Sonntag, November 24

Imago

Mit ihrer Performance-Art hat Marina Abramovic die Kunst revolutioniert und ist zu einer Ikone geworden. Ein Gespräch über das Leben und den Tod. Inklusive Anweisungen für die Beerdigung.

Frau Abramovic, kennen Sie Zürich?

Ja, ich war schon oft dort. Ich liebe Zürich, es ist magisch. Viele interessante Orte, kleine Geschäfte, geheime Gesellschaften und viele Bücher. Es ist für mich wie ein Ausflug ins Wunderland. Genf mag ich nicht.

Was ist das Problem mit Genf?

Zu viele alte Leute.

Das ist ein Schweizer Thema im Allgemeinen.

Zürich ist lebendiger; Genf fühlt sich an wie Ruhestand.

Sie haben einmal gesagt, um über Ihre Arbeit zu sprechen, müsse man über Ihr Leben sprechen. Beginnen wir dort, wo alles begann, in Belgrad, Jugoslawien. Wie war Ihre Kindheit?

Die Kindheit ist wichtig, vor allem für eine Künstlerin. In dieser Zeit entwickelt sich der Charakter, alle Eindrücke und Inspirationen von damals bilden den Kontext für meine Arbeit. Ich hatte auf der einen Seite eine tiefreligiöse Grossmutter und auf der anderen Seite Eltern, die Kommunisten waren. Später in meinem Leben wurde ich tibetische Buddhistin. Es ist also ein ziemliches Chaos.

Haben Sie als Kind einen Konflikt zwischen dem Kommunismus Ihrer Eltern und der Religion Ihrer Grossmutter gesehen, oder war diese Konstellation für Sie ganz natürlich?

Es war natürlich, aber gleichzeitig wusste ich, dass es ein Geheimnis war, als meine Grossmutter mich in einer Kirche taufte. Ich wusste, dass meine Eltern ein grosses Problem damit hatten, weil es völlig gegen ihre Überzeugungen war. Aber ich war neugierig auf all das und sah es nicht als Konflikt. Ich habe einfach alles angenommen.

Wie fühlen Sie sich jetzt, wenn Sie in einer serbisch-orthodoxen Kirche sind?

Ich war lange nicht mehr dort. Aber vor fünf Jahren, als ich die Retrospektive in Belgrad hatte, ging ich in die Kirche meiner Grossmutter, die ich als Kind oft besucht hatte. Die Kirche sah genau so aus wie damals, als ich sie verliess. Ich sass lange dort und fühlte mich wie zu Hause. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Kind zugesehen hatte, wie die Menschen ihre Hände in ein Becken mit Wasser tauchten und sich bekreuzigten. Ich dachte damals: Wenn ich dieses Wasser trinke, werde ich heilig. Also tat ich es, mit dem Ergebnis, dass ich schrecklich krank wurde. – Und dann zündete ich in der Kirche eine grosse Kerze für meine Grossmutter an, wie sie das auch immer getan hat.

In Ihrem Buch «A Visual Biography» schreiben Sie, dass Sie in der Schule «Giraffe» genannt wurden, eine dicke Brille und orthopädische Schuhe trugen. Waren Sie eine Aussenseiterin?

Ja, und ich fühlte mich unglaublich hässlich. Alles war unproportional. Ich hatte diese grosse Nase im Kindergesicht, und ich wuchs mit der falschen Kleidung auf, weil meine Mutter mir nie die richtige gab. Selbst mit der Brille sah ich schlecht. Ich hasste es, sie zu tragen, weil ich nicht einmal die Tafel deutlich sehen konnte. Ich fühlte mich elend und wie ein schwarzes Schaf. Und ich passte nirgendwohin, weil ich immer Bücher las und Gedichte schrieb. Ich war introvertiert und unglaublich schüchtern. Manchmal kann ich kaum glauben, wie schüchtern ich war. Erst kürzlich habe ich meine Performance «Seven Minutes of Silence» gemacht, die weltweit eine Milliarde Zuschauer erreichte. Das ist enorm. Als ich als Performancekünstlerin angefangen habe, war es für mich schon schwierig, mit zehn Leuten umzugehen. Ich bin aus meiner Introvertiertheit völlig herausgewachsen.

