Dienstag, November 26

Warum fühlen sich Ostdeutsche so sehr verbunden mit ihrer Herkunft? Der Modedesigner Wolfgang Joop, das Model Franziska Knuppe, der Regisseur Andreas Dresen und die Schriftstellerin Julia Schoch sprechen über ihr Verhältnis zum Osten.

Potsdam, Anfang September. Entlang der Strassen in Brandenburgs Hauptstadt werben die Parteien um die Gunst der Wähler, die am 22. September einen neuen Landtag wählen.

«Brandenburg braucht Grösse», empfiehlt sich Ministerpräsident Dietmar Woidke. Überlebensgross wirbt der SPD-Politiker vor rotem Hintergrund für seine Wiederwahl. Die SPD regiert das ostdeutsche Bundesland seit der Wende 1990.

Die AfD zieht Kraft aus der Verachtung der anderen und setzt auf ihr verspraytes Plakat den Slogan: «Plakate kann man zerstören. Unseren Willen nicht.» Sahra Wagenknecht fragt kurz und bündig: «Krieg oder Frieden? Sie haben jetzt die Wahl.»

Gerade wurde in den beiden ostdeutschen Ländern Thüringen und Sachsen gewählt, aber Potsdam wirkt kaum erschüttert angesichts der Vorboten, die man im Ausgang der Wahlen sehen kann. Warum sollte es? Es ist bloss eingetroffen, was die Prognosen versprachen. In Thüringen gewinnt die AfD. In Sachsen liegt die rechtspopulistische Partei nur knapp hinter der CDU. Auch die neue Partei von Sahra Wagenknecht feiert aus dem Stand einen Erfolg. Die etablierten Parteien verlieren.

In Brandenburg ist die AfD in Umfragen ebenfalls stärkste Kraft, jeder Vierte gibt an, AfD wählen zu wollen. Allerdings liegt die SPD dicht hinter ihr, so dass die linke «TAZ» am Tag danach hoffnungsgläubig titelt: «Brandenburg kann es besser».

Viel wurde in den vergangenen Wochen analysiert und erklärt, was die Ostdeutschen so einnehme für die Rechten. Wie sie die Diktatur-Erfahrung geprägt habe und wie viel Projektion des Westens sei. Muss man die DDR erlebt haben, um die Menschen in den ostdeutschen Ländern zu verstehen? So sagen sie es selbst. Also geht man zu denen, die schon immer hier waren und diese Fragen persönlich für sich selbst, jeder für sich, beantworten können: der Designer, das Model, der Regisseur und die Schriftstellerin.

«Ich bin in der Vergangenheit klebengeblieben»

Wolfgang Joop sitzt im Garten seines Anwesens in Bornstedt, einem Ortsteil von Potsdam, und sagt: «Ich war ein DDR-Junge.» Er sei nie losgekommen vom Osten. In Bornstedt wurde er 1944 geboren, 1954 zog er mit seinen Eltern nach Braunschweig. Als er international Karriere machte, kehrte er immer wieder zurück zu seinen Grosseltern und seiner Tante, die einen Bauernhof bewirtschafteten. Um ein Visum zu erhalten, beriet er Staatsfirmen in der DDR und hielt Modevorträge. Den Bauernhof liess er später umbauen, um hier dauerhaft zu leben. Wenn er irgendwo auf der Welt gefragt wurde, woher er komme, habe er nicht Deutschland, sondern «aus der DDR» gesagt. Wo denn das sei?, fragten die Leute. Und ob er die Sprache noch spreche?

Joop äussert sich selten politisch, jetzt drängt es ihn dazu. Er spricht von einer «Denkzettelwahl»: Mit dem Zuspruch für die AfD drückten die Wähler ihre Unzufriedenheit mit der Regierung in Berlin aus. Die Leute hätten genug vom politischen Establishment. Es werde so viel geredet, man komme nicht draus, was bei der Ampelkoalition an der Tagesordnung sei, diese ändere sich ständig. Die Sprache von Olaf Scholz, Saskia Esken oder Lars Klingbeil sei «ein eingeübtes kryptisches Gerede der SPD mit den ewigen Versprechen, den Wählern besser zuzuhören. Statt Lösungen anzubieten und den Worten Taten folgen zu lassen, bleibt es beim Ankündigen und floskelhaften Herausreden.»

