Samstag, November 23

Michael Maertens kommt für eine Nawalny-Lesung ans Schauspielhaus Zürich zurück, wo er oft auf der Bühne stand. Im Interview spricht er über seine Eindrücke in der Schweiz und seine Erfahrungen als Boomer in der Theaterszene.

Wir haben uns um 10 Uhr 30 in der Josefstadt verabredet. Und wie ich nun ins Café Rathaus eintrete, sehe ich Michael Maertens gemütlich am Frühstückstisch sitzen – zusammen mit seiner Freundin Marie-Luise Stockinger. Auch Stockinger ist Schauspielerin, und wie Maertens gehört sie zum Ensemble des Burgtheaters. Die beiden spielen derzeit in einer gefeierten «Hamlet»-Inszenierung.

Geboren 1963 in Hamburg, wuchs Michael Maertens als Enkel, Sohn und Bruder von Schauspielern gleichsam organisch in eine Theaterkarriere hinein. 1988 debütierte er in Goethes «Clavigo» am Hamburger Thalia-Theater. Seither ist er auf allen bedeutenden deutschsprachigen Bühnen aufgetreten. 2017 wurde er am Burgtheater mit dem Titel des Kammerschauspielers geehrt. In «Der Parasit», einer Inszenierung von Matthias Hartmann, trat er 2005 erstmals am Zürcher Pfauen auf.

Maertens bestellt beim livrierten Kellner einen kleinen Mocca, bevor wir für das Interview ein Tischchen in der Ecke des weitläufigen Wiener Kaffeehauses suchen. «Ich habe heute bereits Tennis gespielt», erklärt er. «Und weil ich gewonnen habe, bin ich besonders guter Laune!»

Michael Maertens, Sie haben in Ihrer Karriere mehrmals am Zürcher Schauspielhaus Station gemacht und kommen jetzt mit einer Lesung hierhin zurück. Welche Erinnerungen sind Ihnen geblieben?

Ich freue mich, wieder einmal in die Schweiz und an den Pfauen zu kommen. Aber Zürich ist nicht das leichteste Pflaster für Schauspieler. Ich habe die Stadt nie hundert Prozent verstanden und mich nie ganz wohlgefühlt. Vielleicht, weil ich als eitler Schauspieler einfach nur Anerkennung suchte – und die kriegt man in anderen Städten leichter. Es gibt hier auch verschlüsselte, nicht sehr euphorisch klingende Codes der Anerkennung. Während man in Bochum sagt: «Die Aufführung war umwerfend, ich fand sie grossartig», sagen die Schweizer: «Sie hat einen grossen Eindruck hinterlassen.» Ich spürte in Zürich Skepsis nicht nur dem Theater gegenüber, sondern auch gegenüber uns Deutschen. Die Schweizer scheinen uns sagen zu wollen: Wir brauchen euch nicht, wir können’s selbst. Und wenn Dürrenmatt oder Frisch gespielt wird, rasen alle ins Theater.

Sie werden in Zürich Texte von Alexei Nawalny vortragen. Welchen Eindruck von dem verstorbenen russischen Politiker und Dissidenten haben Sie durch die Lektüre gewonnen?

Bei den Texten handelt es sich um berührende Zeugnisse aus dem russischen Gefängnis, wo Nawalny die meiste Zeit in Einzelhaft zubringen musste. Nawalny hat aber überraschenderweise sehr unterhaltsam und humorvoll geschrieben – oft mit einer Portion Zynismus, der den Stumpfsinn des Systems entlarvt.

Finden sich auch irritierende Momente in Nawalnys Persönlichkeit?

Ich habe homosexuelle Freunde, die sagten mir, der sei doch homophob und nationalistisch. Aber Marina Dawydowa, die Schauspieldirektorin in Salzburg, die selbst Russin ist und die Lesung ursprünglich initiiert hat, hat mich davon überzeugen können, dass Nawalny eine grosse Wandlung durchgemacht hat. Tatsächlich finden sich in seinen Texten, die jetzt teilweise auch als Buch erschienen sind, keine Hinweise auf Nationalismus oder Homophobie.

Ist die Lesung vergleichbar mit einem Rollenspiel?