Hat Sie die Kunst zu einem extrovertierten Menschen gemacht?

Ja, die Kunst hat alles verändert. Das habe ich von Anfang an gemerkt. Wenn ich auftrat, war ich nicht mehr ich selbst – dieses schüchterne, introvertierte, hässliche Ich. Ich war jemand, der den Inhalt, die Arbeit und die Botschaft präsentierte.

Sie haben Ihr Leben und Ihre Arbeit bis ins letzte Detail in Fotos und Filmen dokumentiert. Gibt es Aspekte, die nicht dokumentiert sind?

Nein. Ich dokumentiere alles, und es gibt keine Geheimnisse. Das ist wichtig: Ich sage immer alles, und ich sage die Wahrheit.

Warum ist es wichtig, keine Geheimnisse zu haben? Brauchen Sie keine Privatsphäre?

Das ist eine sehr schweizerische Einstellung. Ihr liebt eure Geheimnisse, euer ganzes Leben lang. Inklusive des Bankgeheimnisses.

Absolut. Deshalb interessiert mich das.

Ich denke ganz anders. Wenn man Geheimnisse teilt, ist das für andere Menschen inspirierend, weil sie auch ihre Geheimnisse und Lasten haben. Wenn man seine Geheimnisse teilt, kann man auf einer tieferen Ebene mit der Öffentlichkeit in Kontakt treten, weil man den Menschen gegenüber Verletzlichkeit zeigt. Deshalb ist meine Arbeit so emotional, und deshalb gefällt sie jungen Menschen so gut. Meine eigene Generation ist voller Bullshit und Geheimnisse. Oft bringen Kinder ihre Eltern zu meinen Shows mit. Das beste Leben hat man, wenn man sich total öffnet. Dann fühlt man sich gut, man hat keine Geheimnisse. Es gibt nichts zu entdecken, weil man alles selbst preisgegeben hat. Man fühlt sich ganz leicht und befreit. Das ist Glück.

Fühlen Sie sich jetzt so?

Ja, ich bin jetzt glücklicher als je zuvor in meinem Leben. Als ich ein Kind war, gab es so viel Leid. Ausserdem habe ich 55 Jahre gebraucht, um die Performancekunst zu etablieren, die zuvor Neuland war. Ich habe nie aufgegeben. 55 Jahre sind eine lange Zeit, um nicht aufzugeben.

Sie haben einmal gesagt, Sie kämen aus einem Land, in dem nie etwas funktioniert habe: «Alles war unmöglich, aber wir haben immer einen Weg gefunden. Das Unmögliche war immer möglich. Diese Einstellung habe ich immer noch.» – Das klingt grossartig, warum haben Sie Jugoslawien verlassen?

Jugoslawien war perfekt für den Anfang. Ich wollte aber eine Situation schaffen, in der meine Botschaft weiterverbreitet werden kann. Der Planet wurde zu meinem Atelier. Ich interessierte mich für jeden einzelnen Ort auf dieser Welt. Ich habe fast alles gesehen; ich wurde zu einem modernen Nomaden. Mir wurde klar, dass die Erde nicht so gross ist, wie ich dachte. Eigentlich löst sie fast Klaustrophobie aus.

So erleben Sie die Welt: als ein bisschen zu klein?

Genau. Wenn man versteht, dass der Planet dein Atelier ist, dann hat man unbegrenzte Möglichkeiten. Mein Land war zu klein. Ich blieb dort, bis ich neunundzwanzig war. Das war genug.

Möchten Sie einen anderen Planeten sehen?

