Samstag, Oktober 5

Wenn sich die Schwinger am Sonntag in Appenzell zum Saisonhöhepunkt treffen, ist ein Böser wegen Rückenproblemen nicht mehr dabei: Kilian Wenger. Er erklärt, wie ihn als Zwanzigjähriger der Rummel überrollt hat – und gibt preis, welchen Luxus er sich leistete.

Kilian Wenger, hätte Ihr Rücken das Eidgenössische Jubiläums-Schwingfest vom Sonntag nicht noch vertragen?

Mein Körper verkraftete die immer gleichen Bewegungen im Schwingen immer schlechter, in den letzten drei Jahren ging es fast nicht mehr ohne erlaubte Schmerzmittel. Im Krafttraining ging ich aus Vernunft nicht mehr an die Grenzen, im Gegensatz zu anderen. Dies wurde mir unmittelbar bewusst, weil ich im gleichen Fitnesscenter wie der Saisondominator Fabian Staudenmann Gewichte stemmte. Wenn du um zehn Prozent zurückstecken musst, fehlt dir in den entscheidenden Kämpfen gegen die Besten ein Quentchen.

Liegt ein Fluch auf den Berner Königen? Auch Ihre Nachfolger Matthias Sempach, Matthias Glarner und Christian Stucki wurden nach dem Königstitel durch gesundheitliche Probleme gebremst.

Es kann auch Zufall sein. Die anderen waren bei ihrem Königstitel älter und auf dem Zenit ihrer Karriere. Dass danach der Erfolgshunger ein wenig nachlässt und körperliche Beschwerden zunehmen, ist normal. Wenn einer von uns Königen ein Boboli hat, weiss es halt die halbe Schweiz. Das verstärkt die Wahrnehmung unserer Krankengeschichten.

Sie wurden 2010 in Frauenfeld mit zwanzig Jahren überraschend König, mit Oberarmen wie Baumstämmen. Über Nacht wurden Sie zum Frauenschwarm und interessant für Sponsoren. Plötzlich bot eine Grossbank einen fünfstelligen Betrag für eine Autogrammstunde. Dieser Rummel hat Sie überrollt.

Ich war halt erst der zweite König, nachdem das Schwingen durch die höhere TV-Präsenz einen Boom erlebt hatte. Mein Vorgänger war Jörg Abderhalden, aber er war in einem reifen Alter und als dreifacher König gewohnt, im Fokus zu stehen. Er hatte sich in Ruhe ein professionelles Umfeld aufbauen können, ihm musste der Schwingerverband nicht zur Seite springen.

Und in Ihrem Fall?

Da wusste zunächst niemand, wie man mit einem unbekannten Jüngling umgehen soll, der mit seiner Dynamik neue Werte verkörpert. Ich steckte als Stundenlöhner mitten in meiner Zimmermannslehre, einiges lief chaotisch ab. Aber es wäre ja komisch gewesen, wenn ich davor schon eine Heerschar von Beratern gehabt hätte, das wäre als normaler Schwinger völlig übertrieben gewesen. Und so war ich eine Art Versuchskaninchen.

Kilian Wenger 2010

Wie äusserte sich der Hype?

Die Erwartungshaltung war riesig. Ich wohnte wieder bei meinen Eltern. Und es kam vor, dass meine Mutter den Stecker des Haustelefons herauszog, weil so viele Leute anriefen, die etwas von mir wollten. Oder Passanten hielten sich plötzlich auffällig lange vor unserem Haus auf. Wir bekamen kistenweise Fanpost und wollten jeden Brief beantworten. Niemand meinte es böse, aber ich hätte etwas mehr Distanz geschätzt.

Mit ihm begann im Schwingen ein neues Zeitalter

ac. Kilian Wenger krönte sich 2010 in Frauenfeld als Zwanzigjähriger überraschend zum Schwingerkönig. Er gewann vor 50 000 Zuschauern alle acht Gänge, im Direktduell entthronte er Jörg Abderhalden, den vielleicht grössten Schwinger der Geschichte. In Wenger hatten die erfolgsverwöhnten Berner nach 18 Jahren des Wartens wieder einen König. Ihm wird nachgesagt, dass er mit seiner Athletik und Dynamik das Schwingen in ein neues Zeitalter geführt und den Sport für das weibliche Publikum attraktiver gemacht habe. Insgesamt gewann Wenger 110 Kränze. Anfang August trat er wegen Rückenproblemen zurück.

Sie scharten dann ein paar Freunde um sich, die Ihnen bei Pflichten oder Ihrer Vermarktung halfen. Wo haben Sie Grenzen gezogen?

