Samstag, Oktober 5

Für einen Gewerkschaftsführer ist Harold Daggett unverschämt reich. Doch der Präsident der mächtigen Hafenarbeitergewerkschaft weiss, wie man sich Gehör verschafft. Und seine Gegner einschüchtert.

Harold J. Daggett hat gewonnen, wieder einmal. Am Donnerstagabend konnte der Präsident der International Longshoremen’s Association (ILA) den grossen Streik für beendet erklären, den seine 47 000 Hafenarbeiter an der Ost- und der Golfküste der USA drei Tage zuvor lanciert hatten.

Die ILA hat mit den Hafenbetreibern eine vorläufige Vereinbarung unterzeichnet: Der Basislohn der Hafenarbeiter wird im Laufe der kommenden sechs Jahre schrittweise um 62 Prozent ansteigen. Das liegt zwar unterhalb der von der ILA geforderten 77 Prozent, ist aber einer der besten Lohnabschlüsse aller gewerkschaftlich organisierten Berufe. Viele Hafenarbeiter verdienen heute schon mehr als 150 000 oder gar 200 000 Dollar. In Zukunft werden es noch einmal deutlich mehr sein.

Der Boss und «seine» Männer

Die Gewerkschaft schickt ihre Mitglieder jetzt an die Docks zurück, hält den Druck auf die Hafenbetreiber aber aufrecht. Sie will auch ein Verbot jeglicher Automatisierung an jenen Häfen durchsetzen, die am Gesamtarbeitsvertrag beteiligt sind. Harold Daggett will nicht lockerlassen. Denn der Kampf gegen die Automatisierung – das ist der Kampf seines Lebens.

Daggett ist zwar bereits 78 Jahre alt, führt die ILA aber weiterhin straff und hierarchisch. Der schwer tätowierte sechsfache Grossvater entscheidet, wann «seine Männer» streiken und wann sie an die Arbeit zurückkehren. «I will cripple you» – «Ich werde euch lahmlegen» – so per Video seine Warnung an die Arbeitgeber Anfang September.

«Ich», nicht «wir».

A Candid Conversation With ILA President Harold J. Daggett On Wide Range of Important Topics

Die Gewerkschaft ist gewissermassen ein Familienbetrieb: Sein Sohn Dennis ist Vizepräsident der ILA und führt zahlreiche Verhandlungen mit den Hafenbetreibern. Für Harold Daggett lohnt sich der Einsatz für «seine Männer» jedenfalls. Medien haben auf Basis von Unterlagen der Arbeitsbehörde berechnet, dass Daggett 900 000 Dollar pro Jahr verdient; sein Sohn erhält 700 000 Dollar. Shawn Fain, der Chef der mächtigen Autoarbeitergewerkschaft, verdiente letztes Jahr «nur» 230 000 Dollar.

Schon 2017 berichtete die «New York Times», dass Daggett regelmässig in einem Bentley gesichtet werde und eine 23 Meter lange Jacht namens «Obsession» besitze. Auch auf aktuellen Bildern von Daggetts herrschaftlichem Anwesen, die von Boulevardmedien nach Streikbeginn publiziert worden sind, ist ein Auto der britischen Nobelmarke auszumachen.

Eine Statue zu Lebzeiten

Dennoch hat Harold Daggett, der oft im ILA-Hoodie und mit einer schweren Goldkette behängt auftritt, bei vielen Gewerkschaftsfunktionären offenbar einen kultähnlichen Status: Im vergangenen Jahr errichteten sie zu seinen Ehren eine stattliche Statue in North Bergen, einem Vorort von New York. Daggett ist ein harter Verhandler und hat schon mehrere vorteilhafte Lohnabschlüsse für die ILA herausgeholt. Die Mitglieder gönnen ihm den Reichtum, weil er auch ihnen zu guten Gehältern verholfen hat.

