Samstag, Januar 11

Nach dem Sturz des Asad-Regimes stellt sich für Syrerinnen und Syrer die Frage nach der Rückkehr in die Heimat. Für viele ist das vorerst keine Option – aus unterschiedlichen Gründen.

Sonntag war eigentlich Ruhetag im Restaurant «Habibi». Doch Ahmad Garhe machte an diesem 8. Dezember eine Ausnahme und öffnete das Lokal im Lachen-Quartier in der Stadt St. Gallen für seine Freunde. Garhe servierte Pfefferminztee und Mezze, die Gruppe stiess an, es gab etwas zu feiern: Der syrische Diktator Bashar al-Asad war gestürzt worden. Garhe freute sich, er sass während der achtziger Jahre zwei Jahre im Gefängnis, weil er gegen das Regime demonstriert hatte. «Damals war noch der Vater an der Macht – zum Glück. Unter Bashars Führung wäre ich getötet worden.» Irgendwann an diesem Abend sagte Garhe zu seinen Freunden: «Jetzt habe ich Hoffnung, aber auch Angst.»

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In der Schweiz leben rund 28 000 Syrerinnen und Syrer, die meisten sind seit Beginn des Bürgerkrieges 2011 gekommen. Wie viele nun in ihre Heimat zurückkehren, ist unklar. Die Daten vom Dezember, dem Monat, in dem Asad gestürzt wurde, dürften dem Staatssekretariat für Migration (SEM) erst in den nächsten Tagen vorliegen.

Sicher ist: Vielen geht es ähnlich wie Garhe. Sie bewegen sich im Zwiespalt zwischen Zuversicht und Zweifel, fragen sich: Wohin steuert das Land unter dem neuen Machthaber Ahmed al-Sharaa? Und was bedeutet das für die Syrerinnen und Syrer in der Schweiz?

«Wir sind gut integriert»

Die Senioren des FC Suryoye Wasserschloss trainieren an einem Dezemberabend in Gebenstorf bei Baden. In der Dusche sprechen sie über Asad und den Krieg. Die Meinungen sind geteilt. Einige finden, die Christen hatten es vergleichsweise gut unter Asad, durften Kirchen bauen, ihren Glauben ausleben. Mit den neuen, islamisch orientierten Machthabern sei die Zukunft der Christen aber ungewiss. Jonathan Tan, der Sportchef und Spieler bei den Senioren, sagt seinen Mitspielern: «Ich war gegen Asad. Er hat sein Volk unterdrückt. Ich bin zuversichtlich, dass jetzt alles besser wird.»

Der FC Suryoye Wasserschloss wurde 2016 von Mitgliedern der aramäischen und assyrischen Kulturvereine der Region gegründet. Heute kommen bis zu einhundert Zuschauer an die Heimspiele. Es herrsche jeweils Familienfest-Stimmung, sagt Tan.

«Suryoye» bedeutet «Syrer». Der Begriff bezeichnet laut Tan die christliche Urbevölkerung, die im Irak, Iran, Libanon, der Südosttürkei und Syrien lebt. Im Klub sind auch Schweizer, Italiener, Albaner oder Kurden aktiv. Rund ein Drittel der etwa sechzig Spieler stammt aber aus Syrien, wobei fast alle in der Schweiz geboren sind. Tan sagt: «Wir sind hier in die Schule gegangen, haben hier studiert, sind gut integriert.»

Die syrischen Spieler im FC Suryoye Wasserschloss wollen in der Schweiz bleiben. Sie planen, Geld und alte Trikots nach Syrien zu schicken. «Wenn alles so einfach wäre wie in einer Fussballkabine, dann hätten wir weniger Sorgen auf der Welt», sagt Tan.

Die Syrer wissen wenig voneinander

An einem Abend Mitte Dezember lädt in Bern der Verein Syrien-Schweiz zu einem Filmabend. Das «Lichtspiel» im Marziliquartier ist halb Kino, halb Filmmuseum. Hinter der Leinwand, die den Raum trennt, stehen Dutzende alte Filmkameras, davor verteilt ein Mittzwanziger namens Dodo syrische Spezialitäten. Mit den etwa zwanzig Syrern spricht er Arabisch, mit den etwa zwanzig Schweizern Berndeutsch.

Den Verein Syrien-Schweiz gibt es seit fünf Jahren. Er zählt knapp einhundert Mitglieder, viele von ihnen sind Sunniten, wenngleich der Verein konfessionell neutral ist. Zweimal im Jahr führt er kulturelle Anlässe durch, dazwischen auch Informationsveranstaltungen. Jüngst ging es um das Schweizer Bildungssystem. Therese Junker, die Co-Präsidentin des Vereins, sagt: «In Syrien erlernen viele ihren Beruf per ‹learning by doing› – oder sie studieren. Eine Lehre kennen sie nicht. Wir haben den Syrerinnen und Syrern deshalb erklärt, dass in der Schweiz auch eine Lehre etwas Gutes sei. Sie könnten danach immer noch studieren.»

In der Schweiz gibt es unzählige Vereine, die sich mit den Herkunftsländern von Migranten befassen. Doch nur einer setzt sich mit Syrien auseinander. Wer sich in der syrischen Diaspora umhört, bekommt den Eindruck, die Syrer in der Schweiz wüssten wenig voneinander. Liegt es an der Heterogenität der syrischen Bevölkerung? Zu hören ist, dass die verschiedenen Ethnien gut miteinander auskämen, solange sie nicht über Politik oder Religion sprechen müssten. Dann werde es schwierig.

