Der britische Schriftsteller hat die Kunst des historischen Romans zur Vollendung gebracht. Im Gespräch erzählt er, dass er in eine Krise geriet, als er über Hitler schreiben sollte, und warum es ihn reizt, den russischen Despoten zum Protagonisten eines Romans zu machen.
Der Brite Robert Harris gehört zu den raren Schriftstellern, die sich nicht zu schade sind, ihre Leser zu unterhalten. Und die zugleich überzeugt sind, man dürfe die Leser gerade darum auch intellektuell fordern. Wer eines seiner Bücher in die Hand nimmt, kann darum sicher sein: Man wird sich keine Minute langweilen und am Ende mehr wissen über die Exzesse der Politik, die Exzentrik der Mächtigen und die seichten, aber vergnüglichen Gewässer des Allzumenschlichen.
Gerade ist Robert Harris’ Roman «Abgrund» erschienen. Darin erzählt er, wie der britische Premierminister Herbert Asquith eine Liebesaffäre hatte und zur gleichen Zeit die Briten in den Ersten Weltkrieg führte. In diesen Tagen kommt auch der Film «Conclave» von Edward Berger in die Kinos (s. nebenstehenden Artikel), der auf Harris’ gleichnamigem Buch von 2016 beruht. Wir treffen uns in München, wo Harris seinen neuen Roman vorstellt. Auf die Frage, wie ihm der Film gefalle, sagt er ohne Zögern: «Er ist brillant. Er bleibt dem Buch treu und überhöht es.»
Herr Harris, Sie sind gerade in Deutschland auf Lesereise. Wenn Sie von hier aus hinüber nach England schauen, was sehen Sie da?
Ein Land, das zugleich stagniert und sich rasch verwandelt. Eines, das sich mit dem Brexit aussen- und wirtschaftspolitisch isoliert hat, ohne für den Verlust einen Ersatz geschaffen zu haben. Ein Land mit riesigen Talenten und fehlender Führung.
Wie würden Sie den Wandel dieses Landes beschreiben?
Die Immigration hat die Bevölkerung massiv verändert. Die Proteste rund um den Gaza-Krieg haben uns das Ausmass der muslimischen Zuwanderung und die politische Kraft der Muslime vor Augen geführt. Das wird uns in den kommenden Jahren noch stark beschäftigen.
Sehen Sie darin eher Gefahren als Chancen?
Ob die Zuwanderung uns nützt oder schadet, bleibe dahingestellt. Sie ist ein Faktum und eine Notwendigkeit. Wir werden ohne Zuwanderung nicht überleben. Die einheimische Bevölkerung schrumpft, sie ist überaltert, und die Zahl der Beschäftigten nimmt ab. Das ist ein Desaster. Wer soll den teuren Wohlfahrtsstaat finanzieren? In ein paar Jahren werden Industrienationen um Arbeitskräfte ringen. Man wird die Flüchtlinge nicht mehr aussperren, sondern um sie werben.
Ihr Roman «Abgrund» beginnt kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Das Land stürzte mit dem Krieg in eine gewaltige Krise. Begann damit der Untergang des britischen Imperiums?
Herbert Asquith regiert 1914 als Premierminister über einen Staat mit beinahe einer halben Milliarde Einwohner. Das Empire hat noch bis 1922 Bestand, dann zerbricht es. Heute, nur hundert Jahre später, ist das Land gerade noch ein Schatten seiner einstigen Grösse. Das ist ein bemerkenswerter Kollaps, wenn man bedenkt, dass Grossbritannien den Krieg gewonnen und nicht etwa verloren hat.
Sind die Briten womöglich nie ganz über den Verlust ihrer Grösse hinweggekommen?
Ein solcher Verlust hinterliesse in jedem Land unauslöschliche Spuren. Zugleich sollte man dieses nostalgische Festhalten an der imperialen Vergangenheit in seiner Bedeutung für den Gefühlshaushalt der Bevölkerung nicht unterschätzen. Ich glaube, dass wir noch nicht ausreichend darüber nachgedacht haben, was der plötzliche Verlust dieses kolossalen Empires in der nationalen Psyche angerichtet hat.
Würden Sie es als Phantomschmerz bezeichnen?