Ich versuche, die Texte selbst wirken zu lassen und mich als Person zurückzunehmen. Alles andere wäre anmassend. In einer Rolle aber verkleiden und schminken wir uns und behaupten, jemand anders zu sein. Im Theater wird man durch Masken und Rollen geschützt, bei Lesungen hingegen bleibt man relativ nackt. Man sitzt da und hat nichts, wohinter man sich verstecken könnte. Früher hat mir das Probleme bereitet, da war ich gehemmt. Unterdessen macht mir das Spass. Und wenn man in Österreich eine gewisse Prominenz erreicht hat, kann man auf jedem Hügel und in jeder Ruine mit einer Lesung auftreten. Es gibt keine Erhöhung, wo nicht irgendein kleines Literaturfestival stattfindet.

Vielleicht findet das Publikum an Lesungen jene Kultur der Werktreue, die es an deutschsprachigen Theatern vermisst?

Kann sein! Wir Schauspieler sind oft erstaunt, dass man mit den Mitteln einer Lesung – einem Tisch, einem Glas Wasser und einem Text, den man nicht einmal auswendig lernen muss – stehende Ovationen erhält. Dagegen probt man manchmal drei Monate lang ein Stück, und die Leute gehen in der Pause hinaus.

Sie spielen nicht nur auf Bühnen, sondern auch in Filmen. Eben ist die Komödie «Alter weisser Mann» in die Kinos gekommen, in der Sie selbst einen alten weissen Mann darstellen. Wie kommen Sie zurecht mit dieser Klischeefigur?

Ich bin nun mal als Boomer selbst ein alter weisser Mann und gerate manchmal ungewollt in Fettnäpfchen. Zum Beispiel, wenn ich das Gendern plötzlich vergesse.

Müssen Sie denn gendern?

Ich muss nicht, aber das gebietet der Respekt. Natürlich übertreibt es die Sprachpolizei. Ich finde auch, dass zu viel gefordert wird in zu kurzer Zeit. Ich bin nicht der Ansicht eines Thomas Gottschalk, aber beim Sprechen wird es manchmal wirklich schwierig, man kann nichts sagen, ohne es vorher im Kopf dreimal durchzugehen. Ich kann mich aber loben und werde auch von meinem Umfeld dafür gelobt, dass ich der Attitude des ungehobelten, rücksichtslosen, sich als etwas Besseres fühlenden alten weissen Mannes in der Art von Donald Trump nie entsprochen habe. Ich war den Frauen gegenüber immer höflich und kultiviert.

Würde das nicht jeder alte weisse Mann von sich behaupten?

Das glaube ich nicht. Ich habe im Theater jedenfalls Intendanten und Regisseure wie Klaus Peymann, Peter Stein, Luc Bondy, Jürgen Flimm, Dieter Dorn kennengelernt. Das waren typische alte weisse Männer. Sie standen an der Spitze und hatten die Macht, die anderen anzuschreien, Leute ungerecht zu behandeln. Und irgendwie hat man das immer geduldet und gedacht: Es geht ja um die Kunst. Unterdessen aber lerne ich von jüngeren Kolleginnen und Kollegen, dass man mit ganz anderen Umgangsformen künstlerisch genauso weit kommt.

Wird die Arbeit am Theater durch zu viel Vorsicht auch erschwert?

Ja, das gibt’s auch! Wir kommen im Theater ja manchmal durch Improvisation zu Ergebnissen, und zur Improvisation gehört es, die anderen zu überraschen, manchmal auch durch Berührungen. Es geht dabei nicht um sexuelle Übergriffe. Unterdessen ist es auf manchen Bühnen aber so, dass man immer zuerst fragen muss: «Ist es ein Problem, wenn ich dir über den Rücken streiche? Ist es ein Problem, wenn ich dich umarme?»

Wird das Rollenspiel auch durch Identitätspolitik gehemmt?