Der Präsident und seine Gewerkschaft: enger könnte die Verbindung nicht sein. Harold J. Daggett wurde 1946 in Greenwich Village auf Manhattan geboren. Bereits sein Vater und sein Grossvater arbeiteten am Hafen. Als Daggett, nachdem er bei der Navy gedient hatte, 1967 selbst als Mechaniker beim Hafen von New Jersey Arbeit fand, war die grösste Revolution bereits angelaufen, die das Transportgeschäft bis dahin je erlebt hatte: die Einführung des Standardcontainers.

Zuvor mussten am Dock Behälter in allen Grössen und Formen in viel Handarbeit von Bord getragen und auf Lastwagen und Züge umgeladen werden. Mit den Containern hielten nun auch Kräne und Gabelstapler Einzug. Der Effizienzgewinn war riesig, die Folgen für Hafenarbeiter wie Daggett aber zweischneidig: Viele verloren ihren Job. Die New Yorker Häfen hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu 40 000 Arbeiter beschäftigt. Heute kommen sie mit weniger als einem Zehntel aus.

Die Container kamen, die Unterwelt blieb

Doch der Einfluss der verbliebenen Hafenarbeiter schwand nicht – im Gegenteil. Sie kontrollierten weiterhin einen wichtigen Flaschenhals im globalen Handelssystem. Das bewiesen die ILA-Mitglieder mit ihrem zweimonatigen Streik 1977, an den Harold Daggett lebhafte Erinnerungen hat.

Er führte ein Team der ILA an, das nach Los Angeles reiste und dort jene Schiffe blockierte, die von der bestreikten Ostküste umgeleitet worden waren. In den Gesamtarbeitsverträgen wurde fortan festgelegt, dass die Arbeiter an den Effizienzgewinnen beteiligt werden, die sich aus der Containerisierung ergaben. Der Job blieb zwar gefährlich, wurde aber immer besser entlöhnt.

Dass man an Häfen viel Geld verdienen kann, wusste längst auch das organisierte Verbrechen. Es hatte schon lange vor Harold Daggett versucht, die ILA und mit ihr die Häfen zu kontrollieren und für seine Zwecke auszunutzen.

Daggett selbst wurde von Bundesbehörden zweimal beschuldigt, an illegalen Machenschaften der Mafia an den Häfen beteiligt zu sein. Die ILA werde seit Jahrzehnten von zwei Mafiafamilien kontrolliert, brachten die Ankläger im Prozess 2005 vor. Sie scheiterten grandios. Beide Male wurde Daggett, der Verbindungen zum organisierten Verbrechen stets bestritten hatte, freigesprochen.

Der eine Prozess sorgte dennoch für viel Wirbel: Im Oktober 2005 verschwand einer der anderen Angeklagten, der einer bekannten Mafiafamilie angehört haben soll, kurz vor Prozessbeginn spurlos. Wenige Wochen später wurde er tot im Kofferraum eines Autos aufgefunden.

Kampf den Maschinen

Daggett liess sich durch den Rummel um seine Person aber nie von seiner eigentlichen Mission abbringen: Er will die weitere Automatisierung der Häfen dieser Welt stoppen, damit die Arbeiter an den Docks ihre Verhandlungsmacht auch in Zukunft behalten. Dass diese Verweigerungshaltung den Welthandel ineffizienter und unzählige Arbeiter in anderen Branchen ärmer macht, ficht ihn nicht an.

Wie er im Video der ILA erklärt, will er Hafenarbeiter und Seeleute weltweit in einer Art Dachgewerkschaft vereinen, die gegen die grossen Seelogistiker Maersk, MSC und CMA CGM ankämpft. Daggetts Plan: Wenn etwa Maersk in Chile ein vollautomatisiertes Terminal bauen will, würden die Hafenarbeiter dieses Unternehmen auf der ganzen Welt bestreiken. So lange, bis es den Plan aufgibt.

Ob die Gewerkschafter in Frankreich, Brasilien oder Indien auf einen Multimillionär aus New Jersey hören werden, ist indes fraglich. Daggett wird viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, doch er zeigt sich unbeirrt. «Ich weiss, was ich tue», sagt er im Video. «Ich werde die Jobs von allen retten.»

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