Der Franzose wandelte sich in einem Sommer vom Bruchpiloten zum Siegfahrer. Er erklärt, was ein grosser Liebeskummer damit zu tun habe. Und warum er sich bei seiner Ex-Freundin dafür bedanke, dass sie ihn verlassen hat.
Cyprien Sarrazin, was ist Ihr letzter Gedanke, bevor Sie sich eine Abfahrt hinunterstürzen?
Ich denke an meine verstorbenen Onkel.
Das müssen Sie erklären.
Die beiden waren wie Brüder für mich. Wir haben sehr viel Sport miteinander getrieben. Einer ist vor fünf Jahren gestorben, der andere vor zwei Jahren. Der zweite Todesfall war sehr schmerzhaft für mich, ich trainierte damals in Chile, weit weg von meiner Familie.
Sie hätten Familie da gebraucht?
Wir stehen uns alle sehr nahe. Ich war am anderen Ende der Welt. Deshalb musste ich meine Trauer allein bewältigen. In den ersten zwei, drei Trainingsläufen versuchte ich, nicht an meinen Onkel zu denken. Aber wenn ich müde wurde, drängte er sich in meine Gedanken. In einem Gespräch sagte mir eine Frau: «Ich habe meinen Mann verloren, aber er ist in jedem Moment meines Lebens präsent.» Ich antwortete: «Jedes Mal, wenn ich am Start stehe, sind sie da.» Da habe ich gelernt, das zu akzeptieren. Heute sage ich in Gedanken zu ihnen: «Beschützt mich!» Dann fahre ich los.
Sind Sie diese Saison anders angegangen als alle anderen?
Nein. Ich werde nicht etwas ändern, das gut funktioniert hat.
Die Frage zielt darauf ab, dass Sie früher ins Ungewisse starteten. Jetzt sind Sie ein Siegfahrer – ändert das nichts?
Ich bin entspannt. Was ich erreicht habe, kann mir keiner wegnehmen. Geschafft habe ich es, weil ich auf den Ski einfach ich selbst war. Früher fragte ich mich, ob ich überhaupt dazu fähig sei.
Früher waren Sie vor allem für Ihre Stürze bekannt . . .
. . . auch darauf bin ich stolz.
Hatten Sie Mühe, das Risiko zu dosieren?
Ich kannte mich selbst nicht gut genug und versuchte, meine Grenzen auszuloten. Dass ich schon in meiner zweiten Saison als Speed-Fahrer zu den Besten gehörte, ist eine Folge davon. Ich suchte das Limit und fuhr dann nur noch mit 80 oder 90 Prozent des vollen Risikos. Ich habe begriffen, dass es nichts bringt, wenn ich den Regler immer aufs Maximum einstelle. Wenn ich mit 90 Prozent Einsatz fahre, kann ich mein Potenzial zu 100 Prozent ausschöpfen.
Es wird erzählt, dass Sie lange nicht am Mentalen arbeiten wollten, weil Sie Angst hatten, dass Sie sich dadurch ändern würden. Können Sie das erklären?
Ich wurde so erzogen, dass ich mich frei entfalten konnte. Dann zog ich früh von zu Hause weg, um im Sport weiterzukommen. Veränderungen machen Angst, das spürte ich damals schon. Viele Leute sagten zu mir, ich müsse meine mentale Herangehensweise verbessern. Ich hörte auf sie, aber ich war nur mit halbem Herzen dabei, weil ich mich eingeengt fühlte.
Was hat das gebracht?
Ich habe viel gelernt, aber ich habe es nicht zu Ende gedacht. Ich verfügte zwar über Tricks und Rituale, die mir Sicherheit gaben. Aber es war eine falsche Sicherheit. Ich stürzte als Skirennfahrer, und ich litt auch emotional in meinem Leben. Bis ich im Frühling 2023 erkannte, dass ich endlich etwas ändern musste.
Sie hatten Probleme, die nicht nur den Skirennsport betrafen?