Mukhles Khlaf, der Co-Präsident des Vereins Syrien-Schweiz, sieht das anders. Man sei nicht untereinander zerstritten, sondern vor allem gegen Asad. Khlaf erzählt von einem syrischen Sprichwort, wonach die Wände Ohren hätten. Die Syrer hätten sich vor dem Geheimdienst gefürchtet, vor Asads Truppen. Dieses Misstrauen habe die Leute bis in die Schweiz begleitet, weshalb man sich nicht zusammengeschlossen habe. «Doch jetzt sind wir frei.»

Khlaf will der neuen Führung um Ahmed al-Sharaa eine Chance geben. «Notfalls», sagt er, «stürzen wir auch ihn.» Sollte sich die Lage beruhigen, will Khlaf wieder nach Syrien ziehen. Weil sein im Bürgerkrieg gefallener Sohn dort begraben sei.

Der nächste Infoanlass des Vereins Syrien-Schweiz ist für den Februar geplant. Dann will er zum Verbleib in der Schweiz sowie den Reisemöglichkeiten ins Herkunftsland informieren. Diese Fragen würden die syrischen Flüchtlinge derzeit sehr beschäftigen.

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) schreibt auf Anfrage, es stelle anerkannten Flüchtlingen keine Bewilligung für Reisen in den Heimatstaat aus. Wer trotzdem nach Syrien reist – und sei es nur für ein paar Tage –, dem werden der Flüchtlingsstatus und das Asylrecht aberkannt. Ausser er kann glaubhaft machen, zur Reise nach Syrien gezwungen worden zu sein.

«Ich wusste: Die Schweiz ist ein gutes Land»

In Romanshorn im Kanton Thurgau hat Hasan Fanar gerade die letzten Kunden im Coiffeursalon «Blitz» verabschiedet. Schwarzes Ledersofa und schwarze Ledersessel, zwei Wände, mit dunklem Holz verkleidet. Es riecht noch nach Aftershave und Shampoo.

Fanar ist in Derek aufgewachsen, einer kurdischen Kleinstadt im Norden Syriens. Unter dem Regime sei Derek auf Arabisch zu al-Malikiya umbenannt worden. Fanar erzählt, er habe als Pfleger gearbeitet und in der Freizeit Haare geschnitten. 2015 habe er Syrien «wegen der Revolution» verlassen und sich auf der Balkanroute an die Schweizer Organisation Ärzte ohne Grenzen erinnert, für die er einst im Einsatz gewesen sei. «Darum wusste ich: Die Schweiz ist ein gutes Land.»

Fanar ist 29 Jahre alt, als er in der Schweiz ankommt. Ohne Sprachkenntnisse und Diplome sei es schwierig gewesen, einen Job zu finden. «Für Syrer ist das Haareschneiden am einfachsten. Als Coiffeur findet man viele freie Stellen.» Inzwischen hat Fanar einen eigenen Salon und stellt selbst auch Syrer ein.

Das kommt nicht von ungefähr: Coiffeursalons kennen kaum Vorschriften. Zudem ist die Ausrüstung günstig. Es ist deshalb vergleichsweise leicht, sich als Coiffeur selbständig zu machen – etwas, was Syrer schätzen, sagt Fanar. Wegen des korrupten Regimes seien sie misstrauisch geworden und entsprechend lieber unabhängig. «Ausserdem sind wir es nicht gewohnt, uns in Gruppen zu organisieren. In Syrien war es verboten, Vereine zu gründen.»

Laut dem SEM arbeiten die meisten Syrer in der Branche «persönliche Dienstleistungen», wozu auch Coiffeursalons und Barber-Shops zählen. Die Erwerbstätigkeit bei über 15-jährigen Syrern liegt bei etwa 42 Prozent. Abgesehen von diesen Zahlen kann der Bund relativ wenig Angaben machen. Das SEM verweist aber auf einen Bericht des deutschen Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB), der «weitestgehend auf die Schweiz übertragbar» sei. Gemäss diesem sind von den syrischen Flüchtlingen sieben Jahre nach dem Zuzug 73 Prozent der Männer erwerbstätig, bei den Frauen sind es 29 Prozent.

«Die Wirtschaft ist kaputt»

Vor eineinhalb Jahren ist Hasan Fanar für ein paar Tage in den Irak gereist, um seine Mutter und seine Schwester zu besuchen, die dorthin geflüchtet seien. Er habe in jenen Tagen gemerkt, wie sich in ihm etwas verändert habe. «Ich dachte, wenn ich unter Kurden bin, werde ich Derek vermissen. Doch mir fehlte vor allem Romanshorn.»

Fanar hofft, dass Gerichte und vielleicht eine Demokratie entstehen. «Dafür müssen sich die Menschen in Syrien vergeben.» Er kennt zwei, drei Leute, die nach Syrien zurückkehren wollen. Selbst will er nur noch für Ferien nach Syrien reisen. «Die Wirtschaft ist kaputt. Ich müsste bei null anfangen. In der Schweiz dagegen habe ich mein Geschäft, hier sind meine beiden Kinder geboren.»

Auf seinem Instagram-Profil hat Fanar Bilder gepostet, wie er mit seiner Familie im Appenzellerland wandert. Fanar trägt North-Face-Jacke und Unterlippenbärtchen. Bald ist er zehn Jahre in der Schweiz. Er will sich einbürgern lassen.

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