Wir merkten irgendwann, dass wir neun von zehn Angeboten ablehnen müssen, wenn ich mein Pensum meistern will. Anlässe, an denen mir das Thema allzu fremd vorkam, besuchte ich nicht mehr. Ich nutzte die Zeit lieber anders. Und das eine oder andere ging mir zu weit, zum Beispiel, als ich für eine Unterwäschefirma bei einem Foto-Shooting in Boxershorts hätte posieren sollen.

Welchen Luxus leisteten Sie sich direkt nach dem Königstitel?

Ich hatte da noch ein altes Tastenhandy und dachte, dass ich mir endlich auch ein Smartphone leisten könnte.

Welches war Ihr verrücktestes Erlebnis als König?

Ein Rundflug in einem Kampfjet. Das Schweizer Fernsehen wollte vor dem Eidgenössischen Schwingfest 2013 die Favoriten bei ausgefallenen Aktivitäten begleiten. Und ich sagte mehr aus Jux, dass ein F/A-18-Flug noch toll wäre, im Glauben, dass er eh nicht zustande komme. Prompt erhielt ich drei Tage später einen Anruf: Es klappe! Bewilligt vom damaligen VBS-Vorsteher Ueli Maurer. Auf einem Militärflugplatz wurde mein Körper einen halben Tag lang durchgecheckt. Und ich bekam alle Instruktionen, etwa, dass man diesen Spezialanzug trägt, damit man nicht ohnmächtig wird.

Kostete der Flug Überwindung?

Nicht viel. Der Start war ähnlich wie in einem Passagierflugzeug. Aber dann sind wir schon Kurven mit siebeneinhalb «g» geflogen, mir wurde es kurz schwarz vor den Augen. Als wir ausstiegen, meinte der Pilot, ihm sei ebenfalls kurz schwarz geworden, das sei normal. Gut, hatte ich es nicht bemerkt.

Also hätten Sie den Königstitel nie gegen etwas mehr Anonymität eintauschen wollen?

Das nicht. Aber am Anfang war er manchmal schon eine Bürde. Wenn ich mit Kollegen in den Ausgang ging, konnte ich mich kaum um sie kümmern. Ich war die ganze Zeit damit beschäftigt, für Fremde Autogramme zu schreiben. Später kamen Selfies hinzu, die oft mit dem Wunsch verbunden waren, ob ich eine Frau in die Höhe heben könne. Diese Vereinnahmung schränkte mich stark ein. Anstatt ins Getümmel bin ich dann mit Kollegen lieber in eine Beiz gegangen.

War es damals kompliziert, Ihre heutige Frau kennenzulernen?

Das war in einem Schlagertempel, und es hatte nicht viele Leute an der Bar. Der Rummel um mich war gerade etwas geringer, wir konnten reden, ohne dass wir ständig abgelenkt wurden. Es war also auch Zufall dabei, weil der Moment so günstig war.

Ihnen wurde das Etikett des Traumschwiegersohns angeheftet. Hat Sie das gestört?

Am Anfang fand ich es amüsant. Aber wenn man fast nur noch damit konfrontiert wird, verleidet es einem. Ich wollte mich ja vor allem übers Schwingen definieren, und so schlecht war meine Bilanz auch in der Spätphase der Karriere nicht. Was ich auch nicht mehr hören konnte, war die Frage, wie sich mein Leben durch den Königstitel verändert habe. Sie wurde mir tausendfach gestellt.

War Ihr Beruf eine Hilfe, um dem Rummel zu entfliehen?

Durchaus. Ich arbeitete ja lange als LKW-Chauffeur, der Holz aus dem Wald abtransportierte. Oft war ich allein auf Tour, und der Chef wusste nicht, wo ich war. Das war auch eine Lebensschule. Ich musste Verantwortung tragen und den Kopf bei der Arbeit haben. Ich musste auf alle Eventualitäten vorbereitet sein, etwa mir Taktiken überlegen, wie ich mit dem schweren Gefährt in schmale Waldwege hineinfahre, ohne dass es gefährlich wird. Im Spätherbst musste ich daran denken, dass ich die Schneeketten dabeihabe. Und wenn es gar nicht ging, musste ich mich im Wald umsehen, ob es vielleicht doch noch jemanden gibt, der mir helfen könnte. Das alles unter hohem Zeitdruck.

Jetzt, da Sie nicht mehr schwingen: Darf es wieder lauter bei der Arbeit werden?

