Donnerstag, Dezember 26

Für den schottischen Schriftsteller John Burnside begann während der Corona-Pandemie ein zweites Leben. Auf einem Spaziergang durch Zürich erzählt er davon und erinnert sich, wie er als junger Mann seine Mutter in den Tod begleitet hat.

Wer mit John Burnside einen Spaziergang machen möchte, lernt, langsam zu gehen. Und er muss zuhören können. Denn der Mann redet ununterbrochen. Und weil er häufig in seinen Bart nuschelt, muss man umso aufmerksamer zuhören. Ausserdem spricht der gebürtige Schotte zwar nicht Schottisch, aber ein etwas verbrauchtes Englisch, das er vielleicht den Arbeiterkindern der englischen Midlands abgehört haben mag, wo er in den sechziger Jahren aufgewachsen ist.

An seine Sprache gewöhnt man sich, dass er ein Langsamgeher sei, hat John Burnside angekündigt, als wir uns verabredet haben. Was das heisst, zeigt sich, als wir uns in seinem Hotel treffen und losgehen. Es dauert keine fünfzig Schritte, da hält er inne. Die Arthrose, sagt er, in den Hüften, das sei vererbt. Die ersten Schritte seien die schmerzhaftesten. Aber es wundert einen nicht bei dem Gewicht, das der kolossale Mann auf die Waage bringen muss. Und die Lunge, fügt er hinzu. Und noch ehe wir das Tram erreichen, das uns zum Zoo hinaufbringen soll, erzählt er von seinem Herzstillstand.

Dann sah er Fledermäuse

Es geschah im Frühjahr 2020, gerade war die Corona-Pandemie ausgebrochen. Burnside lag zu Hause, isoliert in seinem Zimmer, seine Selbstdiagnose lautete auf Covid. Trockener Husten, Atemnot, Gliederschmerzen. Er wollte es aussitzen und wollte jedenfalls nicht ins Krankenhaus, weil man dort, wie er findet, eher krank als gesund wird.

Dann begann er Fledermäuse zu sehen, schnappte bald mehr nach Luft, als dass er atmete, und seiner Frau kam er, als sie einmal nach ihm sah, wie ein Gespenst vor. Da rief sie die Ambulanz. Kaum im Krankenhaus angekommen und auf die Isolierstation gebracht, kollabierte er. Das Herz setzte aus. Und die Ärzte beschlossen, ihn nicht aktiv zurückzuholen, da sie ihm mit seinen vielen Vorerkrankungen eine schlechte Prognose stellten. Das gestanden sie ihm später. Sie gaben ihm zwar Sauerstoff, aber wenn er nicht wieder selbständig zu atmen begänne, würde er sterben.

«Ich war zehn Minuten lang tot», sagt Burnside. Inzwischen sitzen wir im Tram, fahren am Uni-Spital vorüber, unermüdlich erzählt er, ich brauche keine Fragen zu stellen. Und nun schildert er seine Nahtoderfahrung. Da sei plötzlich dieses helle Licht gewesen, nicht von aussen, nein, er selber sei das Licht gewesen. Es sei von ihm ausgegangen. Später habe er sich von oben wie auf dem Seziertisch gesehen, nackt, ein unansehnlicher Fleischberg. Um ihn herum war alles still. Kein Mensch mehr.

Ob er sein Leben noch einmal in dem sprichwörtlichen Film gesehen habe? «Oh, nein, zum Glück nicht, es wäre schrecklich gewesen, dieses turbulente Leben mit Drogen, Alkohol, Psychiatrie noch einmal besichtigen zu müssen.»

Sechs Tage nach seiner Einlieferung, sechs Tage nach diesen Minuten «auf der anderen Seite des Schlafs», wie er es nennt, ist er wieder zu Hause. Wochenlang sitzt er danach im Garten und schaut in den blühenden Frühling. Die Rückkehr der Natur ist seine Rekonvaleszenz. Nur schreiben kann er nicht, nichts Langes jedenfalls, Gedichte, ja, aber keine Prosa.

Er wünscht eine Himmelsbestattung

Beim Zoo angekommen, gehen wir die paar Schritte hinüber zum Friedhof Fluntern. Wir wollen das Grab von James Joyce und Elias Canetti besuchen. Der Weg steigt nur leicht an, John Burnside muss gelegentlich innehalten und Luft holen. Aber er hört nicht auf zu reden. Er liebe es, Friedhöfe zu besichtigen. In Raron sei er an Rilkes Grab gestanden, und Trakl habe er auf dem Friedhof in Innsbruck aufgesucht. Nur Jorge Luis Borges’ Grab in Genf, es sei ein Jammer, habe er noch nie gesehen.

Und noch während er von Borges redet, stehen wir an Joyce’ Grab. Er schaut nur flüchtig auf die Inschriften, auf die Joyce-Statue dahinter, etwas genauer auf die Pflanzen rundherum. Und redet weiter von Borges und Rilke und Trakl. Wir gehen die paar Schritte hinüber zu Elias Canetti, nun sieht er etwas aufmerksamer hin und registriert die schlichte Grabplatte mit Canettis Unterschrift.

Aber wieder interessieren ihn noch mehr als das Grabmal die Pflanzen: die Magnolie, der Rhododendron, dann eine blühende Hamamelis. Er kennt alles und erwähnt, ganz nebenbei, als wollte er sich entschuldigen: «Ich bin einmal Gärtner gewesen.»