Dies zeige sich in der Migrationspolitik. Innenministerin Nancy Faeser habe davon gesprochen, das Bleiberecht von Asylsuchenden «anlassbezogen» zu prüfen. «Was heisst das konkret?», fragt Joop. «Was ist mit ‹Anlass› gemeint? Eine Hochzeit? Weihnachten?» Solche Wortschöpfungen und «emotionale Verdrehungen» seien nur peinlich und unaufrichtig. Sogar Angela Merkel sei rhetorisch besser gewesen, obwohl auch für ihren eingängigen Satz «Wir schaffen das» die Konzepte gefehlt hätten und «das pastorale Hoffnung-Geben» von der Realität eingeholt worden sei.

Es gehe um die Art der Ansprache, um eine deutliche Kommunikation, sagt Joop. Die AfD habe das erkannt. «Was sie sagen, ist kalkuliert, aber klar und kraftvoll, und es ist gemeint.» So drücke man Führungswillen aus. Man möge dies populistisch nennen, Tatsache sei: Die Leute fühlten sich an der Hand genommen.

Aber warum kommt das gerade bei den Menschen in Ostdeutschland so gut an?

Joop liegt es fern, das Leben in der DDR zu verklären. Zu sehr hat auch seine Familie unter dem Stasi-Regime gelitten. Enteignung des Hofs, Zwangsarbeit, Bespitzelung. Viele AfD-Wähler sehnten sich wieder nach dem autoritären Vater. In der Diktatur sei einem das selbständige Denken abgenommen worden. Man fühlte sich vom System beschützt und umsorgt, gemeinschaftlich verbunden in der Illusion, dass im Sozialismus alle gleich behandelt würden. Wenn man sich fügte, hatte man seine Ruhe.

Dann kommt Joop auf Sahra Wagenknecht zu sprechen, die er einst «Jeanne d’Arc des Sozialismus» genannt hat. Die beiden haben sich immer gut verstanden. Auch Wagenknecht beherrsche eine Sprache, die die Dinge benenne und «von Herzen» komme, sagt er. Die Chefin des BSW sei sendungsbewusst, dabei konsequent wie kaum jemand. Er bewundere sie «für ihre Haltung, Kraft und Eleganz». Mit ihren geschneiderten Kostümen und der strengen Frisur erinnere sie an «eine rote Jackie Kennedy».

Was sagt er zu Wagenknechts Verständnis für Putin? Er empfinde das nicht so. Sie wolle nur, dass der Ukraine-Krieg beendet werde: «Dieses Grauen hört sonst nie auf.»

Noch etwas stellt er klar: Es besorge ihn, dass der Aufstieg der AfD im Osten «so alternativlos» scheine. Die Partei ist ihm zu ausgrenzend. Er denkt dabei auch an seinen syrischen Hausangestellten, der still in der Küche zugange ist und seine Heimat vermisse. Letztlich sei er, Joop, aber überzeugt: Jedem Trend folgt ein Gegentrend. Das gute Abschneiden der AfD werde widerständige Kräfte mobilisieren. Er selbst wird nicht mehr Grün wählen. Er gibt seine Stimme der Tierschutzpartei.

Während Wolfgang Joop über das Heute spricht, geht er weit zurück in seinen Erzählungen. «Mit dem Herzen bin ich in der Vergangenheit klebengeblieben», sagt er. Sie hätten «diese unverbrauchte Hoffnung gehabt, dass etwas Besseres kommt», damals kurz vor dem Mauerfall und danach.

Potsdam und seine preussische Pracht

Nur ein paar hundert Meter von Joops Anwesen entfernt befindet sich das Schloss Sanssouci, das Friedrich der Grosse Mitte des 18. Jahrhunderts erbauen liess. Im weitläufigen Park hört man Chinesisch, Französisch und Spanisch. Potsdam, die Stadt am Fluss Havel, ist berühmt für seine Schlösser und Gärten. Touristen flanieren durch das aufgeräumte Holländische Viertel, besuchen das Filmstudio Babelsberg oder das Museum Barberini.

Die Stadt zählt fast 190 000 Einwohner und wächst weiter. Wegen der geografischen Nähe wird Potsdam auch die kleine Schwester Berlins genannt. In den letzten Jahren sind viele Leute nach Potsdam gezogen, denen es in Berlin zu laut, zu eng, zu dreckig, zu dysfunktional wurde.

