Die deutsch-japanische Pianistin führte ein Künstlerleben auf der Überholspur, bevor sie die Schattenseiten des Musikbetriebs und ein Schicksalsschlag zum Innehalten brachten. Seither sucht Ott neue Wege abseits der Konventionen, auch mit ihrem jüngsten Album.
Wie viel Lebenserfahrung braucht es für eine tiefe Interpretation, wie viel Schmerz und wie viel Glück? Wer Antworten auf diese Frage sucht, kommt schnell ins Schlingern. Schliesslich gibt es sowohl das hochbegabte Wunderkind, das einen frühreif in den Bann zu ziehen vermag, wie auch den erfahrenen Interpreten, der seine Zuhörer allen Lebensjahren zum Trotz dennoch unberührt zurücklässt. Und doch: Es gibt Künstler, deren Spiel sich im Laufe der Jahre immer mehr verdichtet und bei denen zwischen den Tönen spürbar wird, dass sie eine innere, klingende Heimat gefunden haben.
Bei Alice Sara Ott ist das der Fall. Mit 36 Jahren hat die Pianistin ein Leben im High-Speed-Modus hinter sich. In den vergangenen Jahren rang sie intensiv mit sich und ihrer Kunst. Spult man zurück an den Anfang, landet man in München, wo Ott 1988 als Tochter einer japanischen Klavierlehrerin und eines Deutschen auf die Welt kam. «Ich wollte schon als kleines Kind unbedingt ans Klavier», erzählt Ott, und als sie mit drei Jahren das erste Mal im Konzert war, gab es kein Halten mehr. Mit vier begann sie mit dem Unterricht, bald gewann sie verschiedene Wettbewerbe, mit 15 Jahren erhielt sie den 1. Preis beim Internationalen Klavierwettbewerb Silvio Bengalli.
Es war der Startschuss für eine rasant Fahrt aufnehmende Karriere mit internationalen Auftritten, ständigen Reisen und Interviews. Erst einmal sei das «total spannend gewesen», sagt Ott. Doch bald geriet sie in die Räder der Marketing-Maschinerie. «Wenn ich daran zurückdenke, war das völlig verrückt. Ich war gerade 19 und hatte überhaupt keine Ahnung vom Leben und von der Welt. Und dann sitzt man da, bekommt alle möglichen Fragen gestellt, und es wird erwartet, dass man dazu tatsächlich etwas Vernünftiges sagen kann.»
Aus der Bahn geworfen
Hinzu kam der Erwartungsdruck auf der Bühne. «Wenn ich bei Konzerten einen Fehler gemacht habe, habe ich das kaum ausgehalten», sagt Ott. Denn wenn etwas passiere, dann passiere das immer im Rampenlicht vor Hunderten von Menschen. «Das kann ein wirklich brutales Business sein», sagt Ott, und irgendwann sei die Blase dieses Lebens unter Hochdruck geplatzt. Was folgte, war eine existenzielle Krise: «Ich habe damals alles infrage gestellt. Ich hatte keinerlei Richtung mehr für mich und wusste überhaupt nicht, wo ich mich eigentlich sehe und was ich zu sagen habe.»
Auch jenseits der Bühne erlebt Ott eine schwere Erschütterung. Eines Tages fühlt sich ihr halber Körper taub an, bald wird Multiple Sklerose diagnostiziert. Für die Pianistin ein Schock: «Natürlich hatte ich erst einmal Angst. Ich wusste damals kaum etwas über MS, man denkt da ja gleich an Rollstuhl und an das Schicksal der Cellistin Jacqueline du Pré und anderer.» Fast sieben Jahre sind seitdem vergangen. Ott verwendet mittlerweile lieber den englischen Begriff der «condition» als jenen der Krankheit, wenn sie über die Autoimmunerkrankung spricht. Diese sei zwar noch nicht heilbar, aber in ihrem Fall gut therapierbar. Derzeit führe sie zu keinerlei Einschränkungen bei der Feinmotorik ihrer Finger und Hände.
