Samstag, Oktober 12

Die Schweiz habe das rasante Bevölkerungswachstum der letzten Jahre dank einem günstigen Franken und einem breiten Stellenangebot gut absorbieren können, sagt Boris Zürcher. Von einer Schutzklausel hält er wenig.

Die Schweiz ist seit vielen Jahrzehnten eine Wohlstandsinsel. 2023 lag der Durchschnittslohn in der Schweiz laut OECD-Daten kaufkraftbereinigt immer noch um 37 Prozent höher als im Mittel der vier Nachbarstaaten. Wie erklären Sie dieses Phänomen?

Wir haben ein sehr dezentrales und föderales System. Niemand kann den Fortschritt aufhalten. Das ist anders in Ländern, die Mehrheitsregierungen haben und somit durchregieren und auch den Strukturwandel bremsen können, den wir dagegen in der Schweiz immer wieder zulassen. Die Schweiz hat sich immer wieder dem veränderten Umfeld angepasst. Der Wandel der Wirtschaftsstruktur ist eine zentrale Voraussetzung für Wirtschaftswachstum.

Doch haben wir nicht auch in der Schweiz Bremsklötze, etwa wenn man an die Landwirtschaftspolitik denkt?

Die Landwirtschaft ist tatsächlich eine Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Aber sonst war auch in Volksabstimmungen die Mehrheit in der Regel für die Öffnung und den Fortschritt. Das kann sich jetzt allerdings ändern mit der Alterung der Gesellschaft.

Aber es gab auch Entscheide wie das Volks-Nein von 1992 zum EWR-Beitritt.

Das war ein heilsamer Schock. Es führte dazu, dass die Schweiz ein Revitalisierungsprogramm an die Hand nahm, zum Beispiel mit dem Binnenmarktgesetz, dem Kartellgesetz, der Öffnung des schweizerischen Kapitalmarkts oder der Änderung des Aktiengesetzes. Es gab Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre ein einmaliges Reformfenster. Zudem traten die geburtenstarken Jahrgänge in den Arbeitsmarkt ein. So kam die Schweiz gestärkt aus den 1990er Jahren. Von den damaligen Öffnungen und Liberalisierungen profitieren wir bis heute.

Seit der Einführung der Personenfreizügigkeit 2002 ist die Bevölkerung in der Schweiz von 7,3 auf rund 9 Millionen gewachsen, und etwa vier Fünftel dieser Zunahme sind auf die Einwanderung zurückzuführen. Ist diese Entwicklung nachhaltig?

Ich glaube nicht, dass eine solch hohe Zuwanderung längerfristig auf Akzeptanz stösst. Wer das Bevölkerungswachstum erwähnt, muss jedoch auch erwähnen, dass die Schweiz im gleichen Zeitraum 1,3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen hat. Die Frage ist daher, warum die Schweiz ein solch enormes Stellenwachstum hatte. Seit 2008 oder 2009 ist unser Wechselkurs wesentlich auf den Euro ausgerichtet. Der Euro ist laufend schwächer geworden. Wir orientieren uns nicht mehr an einer starken Währung, wie es die D-Mark war. Wir haben dadurch eine sehr expansive Geldpolitik im Binnenmarkt, mit realen Zinsen, die lange Zeit nahe bei null oder sogar unter null lagen. Das führte im Inland zu einer massiven Expansion, vor allem auch der Beschäftigung.

Also ist die Nationalbank schuld an der hohen Einwanderung?

Der relativ schwache Franken ist zumindest Teil des Problems. In der Ökonomie gibt es aber immer Zielkonflikte. Man erhält nichts gratis. Die Alternative wäre eine starke Frankenaufwertung gewesen. Dadurch hätten besonders die exportorientierten und wertschöpfungsintensiven Branchen in der Schweiz gelitten.

Aber sagen Sie, dass mit der Wechselkurspolitik der Nationalbank in den letzten 15 Jahren die Einwanderung auch ohne Personenfreizügigkeit mit der EU ähnlich stark gestiegen wäre?

Absolut. Eine hohe Einwanderung hatten wir auch schon zu Zeiten der Kontingente. Nur führt die Personenfreizügigkeit heute zu einer qualitativ besseren Zuwanderung, als wir es in früheren Jahrzehnten hatten. Zu Zeiten der Kontingente kamen vor allem jene Branchen zum Zug, die am lautesten riefen – wie etwa der Bau und die Landwirtschaft. Die Personenfreizügigkeit erlaubt dagegen eine bessere Anpassung an die Nachfrage, und sie ermöglicht einen effizienteren Strukturwandel der Wirtschaft zum Beispiel mit dem starken Wachstum des Pharmasektors oder des Gesundheitswesens.

