Dienstag, Oktober 8

Ramelow ist der einzige Ministerpräsident der Linkspartei. Vor der Landtagswahl in Thüringen zieht der 68-Jährige alle Register und macht grosse Versprechen.

Es braucht nur ein kleines Stichwort, und die Worte sprudeln aus Bodo Ramelow heraus. Dann referiert er minutenlang über abgestorbene Kiefern im Thüringer Wald, den grössten Pizzaofen der Welt, der natürlich in einer Fabrik in Thüringen steht, und die vielen versteckten Weltmarktführer im Freistaat, von denen kaum jemand weiss. Wenn Ramelow in Fahrt ist, hält ihn nichts auf. Das gilt auch für die Politik. Der gebürtige Niedersachse ist der einzige Ministerpräsident der Linkspartei, und das schon seit zehn Jahren.

Ramelow ist der mit Abstand populärste Politiker in Thüringen. Den Niedergang seiner eigenen Partei kann er trotzdem nicht aufhalten. Im Endspurt vor der Landtagswahl geht es darum, das Schlimmste zu verhindern. Es ist gut möglich, dass Ramelow am 1. September abgewählt wird.

Ramelow ist so facettenreich, dass er auch für seine eigene Partei oft nicht zu fassen ist. Er sei der bekannteste Sozialdemokrat im Land, heisst es oft spöttisch. Im Wahlkampf präsentiert sich der 68-Jährige staatstragend als bürgerlicher Linker und Christ. Auf Plakaten verspricht er «Nähe und Vertrauen». Das Logo der Linkspartei ist erst gar nicht darauf zu finden. Je weniger Parteibindung, desto mehr Person bleibt übrig – das scheint die Strategie zu sein.

In allen Umfragen liegt die AfD mit ihrem Spitzenkandidaten Björn Höcke mit rund 30 Prozent vorn, dahinter folgen die Christlichdemokraten mit etwa 21 Prozent. Die Linkspartei kommt nur auf rund 15 Prozent der Stimmen und damit auf etwa halb so viel wie vor fünf Jahren. Sogar das neugegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat laut Umfragen auf Anhieb mehr Erfolg. Wenn man Ramelow nach möglichen Koalitionspartnern fragt, bleibt er eisern. «Ich werde alles tun, damit Björn Höcke nicht Ministerpräsident wird», sagt er. Er kann sich Bündnisse mit allen Parteien ausser der AfD vorstellen. Die Frage ist nur, ob er sich das aussuchen kann.

Ramelow, der Geschichtenerzähler

In der alten Residenzstadt Meiningen, etwa 90 Kilometer von Erfurt entfernt, schlendert Ramelow an einem schönen Sommertag durch die historische Altstadt. Eine Stadtführerin lotst die kleine Gruppe an der Stadtkirche vorbei über den Marktplatz hin zum Standort der von den Nazis zerstörten Synagoge. Kaum jemand nimmt Notiz von dem kleinen Tross. Nur ein Mann läuft auf den Landesvater zu und will ein Selfie.

Ein paar Stunden später kann sich Ramelow hingegen über ein Heimspiel freuen. Knapp hundert Menschen sind in die Strandbar an der Werra gekommen, die unter riesigen Bäumen plätschert. In Liegestühlen und Loungesesseln warten sie bei Cocktails und Bier auf den Auftritt ihres Spitzenkandidaten. Junge Wahlkämpfer mit Dreadlocks verteilen Postkarten mit Ramelows Konterfei, auf denen Fragen an den Spitzenkandidaten notiert werden können. Viele im Publikum sind der Linkspartei schon seit Jahren treu. Neue Wähler wird Ramelow hier kaum gewinnen.

Der Ministerpräsident sitzt entspannt auf einem kleinen Podest und schlägt die Beine übereinander. Zunächst jedoch klärt er die Meininger über ihre eigene Stadtgeschichte auf. Hier wird ein Charakterzug deutlich, der ihn mit Bundeskanzler Olaf Scholz verbindet: Ramelow weiss viel und tritt gern besserwisserisch auf.

Ramelow gibt in der Strandbar den Alleinunterhalter, auch wenn eine Moderatorin neben ihm sitzt. Sofort kommt das Streitthema Südlink zur Sprache. Über das Trassee soll Strom von Norddeutschland durch Thüringen nach Bayern transportiert werden, was Ramelow aus Naturschutzgründen ablehnt. Die Landesregierung scheiterte mit einer Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht.