Ich bat Richard Branson, mir ein One-Way-Ticket zu geben, um in die Luft zu steigen und nicht zurückzukommen. Aber er lehnte ab. Schon als Kind interessierte ich mich nicht nur für das Universum, sondern auch für das, was darüber hinausgeht. Was auch immer ich im Leben oder bei der Arbeit tue, ich versuche, das grosse Ganze zu sehen. Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, sagt, es gebe zwei Möglichkeiten, mit einem Problem umzugehen. Wenn man ein Problem hat und es lösen kann, ist es kein Problem. Wenn man ein Problem hat und es nicht lösen kann, ist es auch kein Problem mehr.

Sie haben früher auch gemalt. Wann wurde Ihnen klar, dass «Performance» Ihr Medium ist?

Nach der Malerei interessierte ich mich für Klang, weil er so immateriell ist. Und dann begann ich, Rhythmus zu malen und mit Messern zu arbeiten. In dem Moment, als ich die erste Performance machte, war es, als würde Elektrizität durch meinen ganzen Körper fliessen. Meine Beziehung zum Publikum war so intensiv, dass ich wusste, dass ich nie wieder in die Abgeschiedenheit des Ateliers zurückkehren kann.

In Ihrer Performance «Rhythm 0» von 1974 haben Sie sich sechs Stunden lang dem Publikum zur Verfügung gestellt. Verschiedene Instrumente lagen auf einem Tisch: ein Revolver, eine Peitsche, Ketten – und die Leute konnten mit Ihnen machen, was sie wollten. Ihre Kleidung wurde aufgeschnitten, man hat Ihnen mit Rosendornen in den Bauch gestochen. Was ging Ihnen damals durch den Kopf?

Ich war 23 Jahre alt und sehr wütend. Ich war wütend, weil meine Performance-Kunst in keiner Weise ernst genommen wurde. Ich wurde als masochistisch und narzisstisch kritisiert und als Produzentin von Pornokunst. Leute sagten, dass ich in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden müsse. Sie verstanden es nicht. Die Übungsanlage für die Performance «Rhythm 0» war dann: Was passiert, wenn ich nichts tue und sehe, was das Publikum mit mir macht? Das Publikum war masochistisch, nicht ich. Ich habe mich überhaupt nicht bewegt. In diesem Alter ist man bereit zu sterben, um seinen Standpunkt in der Kunst zu beweisen. Und ich war bereit zu sterben, aber ich starb nicht.

Hatten Sie während der Performance Angst?

Ich bin immer nervös im Vornherein. In dem Moment aber, in dem man performt, ändert sich alles: Man tritt in den Zustand eines höheren Selbst, und dieses höhere Selbst kennt keine Angst. Wenn man aus dem höheren Selbst zurückkehrt, kommt die Angst. Aber nicht in diesem Moment. Eine Performance ist ein besonderer Zustand, ein anderer Geisteszustand. Sich der Angst zu stellen, bedeutet, sich dem Schmerz auszusetzen.

Was passiert danach? Verliert die Angst ihre Macht, wenn man sie einmal überwunden hat?

Das war für mich unglaublich wichtig, um mich körperlich und geistig zu stärken. Letztes Jahr hatte ich nach einer Knieoperation eine Embolie und lag eine Weile im Koma. Ich wäre fast gestorben. Sechs Wochen lag ich auf der Intensivstation und konnte mich absolut nicht bewegen. Ich fühlte einen Schmerz, der übernatürlich war. Und wenn ich nicht meine Schmerzkontrolle, meine Atmung und mentale Stärke gehabt hätte, dann hätte ich nie überlebt. Mein Training war also nützlich.

In Ihren Performances haben Sie immer wieder den Schmerz und seine Überwindung gesucht. Warum?