Man könnte es so nennen. Allerdings muss man gleich hinzufügen, dass die grosse Mehrheit der Briten keine wirtschaftlichen Vorteile vom Empire hatte. Es handelt sich also nicht um einen Wohlstandsverlust. Der Schmerz betrifft allenfalls das beschädigte Selbstwertgefühl und die nationale Identität. Darum auch der Brexit mit seiner trotzigen Selbstbehauptung.
1914 stand das britische Imperium als Weltmacht im Zenit und zugleich kurz vor dem Zusammenbruch. Und an seiner Spitze regierte mit Herbert Asquith ein Premierminister, der die Frivolität der späten Grossmacht verkörperte. Was für ein Mensch war Asquith?
Er war ein notorischer Schürzenjäger. Es war jungen Frauen ganz entschieden davon abzuraten, sich mit ihm allein auf den Rücksitz eines Taxis zu begeben. Seit 1910 unterhielt er eine Korrespondenz mit der 35 Jahre jüngeren Venetia Stanley, einer Freundin seiner Tochter. Das Verhältnis entwickelte sich zu einer Affäre und erreichte ausgerechnet zu Beginn des Krieges einen Höhepunkt. Sie sahen sich regelmässig und schrieben sich täglich Briefe, mitunter gingen bis zu drei Briefe am Tag hin und her.
Sie schildern diese Liebesaffäre vor dem Hintergrund von Kriegsgefahr und Kriegsausbruch. War es auch eine Staatsaffäre?
Wenige Eingeweihte wussten davon. Asquiths Ehefrau zum Beispiel, die die Eskapaden ihres Mannes duldete, aber auch einige aus seinem Kabinett. Man kann nicht sagen, dass Asquith die Regierungsgeschäfte vernachlässigt hätte. Venetia wurde ihm zu einer engen Vertrauten, mit der er politische Fragen besprach und die er zu beeindrucken versuchte, indem er ihr auf ihren gemeinsamen wöchentlichen Ausfahrten geheime Staatsdokumente zeigte. Um seine Nonchalance zu demonstrieren, zerriss oder zerknüllte er diese anschliessend und warf sie aus dem Wagenfenster. Passanten fanden sie, brachten sie zu Scotland Yard, doch dessen Nachforschungen verliefen im Sand.
War er ein Sicherheitsrisiko?
Potenziell ja. Und auf jeden Fall führte sein lockerer Umgang mit geheimen Dokumenten zu einem fatalen Fehler in der Kriegslogistik. Eines dieser Papiere warnte den Premierminister vor einem Mangel an Granaten in den Dardanellen. Asquith schickte es Venetia mit der Post, erinnerte sich später in den Beratungen falsch und bestritt, dass den Truppen Granaten fehlten. Es war einer von Asquiths schwerwiegendsten und folgenreichsten Irrtümern.
Es ist erstaunlich, dass die Geschichtswissenschaft diese Affäre so lange übergangen hatte, wo doch sämtliche Briefe von Asquith erhalten geblieben sind. Es musste offenbar ein Romancier kommen, um diese Geschichte ans Tageslicht zu heben.
Die Geschichte ist allerdings auch absolut zerstörerisch für die Reputation des Premierministers. Es gab gute Gründe, sie nicht öffentlich zu machen. Auch das ist ein Teil der britischen Mentalitätsgeschichte: die Frivolitäten kurz vor dem Untergang des Empires und die Frivolität der nachkommenden Generation, die nicht wissen wollte, was ihre Vorfahren getan oder unterlassen hatten.
Sie haben Romane über Cicero geschrieben, über Chamberlain und Tony Blair. Macht scheint sie zu faszinieren. Sogar Hitler geistert durch zwei Ihrer Romane. Wie kam das?
In «München» habe ich über das Münchner Abkommen von 1938 geschrieben, das von Hitler, Chamberlain, Daladier und Mussolini ausgehandelt wurde. Ohne den Führer ging das nicht. Er erscheint allerdings nur in den Beobachtungen von zwei jungen Männern. Ich verbat mir, in seinen Kopf hineinzugehen. Das war eine rote Linie.
War das schmerzhaft, ihm Platz einzuräumen als literarischer Figur?
Es war eine der wenigen Krisen, die ich als Schriftsteller erlebt habe. Plötzlich steht Adolf Hitler im Raum, und ich sollte ihn beschreiben. Ich war paralysiert, und ich rief auf der Stelle meine Verlegerin an und gestand ihr, dass ich das Buch nicht schreiben könne. Sie nahm den nächsten Zug, beredete mich. Ich ging zurück an den Schreibtisch, schrieb die Szene nieder, und ich kam damit durch.
