Sonntag, Oktober 6

Unter Tom Dart haben sich die Verhältnisse im berüchtigten Cook County Jail in Chicago radikal verbessert. Im Interview spricht der Polizeichef über Kriminalität, Haftbedingungen, den Alltag der Polizisten und den Kampf gegen Drogen.

Bei «Sheriff» denkt man an die hartgesottenen Gesetzeshüter aus den Westernfilmen, die den Colt noch schneller ziehen als die Banditen. Tom Dart entspricht diesem Klischee nicht. Der Historiker und promovierte Jurist ist der Polizeichef von Cook County im amerikanischen Gliedstaat Illinois. Zum Cook County gehören auch Chicago und das dortige Cook County Jail, eines der grössten Gefängnisse der USA. Die dortigen, einst berüchtigten Verhältnisse haben sich unter Darts Leitung radikal verbessert. Es war das erste amerikanische Gefängnis, in dem die Einzelhaft abgeschafft wurde, das war 2016; auch initiierte Dart zahlreiche Ausbildungsprogramme für die Häftlinge. Darüber hinaus engagiert er sich im Kampf gegen die Opioidkrise, die in den USA seit Ende der neunziger Jahre über eine Million Todesopfer gefordert hat.

Seit seinem Amtsantritt 2006 wurde Dart alle vier Jahre als Sheriff wiedergewählt. Das «Time Magazine» wählte ihn 2009 zu einer der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt.

Herr Dart, mir scheint, es gibt in den USA eine starke Polarisierung in Bezug auf Kriminalität und Drogen. Entweder man verfolgt eine harte Linie mit Polizei und Verhaftungen, oder man setzt auf Sozialarbeit und Schadenbegrenzung. Wie sehen Sie das?

Schon als ich vor achtzehn Jahren Sheriff wurde, war mir klar, dass es beides braucht. Die ideologisch aufgeladene Unterscheidung zwischen «tough» und «soft» ist nicht zielführend. Man kann das Drogenproblem mit Verhaftungen allein nicht lösen, schon allein deshalb, weil die Leute nicht frei wählen, Drogen zu nehmen oder nicht. Das ist eben das Wesen der Sucht. Jemanden festzunehmen und ihm zu drohen, dass er beim nächsten Mal ins Gefängnis geht, hat keine abschreckende Wirkung. Oft kann er es nicht lassen, selbst wenn er will. Aber die Diskussionen – auch unter Polizisten – sind heute differenzierter als vor zwanzig Jahren.

Inwiefern?

Man stigmatisiert süchtige Menschen weniger als früher. Das hat damit zu tun, dass die Opioidkrise Familien quer durch alle Schichten betrifft. Es sind nicht mehr einfach «die anderen», die man entmenschlicht und auf die man mit dem Finger zeigt. Man weiss: Es könnte auch mich oder meine Kinder treffen. Die Barrieren wurden abgerissen. Wenn man persönlich solche Fälle kennt, ruft man nicht mehr so rasch im alten Hardcore-Stil, man solle sie einfach alle einsperren.

Was für Massnahmen stehen Ihnen als Sheriff denn konkret zur Verfügung?

Eine grosse Hilfe ist Naloxon. Das ist ein Spray, den man in die Nase sprüht, wenn jemand eine Überdosis Opioide oder Heroin genommen hat. Die Wirkung der Drogen wird sofort neutralisiert. Viele Polizisten tragen ihn heute auf sich. Wenn jemand, der solche Drogen nimmt, aus unserem Gefängnis entlassen wird, bekommt er eine Schachtel davon. Wir erklären ihm, wie es funktioniert und dass er die Drogen nicht allein nehmen soll, so dass ihm jemand im Notfall den Spray verabreichen kann. Er hat schon viele Leben gerettet.

Zur Person

NZZ

Tom Dart, Sheriff von Cook County

Tom Dart wurde 1962 in Chicago geboren. Er studierte Geschichte und Sozialwissenschaften, später promovierte er in Jurisprudenz. 1991 bis 1993 sass er für die Demokraten im Senat von Illinois, anschliessend gehörte er bis 2003 dem Repräsentantenhaus von Illinois an. Er ist verheiratet und Vater von fünf Kindern.

Was unternehmen Sie ausserhalb der Gefängnisse gegen die Drogen?

Ich habe Leute in die Quartiere geschickt, wo besonders viele Drogen konsumiert werden, zum Beispiel in Austin in der Westside von Chicago; keine Polizisten, sondern Professionelle aus den Bereichen Drogen und Psychiatrie. Sie verteilen dort Naloxon und beraten die Betroffenen. Manchmal will einer aufhören, und wir suchen einen Therapieplatz. Das muss dann schnell gehen, bevor er es sich wieder anders überlegt. Aber meist geht es um eine längerfristige Begleitung. Sucht geht oft mit Isolation einher. Es ist wichtig, dass die Betroffenen mit jemandem ins Gespräch kommen.