Zunächst einmal besteht meine Arbeit aus verschiedenen Teilen. Am Anfang stand der Schmerz. Er ist etwas, wovor Menschen sich in ihrer gesamten Geschichte gefürchtet haben: Schmerz, Leid und Sterblichkeit. Diese drei Dinge sind in jeder Kunst zu finden. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ich, statt zu schreiben, zu malen oder zu modellieren, meinen eigenen Körper vor der Öffentlichkeit benutze. Ich zeige den Menschen, dass man sich von der Angst vor Schmerzen befreien kann. Und das ist die wichtige Botschaft: Wenn ich mich vom Schmerz befreien kann, dann kannst du das auch. Aber das war nur die erste Phase meiner Arbeit. Danach habe ich mich viel mehr für mentale Belastbarkeit interessiert. Das ist viel schwieriger, als körperliche Schmerzen und emotionale Verletzungen auszuhalten. Und jetzt mache ich Oper. Als Performerin erforsche ich alles, was ich nur erforschen kann.

Mögen Sie Schmerzen ein bisschen?

In meinem eigenen Leben mag ich keinen Schmerz. Aber es ist interessant, darüber nachzudenken, wie Menschen in indigenen Kulturen bei Initiationen die fürchterlichsten Schmerzen ertragen, um von einem Geisteszustand in einen anderen zu wechseln – und dann Schamanen oder etwas anderes werden. Der Schmerz ist wie eine Tür zu Geheimnissen. In dem Moment, in dem man sie öffnet, versteht man, dass man den Schmerz kontrollieren kann.

2010 führten Sie die Performance «The Artist Is Present» im Museum of Modern Art in New York auf: Sie sassen 90 Tage lang auf einem Stuhl, und mehr als 1500 Besucher setzten sich Ihnen gegenüber, um Sie anzuschauen und von Ihnen angeschaut zu werden. Sie haben einmal gesagt, Sie seien zum Spiegel des Selbst dieser Menschen geworden. Wie kann man sich in einen Spiegel verwandeln?

Wo haben Sie das gelesen? Ich habe es ganz anders ausgedrückt.

Sie würden nicht sagen, dass Sie eine Art Spiegel waren?

Nein. Es war nicht so, dass ich die Menschen beobachtet habe. Ich sagte zu dem Kurator, dass ich drei Monate lang anwesend sein würde, zehn Stunden am Tag. Er sagte zu mir: Sie sind verrückt, denn der Stuhl gegenüber wird immer leer sein, weil die Leute keine Zeit haben. Und ich sagte: Das ist mir egal, ich sitze trotzdem da. Für mich war es eine grosse Chance, diese Position einzunehmen, um der Welt die transformative Kraft der Performance zu zeigen. Und ich habe es wirklich bewiesen. Der Stuhl war nie leer, die Leute warteten und schliefen vor dem Museum. Sie warteten stundenlang, nur um sich vor mich zu setzen und dann diesen kathartischen Moment zu erleben, in dem sie weinen und sich selbst gegenüberstehen. Das war mein Punkt, nicht die Leute zu beobachten, sondern die transformative Kraft der Performance zu zeigen. Sogar die Museumswächter, sechsundachtzig an der Zahl, gingen nach Hause, zogen sich um und stellten sich in die Schlange, um sich zu mir zu setzen. Es war unglaublich. 850 000 Besucher kamen ins Museum. In der Performance geht es um Energie. Und Energie ist unsichtbar. Man kann sie nicht beschreiben, man muss sie erleben und fühlen.

Sie wurden mit dieser Performance populär.

Das ist ein Nebeneffekt, es ist nicht das verdammte Ziel. Ich habe das nicht gemacht, um populär zu sein.

Sie schreiben am Anfang Ihres Künstler-Manifests: «Ein Künstler sollte sich nicht zum Idol machen.»

Und das habe ich nie getan.

Wie passt Ihre Kunst zu diesem Anspruch?

Wenn die Leute mich zum Idol machen, ist das nicht mein Problem. Aber ich mache mich nicht selbst zum Idol.

Stört es Sie, dass Sie zum Idol geworden sind?