Im Roman «Abgrund» spielt Churchill eine Nebenrolle als Chef der Admiralität in Asquiths Kabinett. Sie zeichnen ihn als extrem ambitioniert und auch etwas zwielichtig.
So war er. Er ist 39 Jahre alt, und er gilt als das grosse aufsteigende Genie der britischen Politik, ein Wunderkind. Zugleich misstrauen ihm alle. Er ist ein imperialistischer Abenteurer, seine Mutter war Amerikanerin, der Vater starb an Syphilis. Man hält ihn für brillant und verrückt in einem, was wohl zutrifft.
In Ihrem Roman wird ihm vorgeworfen, er sei für den Krieg gemacht und führe sich wie ein kleiner Napoleon auf. Trotzdem scheinen Sie Sympathien für ihn zu haben. Wann schreiben Sie den Churchill-Roman?
Er war unerschütterlich in seinem Ehrgeiz. Am liebsten wäre er auf der Stelle Premierminister geworden. Viele sagen ihm nach, er sei nur an seiner Karriere interessiert gewesen, ihr habe er alles untergeordnet, auch das Wohl der Soldaten. Zugleich ist er unwiderstehlich, man muss ihn mögen. Ich werde über ihn schreiben müssen, aber noch nicht jetzt, ich werde noch etwas warten.
Wieso zögern Sie?
Ich will nicht die alten Klischees reproduzieren. Wobei das Schreckliche an Klischees darin liegt, dass sie im Grunde wahr sind. Man sagte von ihm, er habe täglich zehn Ideen, von denen neun desaströs seien und eine sich vielleicht als brillant erweise. Er hatte tatsächlich unrecht in fast allem, was er in der Öffentlichkeit sagte, einmal aber hatte er recht, und es war das Grösste, was er vollbracht hatte: Als im Sommer 1940 der britische Widerstand gebrochen schien, überzeugte er die Menschen, den Deutschen standzuhalten. In diesem Augenblick entschied sich das Geschick Grossbritanniens. Und es war sein Verdienst.
Was macht politische Herrscher interessant? Sind sie Kristallisationspunkte, die Epochen zur Kenntlichkeit kommen lassen?
Die griechischen Tragödien oder Shakespeares Königsdramen: das war einmal ein bedeutendes Genre. Die Figuren faszinierten, weil sich in ihnen das Staatswesen verkörperte, mit all seinen Widersprüchen und all seiner Hybris. Heute schrumpft die Literatur aufs Mittelmass einer kleinen Provinzstadt. Aber was für ein erhebendes Gefühl, wenn man die Schmerzgrenze überschreitet und die grossen Herrscher als Romanfiguren neu erfindet. Die Imagination lässt sie in Lebensgrösse und wahrer als in jedem Geschichtsbuch hervortreten.
Vor lebenden Politikern scheinen Sie zurückzuschrecken. Tony Blair ist der einzige, über den Sie einen Roman geschrieben haben.
Wirklich? Ich weiss es nicht so genau, ich verliere den Überblick über alle meine Bücher.
Würden Sie über Wladimir Putin schreiben wollen?
O ja, das wäre sehr verlockend. Ich fände es grossartig, bloss möchte ich nicht zu Tode kommen.
Wie kommen Sie darauf?
Na ja, ich habe keine Lust, dass man mir eine Flasche Nowitschok nach Hause liefert. Aber ja, die Aufgabe wäre höchst interessant und faszinierend. Allerdings ist die Lage sehr dynamisch und ändert sich so schnell, dass Putin gestürzt werden könnte, ehe das Buch erschienen wäre.
Würde es Sie nicht stören, so viel eigene Lebenszeit an jemanden hinzugeben, der so viele Leben auf dem Gewissen hat?
Das spielt keine Rolle, auch wenn es mich zwei Jahre harte Recherche kosten würde. Mich interessieren die Macht und das Schreiben über Macht. Es gibt nur sehr wenige Herrscher, denen es gelungen ist, so viel Macht zu erlangen und solchen Einfluss zu haben auf das Geschehen in der Welt wie Putin. Wie könnte ich die Gelegenheit versäumen – nur Nowitschok spricht dagegen.