«Ich kann damit im Moment sehr gut leben», sagt Ott, die bei aller Schwere des Themas eine heitere Leichtigkeit ausstrahlt. Ein derart extremes Erlebnis führe einem aber die eigene Verletzlichkeit stark vor Augen. Gleichzeitig habe sie durch die Diagnose noch mehr verstanden, «dass es gewisse Prioritäten gibt». In welche Projekte möchte ich meine Energie stecken? Was bedeutet es, eine Künstlerin im 21. Jahrhundert zu sein? Und wie können auch Menschen für die klassische Musik gewonnen werden, die bislang kaum mit ihr in Berührung gekommen sind? Diese Fragen beschäftigen Ott seitdem sehr, und sie hat begonnen, für sich auch scheinbare Gewissheiten infrage zu stellen, etwa die Etikette im Konzertsaal oder die angebliche Exklusivität der Klassik.
«Ich bin mit so vielen Regeln aufgewachsen», sagt Ott. «Da hiess es, ein Konzert hat zwei Hälften, man ordnet die Stücke des Programms chronologisch, man kleidet sich formell. Ich hatte das total verinnerlicht.» Heute denkt die Musikerin anders über Programmkonzepte nach und entfernt sich immer mehr von der starren Tradition. Wohlgemerkt nicht, was die Musik selbst anbelangt – da sucht sie mehr denn je nach der Essenz. Die Rahmenbedingungen aber bestimmt Ott heute selbst, etwa die Häufigkeit ihrer Auftritte, die Konzepte ihrer Alben und die Präsentation im Konzert.
Im Schatten von Chopin
«In der Phase, in der ich mich jetzt befinde als Künstlerin und als Mensch, bin ich angekommen. Ich weiss, was ich mache und wie und warum ich ein Programm so gestalte und nicht anders», sagt sie. Das gilt auch für ihr jüngstes Projekt, ein Album mit sämtlichen Nocturnes von John Field. Obwohl der Ire als der eigentliche Schöpfer dieser romantischen Gattung gilt, die dann zentral für das Schaffen Frédéric Chopins wurde, sind die Stücke selbst weitgehend vergessen.
Ott ist zufällig darauf gestossen. Es war während eines Lockdowns in der Corona-Pandemie, sie suchte damals auf Streaming-Plattformen nach dem Begriff «Nocturnes». Als sie jene von Field hörte, war sie überrascht: «Die meisten davon kamen mir seltsam vertraut vor, obwohl ich sie nicht kannte, und ich musste sofort lächeln bei dieser Musik.» Die folgenden Monate hörte sie die Stücke quasi in Dauerschleife und begann zu recherchieren. «Wenn ich Fields Stücke aufführe, ist es fast so, als würde ich ein zeitgenössisches Werk zum ersten Mal spielen – auch für die meisten Zuhörer sind die Werke bis dahin vollkommen unbekannt.»
Dabei sei der Zeitgenosse Beethovens historisch wichtig und einst europaweit bekannt gewesen. «Field hat die Musikgeschichte wirklich verändert. Er hat das Genre des Nocturnes für die Nachwelt geprägt und viele inspiriert.» Seine eigenen Nocturnes seien pianistische Charakterstücke, die meist vergleichsweise schlicht beginnen, um dann mit rhythmischen und harmonischen Wendungen, kunstvoller Ornamentik und vielen spielerischen Elementen zu überraschen. «Das Nocturne Nr. 9 erinnert zum Beispiel an Beethovens ‹Mondscheinsonate›, Nr. 12 ist in Form eines Rondos komponiert, Nr. 16 klingt wie eine kleine Oper, und in Nr. 17 finden sich barocke Anklänge», sagt Ott.
Sie gestaltet diese Vielfalt mit spielerischem Gestus, ausgesprochen feinsinnig und mit zartem Humor, bei dem aber auch ein Hauch Wehmut mitschwingt. «Die Musik hat etwas sehr Rührendes, Tiefsinniges, ohne einen gleich in die Depression zu stürzen», sagt Ott. Oft würden die Stücke einem flüchtigen Traum gleichen, bei dem ein trauriger Moment nur kurz erscheine, um sich dann wieder aufzulösen. «Tragik im Vorbeigehen», nennt Ott dieses Phänomen. Sie durchdringt es meisterhaft.
John Field: Sämtliche Nocturnes. Alice Sara Ott (Klavier). Auf CD, Vinyl und im Streaming, Deutsche Grammophon.