Ja, ich hatte Mühe mit meinen Emotionen, litt an einem grossen Liebeskummer. Als ich das einmal im Griff hatte, war es ein Klacks, in Kitzbühel im Starthaus zu stehen und die Angst zu kontrollieren. 28 Jahre lang hatte ich Angst, dann war ich bereit, zu lernen, wie ich meine Emotionen steuern kann.
Die Trainer sagten, Sie seien danach so gut Ski gefahren, dass Sie kaum etwas korrigieren mussten.
Ich verpasste wegen einer Rückenverletzung die WM 2023 in Frankreich. Danach sass ich zu Hause auf der Couch, sah die anderen fahren und zog eine Bilanz. Technisch war alles gut, körperlich bin ich eine Maschine – es fehlte einzig im Kopf. Ich wusste das seit Jahren, aber ich schaffte es nicht, das Problem ernsthaft anzugehen. Als ich dann endlich zum Psychologen ging, litt ich mehr als in jedem Training. Sich zu öffnen und tief in sich selbst zu schauen, kann sehr schmerzhaft sein.
Sie arbeiten mit einem Psychologen und einem Energiecoach. Wer macht was?
Der Psychologe kitzelt mich dort, wo ich Probleme habe. Manchmal lösen sich Dinge leicht, aber an einigem musste ich hart arbeiten. Der Mental- und Energiecoach hat mir geholfen, auf die Fragen des Psychologen richtig zu reagieren. Es war das Zusammenspiel der beiden, das mir schnelle Fortschritte ermöglicht hat. Nach meinem Sieg in Kitzbühel habe ich den Psychologen angerufen. Er hat gesagt, das sei unglaublich, wenn er daran denke, in welchem Zustand ich erstmals in seine Praxis gekommen sei.
Wie reagierten die Skitrainer?
Sie wussten, dass ich an mir arbeite, und liessen mich in Ruhe. Ich bin froh, bin ich diesen Weg gegangen, das war über den Sport hinaus die wichtigste Entscheidung meines Lebens.
Anscheinend hat man bei Ihnen ein Hochstapler-Syndrom diagnostiziert. Was ist das?
Einfach gesagt, heisst es, dass ich unfähig war, das zu akzeptieren, was für mich möglich ist. Ich sagte nicht zu mir: «Du kannst Weltcup-Rennen gewinnen!» Tief in meinem Innern war ich immer der Überzeugung, dass die anderen stärker sind. Als ich diese Blockade gelöst hatte, stand ich ganz oben.
Und all das hat Ihr Liebeskummer ausgelöst?
Nein, der entscheidende Moment war die Verletzung zwei Tage vor den Weltmeisterschaften. Und als ich begann, an mir zu arbeiten, kamen meine verletzten Gefühle hinzu. Das hat mir letztlich geholfen, zu dem zu finden, was tief in mir drin nicht stimmte. Ich hatte schon früher bei Trennungen sehr emotional reagiert. Als ich das einmal geregelt hatte, wurde vieles freigesetzt.
Sie haben sich später bei Ihrer Ex-Freundin bedankt. Dafür, dass sie Sie verlassen hat?
An erster Stelle muss ich mich selbst loben, dass ich diese Arbeit geleistet habe. Aber ja, ihr habe ich es zu verdanken, dass ich den Prozess durchgezogen habe. Ich hatte so sehr gelitten, und das nicht zum ersten Mal, dass ich mir sagte: «Ich will das nie wieder erleben.» Ich spürte, dass es mehr mit mir als mit meiner Ex-Freundin zu tun hatte. Darum habe ich mich bedankt – und das später noch ein zweites Mal getan, weil sie mir zuerst nicht geglaubt hatte.
Es wird erzählt, Sie hätten früher während der Rennen eine Art geistige Aussetzer gehabt. Wie ist es möglich, einen Eishang runterzufahren und mit dem Kopf woanders zu sein?
Das stimmt, ich war manchmal geistig völlig abwesend. Ich war mir nicht bewusst, was ich da tat. Oft verletzte ich mich in diesen Momenten. Es gibt einfache Übungen, um im Jetzt bleiben. Ein grosser Teil meiner mentalen Arbeit bestand darin, diese zu lernen.