«Das macht mich rasend», schimpft er auf den bayrischen Nachbarn. Mit dem dortigen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger «battle ich mich im Internet», sagt Ramelow. «Ich werde mich an jeden Baum ketten, um das Trassee zu verhindern», verspricht er. Zustimmendes Kopfnicken im Publikum.

Dankbar ist er über eine Frage zur Forderung nach einer Mindestrente von 1250 Euro, denn die Linke in Thüringen und damit auch Ramelow haben eine Petition dafür gestartet. Thüringen ist das Bundesland mit der niedrigsten Durchschnittsrente in Deutschland und hat gleichzeitig eine stark alternde Bevölkerung. Niedrige Renten, hohe Pflegekosten und ein ausgedünntes Gesundheitswesen sind deshalb die am emotionalsten verhandelten Wahlkampfthemen.

Doch es gibt keinen Ramelow-Abend ohne Anekdoten. Schnell kommt der Satz: «Jetzt will ich Ihnen noch eine Geschichte erzählen.» Dann geht es meist um die Wurst, die «Original Thüringer Rostbratwurst», als deren weltweiter Botschafter sich Ramelow versteht. 2018 war eine Delegation aus Thüringen am Tag der Deutschen Einheit in Tschechien und präsentierte das Kulturgut in der deutschen Botschaft in Prag.

Ramelow ging auf jenen Balkon in der Botschaft, auf dem der damalige Aussenminister Hans-Dietrich Genscher 1989 die Ausreise Tausender DDR-Flüchtlinge verkündet hatte. Ramelow rief dann nach eigener Aussage in den Garten: «Ich bin gekommen, Ihnen zu sagen: Der Rost brennt.» Unter ihm wurden dann 200 Meter gekringelte Rostbratwurst angeschnitten. Die Tschechen seien begeistert gewesen, freut sich Ramelow noch heute.

Überfüllte Asylunterkünfte in ganz Thüringen

Doch längst nicht bei allen Thüringern kommt Ramelows joviales Auftreten und sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein gut an. Sie sind genervt von ihrem Ministerpräsidenten, halten ihn für einen Schwätzer, der wenig vorzuweisen hat. So wie der Handwerker Timo Ehmke, der auf dem Marktplatz von Meiningen gerade Mittagspause macht. Seine Eltern wohnten auf dem Land. Im Umkreis von 50 Kilometern sei kein Arzt zu finden. «Darum sollte sich der Ministerpräsident kümmern und nicht durch die Welt gondeln», schimpft er.

Schnell sind Ehmke und sein Kumpel beim Thema Asylbewerber. Überall hätten Gewalt und Diebstähle zugenommen, sagen sie. «Wir sind gastfreundlich, liegen in der Mitte von Deutschland», sagt sein Kumpel, der seinen Namen nicht nennen will. Aber er lasse sich sein Land nicht kaputtmachen. Seine Familie habe eine kleine Pension in der Nähe von Oberhof, erzählt er. Bei den Gästen sei das ständig ein Thema. «Irgendwann werden sie gar nicht mehr kommen», befürchtet er.

In Thüringen sind die Asylunterkünfte voll, teilweise überbelegt. Viele Kommunen lehnen eine Aufnahme von weiteren Asylbewerbern ab. Es gibt Brandbriefe von Landräten und Kommunalpolitikern an Ramelow. Doch wenn es um Massnahmen für die Eingrenzung irregulärer Migration geht, fällt Thüringen durch Blockaden auf. So wie bei der letzten Ministerpräsidentenkonferenz im Juni, als das Land erneut eine Protokollerklärung abgab und sich damit gegen die Mehrheit der Länderchefs stellte. Ramelow ist dagegen, dass über eine Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten beraten wird. Er sieht die Rechtsstaatlichkeit nicht gewahrt.

Ramelow will, wie auch bei vielen anderen Themen, die Sichtweise umdrehen. Immer wieder, so auch im Wahlkampf in Meiningen, appelliert er: «Wir brauchen geordnete Zuwanderung, wir müssen einladen.» 24 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in Thüringen gehe bis 2040 in Rente und Pension. Deshalb sei er in Vietnam und in der Mongolei unterwegs, um Auszubildende anzuwerben. Zur Lösung der aktuellen Krise fehlender Asylunterkünfte sagt er nichts.