Sich dagegen zu wehren, ist dumm. Jetzt bin ich sichtbarer, und meine Stimme wird gehört. Haben Sie das Video zu «Seven Minutes» in Glastonbury gesehen?

Ja.

Das Video zeigt 275 000 Menschen bei einem Musikfestival, die sieben Minuten lang in völliger Stille verharrten. Ich habe es geschafft, dass die Menschen bei einem Festival, bei dem es normalerweise extrem laut ist, bei dem die Leute trinken und schreien, so lange still bleiben. Wenn die Leute mich zu ihrem Idol machen, kann ich diese Botschaft senden: Das ist in Ordnung. Aber ich bin für mich selbst nie ein Idol. Ich bin immer normal und werde mich nie ändern. Mein Erfolg kam erst, als ich sechzig war. Sonst wäre ich wahrscheinlich schon tot, gestorben an einer Überdosis Popularität oder so. Ich sehe also, wie die Dinge kommen und gehen. Woody Allen sagte: «Heute bin ich ein Star, morgen bin ich ein schwarzes Loch.» Popularität ist eine relative Sache. Sie stört mich nicht, sie verändert mich nicht.

Warum hatten Sie das Bedürfnis, ein Manifest zu schreiben?

Die Dadaisten, die Futuristen, die Surrealisten, all diese Künstler haben Manifeste verfasst. Ich bin Künstlerin. Ich hatte das Bedürfnis, ein Manifest zu verfassen. Das ist ganz natürlich.

Feinde seien sehr wichtig, schreiben Sie in Ihrem Manifest. Wer sind Ihre Feinde?

Es ist leicht, seine Freunde zu vergessen, viel schwieriger ist es, seine Feinde zu vergessen. Es geht um Vergebung. Meine Feinde sind all die Leute, die wirklich denken, dass meine Arbeit Bullshit ist, nichts und ohne Bedeutung. Meine Feinde sind Leute, die denken, dass ich neuerdings Satanistin bin, dass ich Kinderblut trinke. Es gibt diese verrückten Theorien über mich. Es gibt all diese negativen Dinge, es ist nicht alles positiv, mein Lieber. Jede positive Kritik bringt Hunderte von negativen Kritiken mit sich.

Sie schreiben in Ihrem Manifest auch, eine Künstlerin solle es vermeiden, sich in einen Künstler zu verlieben. Ihre Zeit mit Ihrem Freund Ulay war künstlerisch doch sehr produktiv.

Das stimmt. Aber ich habe mich dreimal in einen jungen Künstler verliebt. Ich habe dreimal denselben Fehler gemacht. Besser ohne.

Bei Ihrer Performance «The Artist Is Present» in New York sass Ihnen eines Tages Ihr Ex-Freund Ulay gegenüber. Sie haben geweint. Erinnern Sie sich daran, was Ihnen durch den Kopf ging?

Ich hatte ihn mit seiner neuen Freundin als Ehrengast eingeladen. Aber ich wusste nicht, dass er sich mir gegenüber auf den Stuhl setzen würde, das war unerwartet. Ich teilte mit ihm meine Arbeit und meine starken Emotionen. In jenem Moment musste ich weinen. Es ist einfach passiert, weil es echte Emotionen waren, da gibt es nichts zu lügen. Ich habe sogar meine Regeln für die Performance gebrochen und mich bewegt. Ich habe seine Hände berührt. In diesem Moment stand die Welt still. Ich bin froh, dass wir diesen Moment hatten, denn jetzt ist er tot. Vor zwei Jahren ist er gestorben.

Haben Sie Ihre Regel aktiv gebrochen, oder ist es einfach passiert?

Ich denke nicht wie ein Schweizer, so rational. Dieser Moment kam aus dem Herzen. Manchmal reagiert man, bevor man nachdenkt. Ich handle meistens, bevor ich nachdenke. Sie denken zuerst.

Vielleicht.

Mir ist dieses Berechnende fremd. Welches Sternzeichen sind Sie?

Stier.