Dabei ist Potsdam nicht gleichzusetzen mit Brandenburg. Die ostdeutsche Provinz ist von Abwanderung betroffen, zurück bleiben vor allem Männer. Kaum je verirrt sich ein Fremder in die Dörfer. Das fördere den Rechtspopulismus, heisst es. Dennoch treiben in Potsdam viele Leute dieselben Themen um wie die sozial Abgehängten. Die Zuwanderung, die Ukraine-Hilfe. Seit dem Treffen von Rechtsextremen, die hier in einer Villa angeblich über die Deportation von Migranten gesprochen hätten, steht auch Potsdam unter Verdacht.

«Man merkt, wer aus dem Osten kommt»

Man trifft das Model Franziska Knuppe am Mittag beim Italiener am Luisenplatz, wo ein Brandenburger Tor steht wie in Berlin und Lastenvelos durchfahren. Knuppe, 49, ist in Potsdam aufgewachsen und wohnt bis heute hier. Sie wird für Shootings in Mailand, Wien oder Hamburg gebucht – umso wichtiger sei für sie immer gewesen, an einen Ort zurückzukehren, wo sie Ruhe und Geborgenheit findet.

Knuppe war Markenbotschafterin für grosse deutsche Firmen, man kennt ihr Gesicht. Sie sagt gleich Du, wie sie es hier machen, bestellt einen Aperol Spritz, später zündet sie sich eine Zigarette an, und die Worte von Wolfgang Joop fallen einem ein: Es gehöre zum Potenzial des Ostens, «so unimponiert zu sein». Es war Joop, der Franziska Knuppe 1997 in einem Café in Potsdam entdeckte, wo sie während ihres Betriebswirtschaftsstudiums jobbte.

In einer Tischrunde erkenne sie oft, wer aus dem Osten komme, sagt Franziska Knuppe. Vor allem, wenn jemand schon etwas älter sei. Man spüre eine Verbundenheit, vielleicht sei es die Sprache, ein gewisses Verhalten.

Knuppe war 15 beim Mauerfall. Ihre Mutter war Kinderärztin, der Vater Ingenieur, die Familie lebte in einem Plattenbau. Die voll berufstätigen Eltern führten eine gleichberechtigte Beziehung. Es war völlig normal, dass eine Frau, die Mutter wird, weiter ausser Haus arbeitet. «Meine Mutter war zwei Wochen nach meiner Geburt zurück im Medizinstudium. Sie lebte mir vor: Man kriegt es hin.» Obwohl auch sie viel unterwegs ist, fühlte sie sich nie als schlechte Mutter. Ihre 17-jährige Tochter habe von der frühen Sozialisation mit Gleichaltrigen in der Kita profitiert.

Ostalgie bedeutet: sich nach einer DDR zu sehnen, wie man sich an sie erinnert, wie sie aber nie existierte. Daran leidet Knuppe nicht. Sie kauft zwar bis heute Spreewaldgurken und Bautz’ner Senf. Doch sie weiss, dass ohne Mauerfall ihr Leben anders verlaufen wäre. Der Schuldirektor, ein Parteifunktionär, sagte ihrer Mutter: Franziska werde nicht Abitur machen, nicht jeder müsse studieren in der DDR.

Dann kam die Wende. Ihre Eltern gingen 1989 auf die Strasse, es sei für sie aber nie infrage gekommen, in den Westen zu ziehen. «Sie wollten, dass sich hier etwas ändert.» Für ihre Familie ging es dann mehr oder weniger bruchlos weiter. Knuppe kennt auch andere Biografien. Ihr Mann, ebenfalls aus Potsdam, mit dem sie seit 25 Jahren verheiratet ist, erfuhr später, dass seine Mutter bei der Stasi war. Viele Leute verloren nach dem Ende der DDR ihre Arbeit, ihre Bildung war im Westen oft nicht gefragt, es kam ihnen die innere Heimat abhanden. Damit wird auch das Misstrauen gegenüber den alten Westparteien erklärt, von denen man sich geringgeschätzt fühlt.

Und was sagt Knuppe zum Erfolg der AfD? Dazu möchte sie sich nicht äussern. Zu schnell werde man in eine Schublade gesteckt. Aber es greife zu kurz, wenn die Medien nun aus allen Ostdeutschen Nazis machten.