Sie sind bekannt dafür, dass Sie datenbasiert arbeiten. Können Sie ein Beispiel geben?

Eine neuartige Idee war, einmal zu schauen, wo es am meisten Drogentote gab. Also übersetzten wir die Statistik in eine Karte. Erstaunliches Resultat: an Tankstellen. Die Leute suchen die Toiletten dort auf, um sich den Stoff zu verabreichen. Also konzentrierten wir uns auf die Tankstellen.

Sprechen wir über das Cook County Jail in Chicago, für das Sie verantwortlich sind. Wie war die Situation dort, als Sie Ihre Arbeit im Jahr 2006 antraten?

Es war das grösste Gefängnis des Landes, mit etwa 11 000 Insassen. Und, was den wenigsten klar ist, es ist, wie die meisten Gefängnisse, de facto eine riesige psychiatrische Einrichtung, aber ohne das entsprechende Personal. Viele Gefangene haben massive, aber unbehandelte psychische Probleme. Inzwischen haben wir nur noch etwa halb so viele Insassen. In den USA wird zwischen «jail» und «prison» unterschieden. In einem «jail» ist man bis zur Gerichtsverhandlung. Bekommt man eine Strafe unter einem Jahr, bleibt man dort, sonst wird man in ein «prison» verlegt. Wegen der Überforderung unseres Justizsystems bleiben jedoch viele Insassen viel zu lange dort.

Auch aus diesem Grund haben Sie viele Programme angestossen, die sonst den «prisons» vorbehalten sind.

Ja, damit die lange Zeit hinter Gittern nicht sinnlos ist. Das Gefängnis ist ein guter Ort, um clean zu werden. Wir haben heute die Infrastruktur und das Personal dazu sowie eine der grössten psychiatrischen Kliniken im Land. Und wir betreuen die Leute nach dem Austritt weiter.

Können Sie ein Beispiel für ein Trainingsprogramm nennen?

Eines der besonders kreativen Projekte betrifft Hunde. Viele Kriminelle haben ein Problem mit Empathie, und das ist auch nicht verwunderlich. Sie hatten oft eine Kindheit, wo man sich fragt: Wie haben sie das überlebt? Wir holen Hunde aus dem Tierheim und vertrauen sie interessierten Insassen an. Es handelt sich meist um aggressive Tiere, die sonst eingeschläfert worden wären. Die Insassen leben mit den Hunden in den Zellen. Sie entwickeln gegenseitig Vertrauen. Es ist unglaublich. Wir haben auch Studenten, die Staatsbürgerkunde unterrichten. Wir weisen im Gefängnis wahrscheinlich die höchste Anzahl an Wählern im Land auf.

Letzten Sommer wurde in Illinois die Kautionreform verabschiedet. Was hatte sie für Konsequenzen?

Normalerweise wird man in den USA gegen Bezahlung einer Kaution bis zur Verhandlung auf freien Fuss gesetzt. Vielen Insassen fehlt jedoch das Geld. Wir hatten Leute, die waren Jahre eingesperrt, bloss weil ihnen 50 oder 100 Dollar fehlten. Diese Ungerechtigkeit wurde durch die Reform aufgehoben. Sie führte unter anderem zum Ende der Überbelegung. So konnten wir uns endlich mehr um Verbesserungen kümmern, wie Ausbildungsprogramme für die Insassen. Viele von ihnen verfügen nur über eine minimale Schulbildung. Wenn sie hier einen Abschluss nachholen oder eine Berufsausbildung absolvieren können, reduziert dies das Rückfallrisiko.

Um noch einmal auf nichtpolizeiliche Massnahmen gegen Drogensucht zurückzukommen. Wo liegen die Grenzen der Akzeptanz in der Bevölkerung?

Es gibt einen Konsens, dass «harm reduction» wichtig ist. Aber wenn es zum Beispiel um die Verteilung von sterilen Spritzen, die kontrollierte Abgabe von Drogen und Räume für den Konsum geht, wird es heikel. Die Bewohner der betroffenen Quartiere befürchten oft, dass man es den Konsumenten dadurch zu leicht mache, sie indirekt zum Konsum ermutige und dass solche Einrichtungen eine Masse von süchtigen Menschen anzögen.

Ist da etwas dran?

Nein. Aber man muss wohlüberlegt vorgehen. Sonst endet es wie in Portland.

Was ist dort passiert?