Und während wir die Grabreihen entlanggehen, macht er, etwas unvermittelt, ein Geständnis: «Am liebsten wäre mir einmal ein ‹sky burial›, eine Himmelsbestattung.» Ich schaue ihn etwas ratlos und ungläubig an: «Wie muss ich mir das vorstellen? Wird dabei die Asche aus einem Flugzeug verstreut? Man wirft doch nicht gleich den ganzen Leichnam ab?» «Rubbish», sagt er, «Quatsch, man wird im Freien aufgebahrt, den Tieren zum Frass, und kehrt so in die Natur zurück.» Es sei leider an den meisten Orten auf der Welt verboten, fügt er bedauernd hinzu.

Und ich beginne mich zu wundern, wie dieser wuchtige Mann an meiner Seite dazu kommt, mir, dem ihm völlig Fremden, aus seinem Leben zu erzählen: sehr offenherzig und doch nicht indiskret, manchmal selber ein wenig staunend, welche Wendungen sein Leben genommen hat. Nach der Schule habe es ihn ans Fliessband in eine Fabrik verschlagen, ehe er den Job aber aufgeben musste, um seine sterbende Mutter zu pflegen. Später sei er in Madrid als Systementwickler in der IT-Branche tätig gewesen. Wie er dazu gekommen sei, er habe doch Sprachen studiert. «Ach, man musste keine spezifischen Kenntnisse haben, logisch denken reichte aus.»

Mit der Mutter lernte er lesen

Längst schrieb er damals Gedichte, und als ihn seine IT-Kollegen in die Geschäftsleitung ihrer Firma holen wollten, wusste er: entweder oder. Er entschied sich für die Gedichte und begann nun ernsthaft zu schreiben, bald auch Romane. Heute gehört er zu den bedeutendsten Autoren Grossbritanniens und ist Professor für kreatives Schreiben an der renommierten University of St Andrews in Schottland.

Wie aus diesem schottischen Arbeiterkind, das damals zu Hause neben der katholischen Bibel nie ein anderes Buch gesehen hatte, ein Dichter geworden sei, frage ich Burnside. «Die Mutter war’s!», sagt er. Obwohl sie selber keine höhere Schulbildung besass, wusste oder ahnte sie, dass Bildung allein zähle. «Sie hat mir mit drei Jahren das Lesen beigebracht, mit alten Zeitungen und Zeitschriften, die uns ein Nachbar regelmässig brachte.»

Als die Familie in die Midlands umzog, wo der Vater im Kohlebergwerk seine erste feste Stelle erhielt, kam der Zehnjährige endlich an eine Schule mit einer vernünftig bestückten Bibliothek. Hier begann er wie ein Besessener zu lesen. Mit Charles Dickens ging es los, bald kamen Dostojewski und Tolstoi hinzu, die Bibel kannte er ohnehin längst auswendig, viel Lateinisches auch aus der Messe, und als er in der Schule Französisch lernte, las er Zola, im Original, versteht sich.

Seine Mutter hätte gewünscht, dass er Priester werde. Das war die erste Enttäuschung. Dann hoffte sie, er werde wenigstens Arzt oder Anwalt. Wieder nichts. Dass er Schriftsteller und berühmt wurde, erlebte sie nicht mehr. Sie starb, als John Burnside 22 Jahre alt war.

Als wir in der «Kronenhalle» sitzen und einen kleinen Lunch einnehmen – Burnside wählt eine Terrine de Foie gras und dazu ein Bier –, komme ich auf den Tod seiner Mutter zurück. Ich würde gerne mehr darüber erfahren, wie er sie in den Tod begleitet habe. Und nun erzählt er die Geschichte einer tragikomischen innerfamiliären Maskerade.

Der Vater hatte mit den Ärzten beschlossen, die Krebsdiagnose vor seiner Frau geheim zu halten. Und da der Vater seinerseits nach einem Herzinfarkt rekonvaleszent war, gab der Sohn seine Arbeit in der Fabrik auf und kam nach Hause, um die Mutter zu pflegen. Sein Vater sprach dann manchmal von Ferienreisen, für wenn es ihr wieder bessergehen würde. Als der Frau allmählich klarwurde, dass es nie mehr besser werden würde, und der Sohn ihr dies bestätigte, bat sie ihn, nur ja dem Vater nichts davon zu sagen.

Kamen ihre Freundinnen zu Besuch, trug der Sohn die Mutter ins Badezimmer, wo sie sich schminkte, dann hinunter in den Salon, wo sie die Gäste erwartete. Und alle versuchten so zu tun, wie wenn nichts wäre. Bevor sie starb, schickte sie den Sohn, da sie im Haus kein Telefon hatten, zu den Nachbarn, damit er von dort den Arzt rufe. Als er zurückkam, war die Mutter tot. «Sie hatte nicht gewollt, dass ich ihr beim Sterben zusehen musste. Das nahm ich ihr übel.» Und noch heute, nach bald fünfzig Jahren, glaubt man eine leise Trauer zu hören. Und eine letzte Liebeserklärung.

Schottischer Charakterkopf

rbl. · Geboren 1955 in Schottland, zog John Burnside zehnjährig mit seinen Eltern nach England. Er studierte Sprachen in Cambridge und veröffentlichte 1988 seinen ersten Gedichtband, dem zahlreiche weitere folgten. 1997 erschien Burnsides Roman «The Dumb House». Das war der Anfang eines umfangreichen Romanwerks, zu dem auch drei autobiografische Romane zählen, in denen er u. a. seine psychische Erkrankung schildert und seine Drogensucht, von der er sich, wie er einmal sagte, mit ebenso manischem Schreiben kuriert hat. Heute lebt Burnside wieder in Schottland in der Nähe von Edinburg. Er gehört zu jenen Autoren, die noch alle Entwürfe von Hand schreiben.

John Burnside hielt sich auf Einladung des Literaturhauses in Zürich auf und eröffnete am 23. Februar die «Tage internationaler Literatur: Vom Verschwinden».

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