«Ich bin stolz, Ostdeutscher zu sein»

Der ostdeutsche Filmemacher Andreas Dresen hält genauso wenig davon, in allen AfD-Wählern Nazis zu sehen. «Das ist Unfug», sagt er. Die Bürger würden das Instrument nutzen, das sie in einer Demokratie hätten: Sie wählten eine Partei, die auf dem Wahlzettel stehe, also zugelassen sei. «Dafür werden sie als rechtsextrem und rückwärtsgewandt beschimpft.» Sicherlich gebe es in der AfD Leute mit extremistischen Ansichten, aber es sei nicht hilfreich, alle in denselben Topf zu werfen. Die Partei sei nicht verboten, es gelte einen Umgang zu finden, damit sie die Opferrolle durch die ständige Dämonisierung nicht noch stärker mache. Überhaupt: «Der Widerstreit der Meinungen ist das Wesen einer Demokratie.»

Andreas Dresen, der vor 61 Jahren in Gera geboren wurde, lebt seit 1986 in Potsdam. Für elf Jahre sass er im Brandenburger Verfassungsgericht. Er spricht auch aus dieser Erfahrung: Der Parlamentarismus halte extreme Positionen aus, in manchen Verfahren hätten sie der AfD auch recht geben müssen, sagt er im Zoom-Gespräch. Er weilt gerade an einem Filmfestival in Oberbayern, wo er seinen neuen Film «In Liebe, Eure Hilde» vorstellt. Darin erzählt er die Biografie der während des Nationalsozialismus als Widerstandskämpferin tätigen Arztgehilfin Hilde Coppi. Dresens Filme handeln oft vom Alltag einfacher Menschen. Auf das Gegängelt-Werden reagieren sie mit einem starken Widerspruchsgeist.

Dresen versteht den Trotz, wenn einem ständig von aussen gesagt wird, was es bedeute, ostdeutsch zu sein. Das Underdog-Gefühl, das daraus resultiert. Bis heute seien fast alle Führungspositionen im Osten von Westdeutschen besetzt, in den Medien, an den Gerichten, in den Hochschulen, sagt er. Die Wiedervereinigung sei zu schnell gegangen, darin liege ihr Geburtsfehler. Er selbst hatte im Zug der Wende für eine reformierte DDR demonstriert, während sich die Mehrheit der Bevölkerung eine sofortige Anpassung an den Westen wünschte. Einführung der D-Mark, Zugang zu den Waren, die man aus dem Fernsehen kannte, freies Reisen. Das sei niemandem zu verübeln. «Aber man hätte das westliche Wertsystem noch einmal hinterfragen können, statt es unverändert über den Osten zu stülpen.» Als die ostdeutsche Industrie zusammenbrach, trauerten viele, die sich zuvor für die Wiedervereinigung einsetzten, der DDR nach.

Die Hinwendung vieler Ostdeutscher zu den Parteien am linken und rechten Rand erklärt sich Dresen auch damit, dass es in der DDR keine gewachsene Bindung an traditionelle Parteien gab. Im Westen wählten Arbeiterfamilien schon immer SPD und Unternehmerfamilien die FDP oder CDU. «Diese Tradition im Wahlverhalten fehlt», sagt Dresen. Umso leichter falle es vielen, aus Protest die Parteien zu wechseln.

Dennoch hofft er für Brandenburg auf die taktischen Wähler, die am Wahltag «aus dem Reflex heraus» ihre Stimme der SPD geben, um zu verhindern, dass die AfD die stärkste politische Kraft wird. Wird sie es doch, wird der Regisseur nicht in Panik verfallen. Immerhin wähle immer noch eine grosse Mehrheit die Parteien der Mitte.

Die Umbrucherfahrung als Ostdeutscher hilft ihm dabei, mit Veränderungen umzugehen. Es sei ein Gefühl, das er tief in sich trage. Die Gesellschaft könne sich jederzeit wandeln, es gebe keine Sicherheit: «Ich habe erlebt, was passiert, wenn ein System kollabiert und sich bis in die Alltagsverästelungen alles komplett verändert. Das macht mich reich. Ich bin stolz, Ostdeutscher zu sein.»

«Es braucht eine Politik der Hoffnung»

Das Quartier Berliner Vorstadt in Potsdam ist von drei Seen umgeben. Villa reiht sich an Villa. Hier wohnen Olaf Scholz, der AfD-Politiker Alexander Gauland oder der Moderator Günter Jauch. Die Glienicker Brücke verbindet Potsdam und Berlin. An das Grenzgebiet erinnert die farblich zweigeteilte Brücke. Auf ihrer Mitte wurden Agenten zwischen den USA und der Sowjetunion ausgetauscht.