Im Gliedstaat Oregon hat man vor drei Jahren den Besitz von kleinen Mengen an harten Drogen für straffrei erklärt. Wird jemand mit dem Stoff erwischt, bekommt er eine Art Bussenzettel. Er muss sich dann bei einer Beratungsstelle melden, sonst wird er im Wiederholungsfall gebüsst. Das System hat nicht funktioniert. Inzwischen ist die Situation, vor allem in der Stadt Portland, völlig ausser Kontrolle geraten. Und vor allem: Sie hat die Diskussion um viele Jahre zurückgeworfen. Es ist ein abschreckendes Beispiel für alle Reformideen.

Was war konkret der Fehler?

Man darf nicht nur an die Drogenkonsumenten denken. Man muss auch die Anwohner ernst nehmen, die nicht akzeptieren, dass die Leute an ihre Häuser urinieren, auf der Strasse ihre Notdurft verrichten, mit ihrem Verhalten die Kinder erschrecken, in einem irren Zustand an Auto- und Fensterscheiben hämmern. Selbst mit viel Verständnis tolerieren Leute das nicht monatelang. Vielleicht vorübergehend, wenn sie sehen, dass es einen Plan gibt, aber nicht endlos.

Gibt es zu wenige Therapieplätze?

Ja, und oft sind sie nicht gut. Dekriminalisierung reicht nicht. Es braucht Schadensminderung, Therapieangebote, aber auch klassische Polizeiarbeit. Viele Einbrüche und Diebstähle werden von Süchtigen verübt, und hinter der Sucht stehen wiederum oft psychische Störungen. Man muss also sowohl die Ursachen wie auch die Kriminalität selbst bekämpfen.

Wie sieht es mit Drogen innerhalb der Gefängnismauern aus?

Früher brachten vor allem Angestellte den Stoff ins Innere. Es war eine Art Währung, mit der man für alles Mögliche bezahlte. Das hat sich geändert. Heute geht es vor allem um Fentanyl. Da reichen extrem kleine Dosen für ein High. Die Entdeckung und die Kontrolle sind schwierig. Seit ein paar Jahren gibt es den Trick, Briefe, Postkarten oder Seiten eines Buches, das dem Insassen per Post geschickt wird, mit Drogen zu tränken. Der Insasse zündet das Papier an und inhaliert den Rauch. Eine Frau hat kürzlich sogar eine mit Opioiden getränkte Windel hineingeschmuggelt.

Wie sieht es mit dem Image der Polizisten aus? Spätestens seit dem gewaltsamen Tod von George Floyd im Jahr 2020 ist die Polizei unter Druck geraten.

Ja, es gibt viel Misstrauen, und daran müssen wir intensiv arbeiten. In manchen Quartieren haben die Leute schon vor Jahrzehnten jegliches Vertrauen in das Justizsystem verloren. Wird jemand angeschossen, begegnen wir oft einer Mauer des Schweigens. Das Opfer weiss, wer geschossen hat, sagt aber nichts und verweigert jegliche Kooperation. In diesen Fällen können wir nichts unternehmen, und dann heisst es, wir seien untätig. Währenddessen nimmt das Opfer das Gesetz in die eigene Hand. Diese Fehden, diese endlosen Kreisläufe der Gewalt sind verbreitet.

Sprechen wir von Gang-Gewalt?

Nicht nur. Die grossen, organisierten Gangs mit ihren Territorien, die ihren Leuten auch einen gewissen Schutz boten, existieren kaum noch. Es ist alles zersplittert. Jeder kann jeden erschiessen.

Wie steht es um die Prävention von Kriminalität?

Mit der modernen Technik gibt es viele Möglichkeiten der Überwachung. Wir haben in Chicago zum Beispiel Kameras mit einer automatischen Nummernschilderkennung. Dank den Smartphones, der Elektronik in den Autos oder der Verwendung von Kreditkarten könnten wir theoretisch jede Bewegung verfolgen. Es wäre verführerisch, solche Technologien auszunützen, um ehemalige Häftlinge zu tracken. Aber es geht um eine Abwägung zwischen Privatsphäre und öffentlichem Nutzen. Wir wollen in keinem totalitären Staat leben, aber doch die Bürger schützen. Ich liebe solche komplexen Probleme; sie zwingen mich zur Kreativität.

Was motiviert Sie eigentlich, diese schwierige Arbeit als Sheriff so lange zu machen, mit unverminderter Energie?

Ich hätte mich schon längst pensionieren lassen können. Ich lese gerne und könnte mich um die Kinder kümmern. Aber meine Aufgabe fasziniert mich. Sie erfordert immer wieder neuartige Lösungen. Das Leben ist kurz, und ich möchte etwas Sinnvolles schaffen in dieser kaputten Welt, die immer schlimmer wird. So dass meine Nachkommen einmal sagen können: «Er hat es wenigstens versucht.»

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