Führte die Personenfreizügigkeit aber nicht auch dazu, dass sich die Arbeitgeber dem Druck zur Produktivitätssteigerung ein Stück weit entziehen konnten durch den Zugang zum EU-Arbeitsmarkt?

Ja, die Schweiz trifft in der Tat auf ein sehr elastisches Arbeitsangebot. Sie kann jederzeit Leute aus der EU rekrutieren, was die Arbeitgeber natürlich sehr schätzen. Trotzdem erreicht die Schweiz auch für Inländer eine der höchsten Beschäftigungsquoten. Die Unternehmen suchen Arbeitskräfte offenbar zuerst in der näheren Umgebung.

Laut Kritikern lindert die Einwanderung per saldo den Arbeitskräftemangel nicht wirklich. Denn die Einwanderer steigern mit ihren Einkommen die Gesamtnachfrage in der Volkswirtschaft und damit auch wieder den Bedarf nach Arbeitskräften. Richtig?

Das stimmt nicht nur für Einwanderer, sondern für alle Erwerbstätigen. Arbeit schafft immer mehr Arbeit. Zusätzliche Arbeit bringt zusätzliche Einkommen und damit zusätzliche Nachfrage. Das ist der Grundmechanismus des Wirtschaftswachstums.

Gewisse Ökonomen schlagen eine Art Einwanderungsabgabe vor. Damit sollen die Zuwanderer oder ihre Arbeitgeber sich an den sogenannten Dichtekosten beteiligen. Was halten Sie von der Idee?

Die Konjunktur im Inland bestimmt den Bedarf nach Arbeitskräften und damit auch nach Einwanderung – unabhängig davon, ob wir die Personenfreizügigkeit haben oder ein Kontingentssystem oder eine Zuwanderungsabgabe. Jeder Versuch zur Feinsteuerung wirkt verzerrend. Möglicherweise würde man gerade jene Arbeitskräfte von der Einwanderung abhalten, welche die Volkswirtschaft am meisten benötigt.

Wäre aber nicht die Steuerung über den Preis via Einwanderungsabgabe geeignet, vor allem Hochqualifizierte ins Land zu bringen?

Jetzt muss ich etwas Ketzerisches sagen: Die Schweiz steuert nicht mehr über den Preis. Sie ist wegen der Wechselkurspolitik und der entsprechend tiefen Zinsen zu billig geworden. Die Einwanderung sollte man aber nicht auf Mikroebene wie etwa mit einer Einwanderungsabgabe steuern. Eine Einwanderungsabgabe wäre höchstens eine politische Beruhigungspille. Eine solche Abgabe würde an der Ursache der Einwanderung – der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt – nichts ändern. Zudem würden in einem solchen Regime sofort viele Branchen nach einer Sonderbehandlung rufen, so wie wir es nach dem Volks-Ja von 2014 zur Einwanderungsinitiative gesehen haben. Damit würde jede Zuwanderungsabgabe mit der Zeit gegen null tendieren. Das Beschäftigungswachstum steuert man letztlich nicht über Abgaben, Steuern und administrative Massnahmen, sondern makroökonomisch über die Geld-, Währungs- und Fiskalpolitik.

Das heisst, die Nationalbank soll einen teureren Franken zulassen, um die Einwanderung zu bremsen?

Das wäre erfolgversprechender. Aber auch dies hätte einen Preis: Wir würden besonders jenen Unternehmen das Leben erschweren, die heute mit ihrer Wertschöpfung einen grossen Teil zu unserem Wohlstand beitragen. Wenn wir die Entwicklung des Wohlstands in der Schweiz in den letzten zwanzig Jahren anschauen, dann ziehe ich die jetzige Situation im Vergleich zu einer Alternative ohne Wechselkurspolitik eindeutig vor. Für die Zukunft ist aber die politische Akzeptanz des derzeitigen Einwanderungsniveaus infrage gestellt. Eine gewisse reale Aufwertung des Frankens mag deshalb zum Thema werden.

Wäre eine Schutzklausel zur EU-Einwanderung ein sinnvolles Beruhigungsmittel?

Es wäre ein Beruhigungsmittel. Aber die inländischen Unternehmen müssten den Preis zahlen. Wir haben nicht einen Zuwanderungsdruck, sondern einen Zuwanderungssog: Die Schweiz saugt ausländische Arbeitskräfte auf. Man würde für eine Schutzklausel wohl Schwellenwerte zur Zuwanderung definieren und irgendwann einen Rekrutierungsstopp oder eine Rekrutierungsbremse aktivieren müssen. Eine Schutzklausel müsste in konkrete Zahlen übersetzt werden, und das ist keine triviale Angelegenheit.

Wie würden Sie eine solche Schutzklausel in der Praxis umsetzen?