Okay, das ist sehr erdverbunden, beherrscht, sehr standfest.

Welches Sternzeichen sind Sie?

Ich bin Schütze, halb Mensch, halb Pferd, immer mit Pfeil und Bogen unterwegs, immer abenteuerlustig und risikofreudig. Ich habe vor nicht allzu vielen Dingen Angst. Ich gehe gerne Risiken ein und erkunde Gegenden, in denen ich noch nie zuvor war.

Haben Sie viel über Astrologie gelesen?

Ich lese über alles. Ich beschäftige mich mit Numerologie, Astrologie und Anthropologie. Nehmen wir zum Beispiel den Vollmond. Der menschliche Körper besteht zu 70 Prozent aus Wasser, und unser Planet besteht zu 70 Prozent aus Wasser. Der Vollmond kann durch die Gezeiten den Ozean bewegen. Bei Vollmond ist die emotionale Energie hoch, weil sich das gesamte Wasser im Körper bewegt. Deshalb plane ich meine Auftritte immer kurz vor einem Vollmond oder am Vollmondtag. So nutze ich bereits vorhandene Energie, um besser zu werden.

Wie sieht Ihr Alltag aus?

Das kommt ganz darauf an. Im Moment ist mein Leben unglaublich hektisch. Ich mache eine grosse Show in Schanghai. Dann geht es direkt von China in die Schweiz. Ich muss gerade Unmengen von Fotoshootings und Zoom-Gesprächen machen. Wenn ich auf dem Land bin, schwimme ich morgens als Erstes. Ich trinke Tee, ich liebe Tee am Morgen. Dann schaue ich mir die Nachrichten aus aller Welt an. Schliesslich arbeite ich, ich arbeite wie verrückt. Ich bin bis 2028 komplett ausgebucht mit Shows und Arbeiten.

Fehlt Ihnen nicht die Unabhängigkeit?

Ich stelle meine Situation nicht infrage, das ist meine Pflicht. Das ist mein kommunistischer Teil: Man ist hier, um zu liefern, nicht um sich zu amüsieren.

Also hassen Sie wahrscheinlich das Gefühl, Zeit zu verschwenden.

Ja, aber es kommt darauf an, wie man Zeit verschwendet. Wenn man in der Wüste ist und einfach nur da ist und die Wüste betrachtet, verschwendet man keine Zeit. Aber Pubs oder Nachtklubs sind eine Verschwendung. Ich trinke nicht. Ich habe in meinem Leben nie getrunken. Ich bin nie auf Partys gegangen. Ich bevorzuge ein tiefes Gespräch mit einem speziellen Menschen.

Als Sie jünger waren, haben Sie auch keinen Alkohol getrunken?

Nein, nie. Auf vielen Fotos halte ich eine Zigarette, weil das damals sehr cool war. Aber ich habe nie inhaliert.

Warum leben Sie so gesund?

Ich mag den Geschmack von Alkohol nicht, das war schon immer so. Ich mag Schokolade, ich mag Joghurt, Schafjoghurt. Wie sehe ich für Sie aus? Sehe ich ungesund aus? Ich bin siebenundsiebzig. Ich fühle mich ziemlich gut.

Ich bin nur überrascht, weil ich das Klischee habe, dass Künstler in Jugoslawien viel getrunken und geraucht haben.

Ihr Klischee ist völlig richtig. Jeder Mensch in Jugoslawien trinkt wie verrückt, das ist wahr. Aber ich hatte auch meine strenge Mutter: Ich durfte nach zehn Uhr abends auf keine Party mehr gehen. Also war ich meistens zu Hause.

Sie haben mit vierundzwanzig geheiratet und lebten immer noch bei Ihrer Mutter. Wie kam es dazu?