Ramelow zog 2014 das erste Mal in die Erfurter Staatskanzlei ein. Björn Höcke war damals schon Vorsitzender der AfD-Fraktion im Landtag. Wenn Ramelow nach seinem möglichen Anteil als Ministerpräsident für den AfD-Aufstieg angesprochen wird, reagiert er ungehalten. Thüringen sei kein isolierter Fall in Deutschland oder Europa. Das sei billiger Klamauk, schimpft er im «Spiegel»-Podcast. Es zeigt die andere Seite des Linken-Politikers, der leicht reizbar ist und kritische Fragen gern wegbürstet.

Einzige Minderheitsregierung in Deutschland

Ramelow ist im niedersächsischen Osterholz-Scharmbeck geboren. Aber er sieht als Thüringer. 1990, als schon die Mauer gefallen war, die DDR aber noch bestand, ist er in die Region gekommen – und geblieben. Ramelow hat im Einzelhandel gelernt und war damals Gewerkschaftssekretär. Er ging nach Thüringen, um beim Aufbau gewerkschaftlicher Strukturen zu helfen. Bis 1999 war er Landesvorsitzender der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV). Dann wurde er erstmals in den Thüringer Landtag gewählt.

Gemeinsam mit seiner jetzigen Konkurrentin Sahra Wagenknecht und deren Ehemann Oskar Lafontaine war Ramelow massgeblich am Zusammenschluss der damaligen ostdeutschen PDS und der mehrheitlich westdeutschen WASG zur Partei Die Linke beteiligt. Ramelow erzählt diese Episode oft, wohl auch, um seine persönliche Enttäuschung zu begründen.

Über sich sagt er, er sei der einzige Ministerpräsident in Deutschland, der kein Studium absolviert habe und der eine Minderheitsregierung führe. In Thüringen hat das Bündnis aus Linkspartei, Sozialdemokraten und den Grünen keine Mehrheit, im Landtag fehlen vier Sitze. 2020 geriet die Landespolitik in schwere Turbulenzen, als sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD wählen liess. Drei Tage später trat er zurück, Ramelow wurde im zweiten Anlauf Ministerpräsident.

Bereitwillig erzählt Ramelow auch aus seinem Privatleben, von seiner Legasthenie oder seiner Kindheit in teilweise «bitterer Armut». Er ist in dritter Ehe mit einer Italienerin verheiratet, die – nach eigener Aussage – für seinen modischen Kleidungsstil verantwortlich ist. Jetzt habe er sich ein E-Bike zugelegt und sause als «Rentnerexpress» umher, erzählt er weiter. Dann gibt es noch Ramelow, den Hundefreund: Sein Jack-Russell-Terrier Attila hatte sogar einen eigenen Twitter-Account.

Überhaupt das Internet. Im Jahr 2021 gab es für kurze Zeit einen Hype um die Audio-Plattform Clubhouse. Hier erzählte Ramelow flapsig, wie er während der langen Corona-Krisensitzungen der Ministerpräsidenten Candy Crush gespielt habe, um den Kopf freizubekommen. Die damalige Bundeskanzlerin nannte er «Merkelchen». Der Sturm der Entrüstung braute sich schnell zusammen. Denn immerhin ging es bei den Besprechungen ja um weitreichende Freiheitseinschränkungen. Ein paar Jahre später gab Ramelow zu, er sei «ziemlich angetrunken» gewesen bei seinem Clubhouse-Talk.

Bis zur Landtagswahl ist Ramelow noch unermüdlich als Ein-Mann-Show unterwegs. Nur einmal lassen sich laut seinem öffentlichen Terminkalender Bundespolitiker blicken. Gregor Gysi und der Parteichef Martin Schirdewan treten mit ihm zusammen bei einem Friedensfest auf, wie es heisst.

Gefragt nach seinen Zukunftsplänen, gibt es einen typischen Ramelow: «Ich bin mit einem Kampfgrinsen bis zum 1. September unterwegs», sagt er. Was danach kommt, weiss wohl nicht einmal Ramelow selbst.

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