Die Schriftstellerin Julia Schoch sagte einmal: Potsdam sei so inspirierend, weil hier alles offenliege und die geschichtlichen Umbrüche spürbar seien. Für das Gespräch hat sie die Villa Schöningen neben der Brücke vorgeschlagen. Die Villa wurde von den Preussen 1843 in Auftrag gegeben, war Lazarett für die Soldaten der sowjetischen Armee und beherbergt heute ein Museum mit Café.

Schoch, 50, wuchs in Mecklenburg auf, später zog die Familie nach Potsdam, bei der Wende war sie 15. Die Ost-Erfahrung prägt ihr Schreiben. Im autofiktionalen Roman «Das Liebespaar des Jahrhunderts» lernen sich zwei Menschen kurz nach dem Zusammenbruch der DDR kennen. Dreissig Jahre später blickt die Ich-Erzählerin zurück, um zu ergründen, wann man sich entliebt hat – und zu erkennen, wie verbindend das Aufwachsen im DDR-Sozialismus ist. Im Januar erscheint Schochs neuer Roman «Wild nach einem wilden Traum». Darin geht es um die Frage, wie viel Kraft man aus der Vergangenheit schöpfen kann.

Niemand schätzt es, wenn sich andere der eigenen Geschichte bemächtigen. So strapaziös das Leben in der DDR war – viele Ostdeutsche wollten das nicht entwertet sehen, sagt Schoch. «Damals hat man selbst darauf geschimpft, aber jetzt sollen das nicht andere tun. Denn dann wäre alles nichts wert, wofür man sich den Hintern aufgerissen hat.» Sie kritisiere viele Ost-Verhaltensweisen scharf. «Aber wenn einer von aussen kommt und sagt, ihr seid Idioten – dann werde ich solidarisch.»

Man würde sogar schlechte Erfahrungen umdeuten, weil sie einem vertraut seien, sagt Schoch. Fahre sie durch Plattenbausiedlungen, kämen bei ihr nahezu Heimatgefühle auf. Wohnen möchte sie dort nicht mehr. «Aber ich kann mich nicht heraushalten aus meiner Biografie. Das alles macht mich aus.»

Deshalb seien viele Ostdeutsche auch gegen die Unterstützung der Ukraine und für Friedensverhandlungen mit Putin, obwohl man einst unter dem sowjetischen Besatzer gelitten habe. Sie erklärt das so: Viele Ostler seien trotz einer gewissen Abneigung vertraut mit Russland, seinen Menschen, der Sprache. Man hat in der Schule Russisch gelernt, ist nach Moskau gereist, hat dort vielleicht sogar studiert, kennt Filme, die Literatur. Im Westen fehle der innere Bezug zu diesem Kulturraum.

Schoch spricht leidenschaftlich, berlinert viel, ihren Analysen fügt sie oft ein Aber hinzu im Wissen, dass keine Erklärung allein genügt. Laut Studien beurteilen zwei Drittel der Ostdeutschen ihre wirtschaftliche Situation als gut. Die Rede von der Protestwahl der Abgehängten zeigt also nie das ganze Bild. Die Sorgen um die irreguläre Zuwanderung etwa – das wichtigste Thema für die Brandenburger in Umfragen – teilen viele.

Die AfD-Wähler in ihrem Umfeld besässen Eigentumswohnungen und seien international unterwegs, sagt Schoch. Viele im Osten, die die Extreme wählten, erlebten so eine Art Selbstwirksamkeit. Die Politik der etablierten Parteien werde als elitäres Spiel betrachtet, als Westimport. Dem Berufspolitiker mit Beamtenattitüde zögen sie den hemdsärmligen, konkret sprechenden Politiker vor, der dadurch verbindlicher wirke.

Schoch spricht von einem «Sinndruck». Im Westen heisse es oft: Was wollen sie denn, sie haben doch alles gekriegt, tolle Häuser, die Strassen sind schön, die Landschaften blühend. «Das stimmt, aber das alles ersetzt keine Vision. Und die wird allerorten gebraucht, nicht nur im Osten», sagt sie. Es fehle an Zuversicht, es werde nur immer gesagt, was im Argen liege, und nicht, was an Gutem geschaffen wurde. Der Mensch wolle auf etwas hinaus, er suche nach Zugehörigkeit, nicht bloss nach einer Ausbildungsstätte und einem Bausparvertrag. Politik habe auch für eine sinnstiftende Erzählung zu sorgen. «Was es braucht, ist eine Politik der Hoffnung.»

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