Man weiss tatsächlich immer weniger, was man darf und was nicht. In Tony Kushners Stück «Engel in Amerika» zum Beispiel gibt es einen phantastischen schwulen Anwalt, und ich finde, ich darf den spielen. Weil ich aber nicht schwul bin, wird das von manchen Leuten in unserer Branche infrage gestellt. Das läuft darauf hinaus, dass man zuletzt gar niemanden mehr spielen kann – jede Rolle ist ja eine Form der Aneignung. Es gibt allerdings Rollen, bei denen ich verstehe, dass ich sie im Moment nicht übernehmen sollte. Ich würde gerne Othello spielen. Aber nach Jahrhunderten des Rassismus leuchtet es mir ein, wenn die Figur im Moment ausschliesslich von Schwarzen verkörpert wird. Ich hoffe allerdings, dass sich die Lage irgendwann beruhigt und schwarze Schauspieler mit der gleichen Selbstverständlichkeit als Hamlet auftreten werden wie ich als Othello.

Offenbar braucht es heute möglichst diverse Ensembles, damit sich die Leute nicht durch ungebührliche Rollenspiele verletzt fühlen.

Heute versucht man fast panisch, die Ensembles divers zu besetzen. Ich würde ein Ensemble am liebsten mit Leuten zusammenstellen, die etwas können, die ich mag, mit denen ich gut zusammenarbeiten kann – vollkommen unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, sexueller Orientierung.

Das Burgtheater, wo Sie zum Ensemble gehören, ist eine sehr traditionsreiche Bühne. Wie viel Zeitgeist wird hier von der Tradition überhaupt zugelassen?

Das Burgtheater-Ensemble hat eine Qualität, um die sich viele Theater gebracht haben: die Versammlung von unterschiedlichen Generationen – vom 90-jährigen Doyen bis zur 20-jährigen Anfängerin. Das ist ein Reichtum und ein Schatz, über den nur dieses Theater verfügt, weil es sich leisten kann, ein so grosses Ensemble zu haben. In Wien hat das Theater eben noch eine grössere Wertschätzung als in anderen Städten. Wien lebt von Kultur, und aus jeder Gasse hört man Klavier- oder Geigenmusik.

Wie ist der Einfluss der Politik auf die Wiener Kulturszene?

Wir können uns nicht beschweren, wir kriegen Geld. Es gibt allerdings ein erstaunliches Desinteresse seitens der Politiker. Frau Merkel geht in Berlin immerhin ins Theater. Aber Bundeskanzler Nehammer würde man am Burgtheater nie sehen, das interessiert ihn nicht. Alexander Van der Bellen, der Bundespräsident, soll eine gewisse Affinität zur Kultur haben.

Welche Auswirkung hat das Erstarken der FPÖ auf die österreichische Kulturszene?

Ich bin einerseits froh, dass in Österreich momentan niemand bereit ist, eine Koalition mit der FPÖ einzugehen. Andererseits ist es auch gefährlich, wenn Herbert Kickl eine Märtyrerrolle spielen darf. Wenn man ihn nicht in die Regierung einbezieht, erhält er bei den nächsten Wahlen vielleicht plötzlich fünfzig Prozent. Wenn die FPÖ an die Macht käme, wäre das jedoch nicht gut für die Kultur. Kickl hält die Künstler alle für linke, die Steuern verschwendende Schmierfinken und Bösewichte. Er würde Blaskapellen und österreichische Trachtenvereine fördern. Das klingt wie ein Klischee, aber so ist es tatsächlich.

Glauben Sie an die Möglichkeit, mit Theater das politische Klima mitzubestimmen?

Von uns wird oft ein politisches Statement verlangt. Davon halte ich aber wenig. Wenn ich jetzt ein Stück inszenieren würde wie «Tartuffe», da ginge es mir nicht darum, an Kickl zu erinnern. Das wäre platt und blöd. Das Theater ist eigentlich immer nur dafür da, mithilfe von Stücken Gedankenräume zu öffnen, Gespräche anzuregen. Wir haben einen Bildungsauftrag, dem wir auch gerecht werden. Aber am liebsten ist es mir, wenn die Leute Spass haben und unterhalten werden.

«Hallo, hier spricht Nawalny. Briefe eines freien Menschen.» –
Eine Lesung mit Michael Maertens und Katja Kolm: Zürich, Schauspielhaus, 15. November, 20 Uhr.

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