Ich verstehe es, wenn die EU sagt, ihr Schweizer habt ein starkes Beschäftigungswachstum, eine tiefe Arbeitslosenquote und die höchsten Löhne – wovor wollt ihr euch denn schützen? Und im Inland würde die Aktivierung einer Schutzklausel wieder auf eine Art Kontingentierung hinauslaufen, die letztlich wie früher kaum wirksam wäre.

Zeichnet sich in den laufenden Verhandlungen mit der EU und bei den innenpolitischen Gesprächen der Sozialpartner eine Lösung ab?

Ich bin zuversichtlich, dass man eine Einigung finden wird. Die aussenpolitische Lösung mit der EU dürfte nach Fahrplan bis Ende dieses Jahres oder Anfang nächsten Jahres vorliegen. Der Bundesrat wird voraussichtlich in der ersten Jahreshälfte 2025 eine Botschaft präsentieren. Der Bundesrat hat aber immer gesagt, dass Qualität vor Zeit kommt.

Geht es im innenpolitischen Teil vor allem um weitere Erleichterungen für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Gesamtarbeitsverträgen?

Das ist ein wesentlicher Teil. Die Diskussionen darüber laufen. Ich sehe, dass die Sozialpartner eine Lösung wollen.

Und wie sieht es mit der umstrittenen Spesenregelung für entsandte Arbeitskräfte aus?

Daran wird eine Lösung kaum scheitern.

Aussenpolitisch problemlos erschiene es für die Schweiz, das inländische Arbeitskräftepotenzial noch stärker auszuschöpfen. Was würde ein höheres Rentenalter bringen?

Generell schöpft die Schweiz im internationalen Vergleich das inländische Arbeitskräftepotenzial schon hervorragend aus. Das noch unausgeschöpfte Potenzial ist sehr beschränkt. Aber ja: Die Erhöhung des ordentlichen Rentenalters wäre die wirksamste Massnahme. Die Leute würden dann länger arbeiten und im Arbeitsmarkt verbleiben.

Und könnte die Einführung der Individualbesteuerung vor allem die Arbeitsanreize der Frauen noch erhöhen? Rund 80 Prozent der 15- bis 64-jährigen Frauen sind zwar schon auf dem Arbeitsmarkt, aber umgerechnet auf Vollzeitstellen liegt die Erwerbsquote der Frauen nur bei etwa 60 Prozent.

Der Beschäftigungsgrad der Frauen ist über die letzten Jahrzehnte laufend gestiegen. Es gibt sicher noch weiteres Potenzial. Aber wir sind eine liberale Gesellschaft, und wir kennen keinen Arbeitszwang. Die Frauen arbeiten durchschnittlich ungefähr so, wie sie das wünschen. Kommt hinzu, dass eine Steuerreform nur mehrheitsfähig ist, wenn die Mehrheit tatsächlich davon profitiert. Es gibt sicher viele gute Gründe für eine solche Steuerreform, aber aus arbeitsmarktlicher Sicht ist festzustellen, dass gemessen an den Kosten die zusätzliche Erwerbstätigkeit der Frauen eher gering ausfallen dürfte.

Und was brächte ein Ausbau der Subventionen für Kinderkrippen?

Das ist meiner Meinung nach keine Bundesaufgabe. Und auch hier gilt: Aus rein arbeitsmarktlicher Sicht ist das zusätzliche Beschäftigungspotenzial gemessen an den Zusatzkosten marginal. Das zeigen im Übrigen auch Erfahrungen aus anderen Ländern, die deutlich grosszügiger sind, aber dennoch eine deutlich tiefere Erwerbsbeteiligung aufweisen.

Letzte Frage. Sie haben sich beruflich seit zwanzig oder mehr Jahren mit dem Arbeitsmarkt beschäftigt. Welchen beruflichen Ratschlag würden Sie heute Jugendlichen geben?

Finde etwas, das du mit Leidenschaft tun kannst. Dann wird auch das Einkommen folgen.

Arbeitsmarktprofi tritt ab

hus. Der Schweizer Arbeitsmarkt gehörte die letzten 25 Jahre zu seinem Kerngeschäft. Doch bald wird dies anders sein. Boris Zürcher (60) verlässt Ende Jahr seinen Posten als Chef Arbeitsmarkt des Bundes. Seit 2013 war er Leiter der Direktion Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Schon 1999 bis 2002 war er im Seco für die Arbeitsmarktpolitik zuständig. Dazwischen war er fünf Jahre lang Berater der Wirtschaftsminister Couchepin, Deiss und Leuthard und weitere fünf Jahre Vizedirektor des liberalen Denkinstituts Avenir Suisse. Auf Anfang 2025 wechselt er zur ETH als Verantwortlicher für die Entwicklung des künftigen ETH-Standorts in Baden-Württemberg. Im Interview äussert sich Zürcher zu zentralen Themen seiner Amtszeit.

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