Mein Mann lebte mit seinem Vater und seiner Mutter in einem Zimmer. Und meine Mutter hat es nie erlaubt, dass er zu uns kommt. Also mussten wir uns im Park oder im Kino lieben. Wir haben nie zusammen gelebt. Ich habe nur geheiratet, um ein bisschen mehr Freiheit zu haben. Aber meine Mutter hat die Regel, dass ich um 22 Uhr zu Hause sein musste, nie geändert.

Warum haben Sie sich entschieden, keine traditionelle Familie zu haben?

Weil ich mehr als alles andere Künstlerin sein möchte. Louise Bourgeois konnte ihre Karriere erst nach dem Tod ihres Mannes und dem Erwachsenwerden ihrer Kinder fortsetzen – mit über sechzig. Das ist eine Tatsache für Frauen: Sie werden in der Kunst schlechter bezahlt als Männer und bekommen weniger Ausstellungen. Wenn man wirklich etwas bewirken und relevant sein will, muss man seine ganze Energie in eine Sache stecken: Das ist bei mir die Kunst. Mit Kindern muss man seine Energie aufteilen.

Klaus Biesenbach, Ihr Kurator und ehemaliger Partner, sagte einmal über Sie, Sie seien nie nicht am Performen. Stimmen Sie zu?

Das ist Blödsinn. Gerade performe ich gar nicht. Wir unterhalten uns. Und wenn wir uns unterhalten, bin ich zu hundert Prozent bei Ihnen.

Aber wenn Sie performen, sind Sie auch zu hundert Prozent da. Was ist der Unterschied?

Das ist ein grosser Unterschied. Wenn ich nicht performe, bin ich einfach ich selbst. Wenn ich performe, hole ich das Beste aus mir heraus – jedes einzelne Energiemolekül konzentriere ich auf die Aufgabe. Und die Aufgabe ist für mich immer eine extrem hohe Messlatte. Ich mache etwas, was andere Menschen nicht können, weil es schwierig ist. Im echten Leben muss ich das nicht tun. Wenn ich mir beim Knoblauchschneiden in der Küche in den Finger schneide, weine ich, weil ich das nicht mag. Aber wenn ich das auf der Bühne mache, spüre ich den Schmerz nicht.

Sie färben Ihre Haare und sagen, in dem Moment, in dem eine Frau aus Osteuropa aufhöre, ihre Haare zu färben, habe sie sich aufgegeben.

Ja. Ich habe meine Haare gefärbt und schneide sie nie.

Sie schneiden sie nie?

Nein, schauen Sie mal, wie lang sie sind.

Warum schneiden Sie sie nicht?

Weil Haare Macht sind. Es gab eine wissenschaftliche Untersuchung in Amerika: Im US-Militär gab es zwei Indian Guys, beide Fährtensucher mit langen Haaren. Sie hatten diesen sechsten Sinn, um Dinge in der Natur aufzuspüren – Tiere und Menschen. Als sie einem der beiden die Haare geschnitten hatten, verlor er seine Fähigkeit sofort. Also glaube ich an diese Kraft.

Manche Leute sagen, lange Haare zögen einen runter.

Nein. Es ist eine lebendige Kraft. Es ist wie ein Fluss, wunderschön. Und dann mag ich keine grauen Haare. Ich bekam mein erstes graues Haar, als ich dreiundzwanzig war, also habe ich sie gefärbt. Warum sollte ich graue Haare haben? Ich mag diese beschissen aussehenden grauen Haare nicht.

Macht Ihnen der Gedanke Angst, nicht mehr am Leben zu sein?

Ich fühle mich wie alle anderen. Wir alle sterben, mein Lieber. Du stirbst, ich sterbe. Wir wissen nur nicht, wann. Deshalb möchte ich einfach so viel Zeit wie möglich für meine Arbeit haben, ich habe noch so viele Ideen. Meine Grossmutter wurde 103 Jahre alt, und eine Urgrossmutter wurde 105. Ich würde auch gerne so alt werden. Mich interessiert nur, wie viel Zeit ich habe. Den Tod kann man nicht kontrollieren.