Hat das auch mit Ihrem eher ungewöhnlichen Weg zu tun? Sie fuhren als Kind oft mit dem Snowboard oder mit den Ski abseits der Pisten, Sie wollten nicht wie alle anderen trainieren.
Das hat sicher eine Rolle gespielt. Ich wollte meinen eigenen Weg gehen und habe mich verlaufen. Nach meiner Therapie sagte ich zu mir: «Das ist mein Weg, er gefällt mir, und ich bereue nichts. Auch wenn es schmerzhafte Momente gab.» Dadurch wurde aus einer früheren Schwäche meine heutige Stärke.
Letztlich ist es wohl ein Vorteil, dass Sie auf Schnee verschiedene Bewegungsmodelle verinnerlichten und nicht immer nur durch Tore fuhren.
Davon bin ich überzeugt. Mein Vater hat mich so erzogen, auch wenn er nicht sicher war, ob das im Spitzensport funktionieren würde. Bis ich 12-jährig war, war er mein Coach, ich trainierte fast nie mit Stangen. Sonntags fuhr ich dann Rennen. Anfangs reichte mein Talent, aber irgendwann begannen sich die Ausfälle zu häufen. Doch durch den Pulverschnee zu schweben oder von zehn Meter hohen Felsen zu springen, machte unglaublich Spass.
Irgendwann mussten aber auch Sie wie alle anderen trainieren?
Als ich anfing, ernsthaft in den Stangen zu trainieren, machte ich rasch riesige Fortschritte. Für mich war es neu, morgens um fünf aufzustehen, um früh auf dem Gletscher zu sein. Die anderen hatten das schon tausendmal gemacht und fanden es mässig lustig – ich hatte Spass. Und dieses Instinktive, Sprudelnde, das ich mir in der Kindheit angeeignet habe, prägt heute noch meinen Fahrstil.
Sie meinen auch das, wenn Sie sagen, Ihre Schwäche sei zu einer Stärke geworden?
Genau. Mir wurde gesagt, in Kitzbühel seien nur sehr wenige Leute besser gefahren als ich. Oder meine Fahrt in Bormio sei eine der schönsten in der Geschichte des Rennsports gewesen. Darum geht es mir: aussergewöhnliche Läufe zu zeigen. Wie in meiner Kindheit, wenn ich einen verschneiten Hang hinunterfuhr und meine Spuren anschaute. Der schönste Sieg besteht darin, ein Kapitel in unserem Sport geschrieben zu haben.
In Sölden sind Sie auch wieder im Riesenslalom angetreten. Haben Sie den Gesamtweltcup im Auge?
Dazu gibt es eine Anekdote. Im vergangenen Winter reiste ich nach den abgesagten Rennen von Beaver Creek zurück nach Europa und trainierte Riesenslalom. Nicht weil ich Rennen bestreiten wollte, sondern quasi als Grundlagentraining. Marco Odermatt sagte in einer Pause zu mir: «Ich habe deine Trainingsfahrt in Beaver Creek gesehen. Das war Abfahrt in Perfektion, bravo. Jetzt gewinnst du dann in Abfahrt und Super-G, kommst auf über 500 Punkte. Und dann kannst du nächstes Jahr im Gesamtweltcup mitmischen.» Er sagte das, bevor wir überhaupt ein Rennen gefahren waren und obwohl ich in der Saison zuvor nur die Nummer 25 der Welt in der Abfahrt gewesen war. Ich habe immer wieder daran gedacht.
Cyprien Sarrazin
Der 30-jährige Franzose galt als reiner Riesenslalomfahrer. 2022 bestritt er auch Abfahrten, fiel aber vor allem durch spektakuläre Stürze auf und beendete den Winter im Spital. In der Saison darauf war er plötzlich Weltklasse und beeindruckte unter anderem mit Siegen in Bormio und Kitzbühel, auf den brutalsten Pisten der Welt.
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