Ich orientiere mich tatsächlich gerade neu. Mit Lastwagenfahren habe ich ausgesetzt, das verlerne ich nicht, das kann ich später immer wieder machen. Zuletzt versuchte ich mich als eine Art Bauleiter, im Diemtigtal, wo ich herkomme. Von den vielen Schulhäusern, die da heute nicht mehr in Betrieb sind, hatte ich eines einst erworben. Da bauten wir nun ein paar Wohnungen hinein. Ich habe auch Parkettböden verlegt. Jetzt will ich die Weiterbildung zum Technischen Kaufmann abschliessen. Irgendwo im Hinterkopf ist der Traum von der Selbständigkeit.

Ihre erste Lehre hatten Sie als Metzger absolviert. Ihr Kollege Matthias Sempach, ebenfalls Schwingerkönig, übte diesen Beruf auch aus und sagte einmal, er habe sich dabei einen Killerinstinkt angeeignet, der ihm fürs Schwingen geholfen habe. War das bei Ihnen ähnlich?

Das mit dem Killerinstinkt sah ich bei mir weniger. Aber das Metzgern hat mir Härte mitgegeben, von der ich später zehrte, mein Körper wurde da stark gefordert. Wir waren ein Kleinbetrieb, da hatte es jeden gebraucht, da lag für niemanden eine Extrawurst drin. Am Samstag arbeiteten wir, am Sonntag hatte ich ein Schwingfest, am Montag um 4 Uhr 30 in der Früh metzgete ich bereits wieder Säue. Aufgrund dieses Rhythmus wohnte ich in der Metzgerei. Daneben blieb eigentlich nur Zeit fürs Schwingtraining, von dem ich oft erst um 23 Uhr heimkam.

Lehrte Sie dieser Arbeitsrhythmus Demut?

Ich denke schon. Wo ich aufgewachsen bin, ging es unzimperlich zu und her. Vielleicht bin ich deshalb nie abgehoben. Ich war damals in der Metzgerlehre sicher auch unbekümmerter.

War Matthias Sempach für Sie ein Bruder im Geiste? Auch er musste wegen Rückenproblemen die Karriere als Schwinger beenden.

Das kann man so sagen. Als er aufhören musste, hatten wir beide Tränen in den Augen. Bei meinem Rücktritt war es genauso. Vielleicht galt für uns das Motto: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Die Kameradschaften aus dem Schwingen werde ich vermissen.

Dafür werden Sie weniger im Fokus der Öffentlichkeit stehen?

Das kann täuschen. Ich staunte erst gerade, als ich in Basel Prüfungen für die Ausbildung zum Technischen Kaufmann ablegte. Wir gingen in ein gutes Restaurant zum Abendessen, ich trug Sonnenbrille und hätte gewettet, dass mich hier in der Grossstadt niemand erkennt. Doch weit gefehlt!

Ihre Marketingabteilung hat also auch 14 Jahre nach dem Königstitel genug zu tun?

Es gibt immer noch fast täglich Anfragen, ob ich für einen Fan eine Grussbotschaft auf Video aufnehmen könne. Sei es für ein Hochzeitsfest oder einen runden Geburtstag. Als ich kürzlich den Rücktritt erklärte, wurde das Interesse wieder grösser. Aber ich kann nicht auf allen Hochzeiten tanzen. Es ist faszinierend, wie Schwingen die Leute immer noch derart in den Bann zieht, ohne dass eine Stagnation absehbar wäre.

Was vermissen Sie nicht an der Arbeit mit den Medien?

Manchmal ärgerte es mich, wenn ich angeschlagen oder verletzt für ein Fest absagte und geschrieben wurde, das sei nicht fair gegenüber dem Veranstalter. Ich hatte gute Gründe, und am Ende bin nur ich für meine Gesundheit und meine Leistung verantwortlich. Aber ich bin auch im Umgang mit Journalisten gelassener geworden. Trotzdem frage ich mich: Muss in gewissen Formaten die Berichterstattung immer extremer und provokanter werden? Muss aus jeder Mücke ein Elefant gemacht werden? Wenn es Theater gibt, sagt jeder, dass er sich über die Inszenierung aufrege, und doch schaut es sich jeder an. So scheint unsere Gesellschaft heute zu funktionieren.

Wo sehen Sie die positivsten Seiten Ihrer Ausstrahlung?

Dass es junge Leute gibt, die sagen, sie hätten mit Schwingen angefangen, weil sie mich 2010 beim Gewinn des Königstitels im Fernsehen gesehen hätten. Offenbar zählte auch Fabian Staudenmann zu ihnen, der mit seiner Explosivität und Beweglichkeit einer der gegenwärtigen Top-Schwinger ist. Das ist eine grosse Ehre für mich.

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