In Ihrem Manifest schreiben Sie auch, dass ein Künstler vor der Beerdigung Anweisungen geben solle, damit alles so gemacht werde, wie er es wolle. Haben Sie das schon getan?

Alles ist geregelt, mit dem Anwalt, ja. Ich will drei Beerdigungen: drei Zeremonien mit drei verschiedenen Marinas, und niemand weiss, wo die Echte ist. Die Feiern werden an den drei Orten stattfinden, an denen ich länger gelebt habe: Belgrad, Amsterdam und New York. Es wird grosse Partys geben, niemand wird Schwarz tragen. Ich hatte ein gutes Leben. Ich möchte einen guten Tod haben.

Wann haben Sie sich dazu entschlossen?

Nach der Beerdigung von Susan Sontag. Sie war in den letzten fünf Jahren ihres Lebens meine Freundin. Als sie gestorben war, beerdigte sie ihr Sohn fast anonym. Es waren nur fünfzehn Leute da, so traurig. Und dabei war sie grösser als das Leben. Ich fand, dass ich meine Beerdigung nicht so haben wollte, ich möchte eine Feier haben. Ich kam nach Hause und flog nach New York, ging zu meinem Anwalt und äusserte meinen Wunsch. Ich glaube an Energie. Ich glaube nicht, dass man als jemand anderes weiterexistiert, aber ich denke, dass die Energie nicht zerstört werden kann. Wenn man stirbt, hat man normalerweise 21 Gramm weniger Körpergewicht. Diese 21 Gramm sind die Energie, die den Körper verlässt. Der Körper ist sterblich, die Energie nicht. Warum lächeln Sie?

Weil dies ein gutes Schlusswort wäre.

Was möchten Sie noch wissen?

Es ist eher eine praktische Frage. Leben Sie in New York?

Ich habe ein Haus hier in New York und im Hinterland ein grosses Stück Land, auf dem sich mein Atelier befindet. Ich pendle also zwischen New York und dort. Aber abgesehen davon führe ich immer noch ein Nomadenleben.

Was halten Sie vom Wahlkampf in den Vereinigten Staaten?

Ich finde es wirklich toll, dass die Demokraten jetzt aufwachen. Es war ein grossartiger Moment, als Joe Biden abtrat. Ich hoffe, dass Trump niemals gewinnen wird. Trump ist das Schlimmste, was man haben kann, aber so viele Menschen sind für ihn, weil er ihre Sprache spricht. Er spricht die Sprache der Amerikaner, die nur fernsehen, die keine Bücher lesen, die nie reisen.

Haben Sie Freunde, die Trump unterstützen?

Ich habe keine. Aber auf dem Land, wo ich lebe, habe ich Nachbarn, bei denen man das Trump-Zeugs sieht. Ich spreche nicht mit ihnen.

Wenn ein guter Freund von Ihnen sagen würde, dass er Trump unterstütze, wäre das ein Problem für Sie?

Es wäre ein Problem. Es ist nur so, dass in New York niemand Trump unterstützt. Seine Sprache ist so vulgär. Und dann diese ganze Sache mit seinem Anschlag, wie er vorgibt, ein Märtyrer zu sein, ein Held mit der amerikanischen Flagge und der Faust. Er ist wie Hitler, sorry.

Und wenn ich Sie jetzt als Performancekünstlerin frage: Ist Trump nicht wenigstens eine grossartige Show?

Nein, das ist er nicht, denn diese Art der Inszenierung kann man überall sehen: im Faschismus, im Kommunismus, es ist nichts Besonderes. Wir sprechen über die gleichen Dinge; die Geschichte wiederholt sich. Die Paraden sind die gleichen, die performativen Elemente, der ganze Scheiss ist der gleiche, nur der Protagonist ändert sich. Deshalb habe ich «Seven Minutes of Silence» umgesetzt. Die Menschen müssen nachdenken. Wenn du dich selbst änderst, kannst du die Welt verändern.

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