, sich nur von ihr habe trösten und den Schoppen geben lassen. Die Vorstellung, dass sie ihre Tochter abgebe und diese dann Angst habe und sich im Stich gelassen fühle, sei ihr und ihrem Partner unerträglich gewesen.

Die Staatsanwaltschaft fordert achtzehn Jahre Freiheitsentzug und einen Landesverweis von fünfzehn Jahren für die Eltern.

Die Verteidigung von Sophies Eltern plädiert auf Totschlag. Das heisst, dass die Angeklagten, anders als bei Mord, nicht skrupellos gehandelt hätten, sondern im Affekt – verursacht durch starke seelische Belastung.

Das Urteil wird für Freitag, den 13. September, erwartet.

* Name geändert.

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