Sonntag, November 24

Jil Sander konnte weder nähen noch Schnittmuster machen, aber sehen «wie der Blitz». Ihre Entwürfe sind bis heute stilprägend. Zu Besuch bei der grössten deutschen Modedesignerin.

Natürlich ist das Buch nicht pünktlich fertig geworden. Alles andere wäre bei ihr auch fast eine Enttäuschung gewesen. Jil Sander hat sich ihr Leben lang nie leicht zufriedengegeben. Ihre Mode war Ausdruck eines ständigen Perfektionierens. Ihre Worte «noch nicht» sind legendär, weil so oft etwas noch nicht stimmig genug, noch nicht modern genug, noch nicht passgenau war.

Als wir sie im vergangenen November in Hamburg besuchten, war das Buch «Jil Sander by Jil Sander» also «noch nicht ganz fertig», obwohl es ursprünglich anlässlich ihres 80. Geburtstages am Ende desselben Monats erscheinen sollte.

Erst vor kurzem ist der Bildband nun auf den Markt gekommen. Er gibt einen tiefen Einblick in ihr Werk und ihr Denken, verrät aber nur wenig über die Person Jil Sander, und auch das ist keine wirkliche Überraschung. Sander warb in den 1980ern zwar mit dem eigenen Gesicht für ihre Parfums und Kosmetik. Als beruflich erfolgreiche Frau und Vorreitern konnte es kein besseres Aushängeschild für ihre Marke geben. Aber die Privatperson Sander war nie ein Socializer.

Die Norddeutsche gilt als scheu, vor allem gibt sie ungern die Kontrolle über ihr Bild in der Öffentlichkeit ab. Interviews gewährt sie fast nur schriftlich, auch das folgende. Damit sie jeden ihrer Gedanken abwägen oder noch einmal ändern kann, falls sie mit ihrer Antwort noch nicht zufrieden ist. Die wenigen verfügbaren Portraits von ihr sind mehr als 30 Jahre alt.

Dabei versteckt Sander sich keineswegs. Vor elf Jahren kehrte sie sogar kurzzeitig als Designerin zu ihrem Label zurück und führte, wie früher, im Showroom persönlich durch die Kollektionen. Bis ihre langjährige Lebensgefährtin verstarb und sie der Mode erneut den Rücken kehrte.

Seitdem scheint sie kaum gealtert zu sein. Die blonden Haare sind noch immer gewellt und schulterlang, der Teint ist auch ohne Make-up sanddünenfarben, der Blick wach. Natürlich hat sie sich für ihr Buch trotzdem nicht neu fotografieren lassen. Ausgerechnet die Frau, die den Blick immer nach vorn gerichtet hat, wirkt dadurch unfreiwillig rückwärtsgewandt.

Im persönlichen Umgang dagegen ist Heidemarie Jiline Sander, wie sie mit vollem Namen heisst, überraschend warm und nahbar. Wenn sie einmal jemanden in Hamburg in ihrer weissgetünchten Arbeitsvilla mit Blick auf die Aussenalster empfängt, nimmt sie sich Zeit und redet offen über ihr Leben, erzählt von Ausflügen in den Baumarkt («für den Garten!») oder davon, wie albern sie dieses Bild von ihr mit der Schaufensterpuppe im Arm immer fand, das sie zu ihren Anfängen in den siebziger Jahren zeigt, als sie in Hamburg eine Boutique für Damenmode eröffnete. Erwartungsgemäss ist die Aufnahme nicht in ihrem Buch enthalten – und darf leider auch nicht mehr publiziert werden.

An dem Schreibtisch, an dem sie noch heute sitzt, entwarf sie früher die Schnitte, die dann Frauen überall auf der Welt tragen wollten. Stolz erzählte sie, dass amerikanische Einkäufer nur ihretwegen bis in den hohen Norden reisten, um die Kollektion zu ordern. Zu wichtig waren die Umsätze, die die Einkäufer mit der Mode der Deutschen machten. Sogar zum Kapitel Prada – der Konzern, an den sie ihre Marke 1990 verkaufte – äusserte sie sich und gibt zu, wie emotional es war, ihren Namen und quasi ihr gesamtes stoffliches Archiv zu verlieren. Nur um nach ein paar Stunden zu erklären, dass sie das «richtige» Interview später natürlich schriftlich geben werde. Jil Sander bleibt Jil Sander.

Frau Sander, stimmt es, dass «selber machen» eines Ihrer ersten Wörter war als Kind?

Jil Sander: Nicht ganz. Es war «leine machen». Ich wollte mich auch früh immer alleine anziehen.

Ihr Buch heisst nun «Jil Sander by Jil Sander» – warum brauchte es diesen Zusatz? Um zu zeigen, dass dieses Buch Ihre Sicht der Dinge ist und nicht jemand anderes über Sie schreibt?

Das auch, aber es ging mir darum, dass so ein Buch gestaltet wird und ich nicht zum Objekt eines beliebigen Bildbands werden wollte. Ich habe die Gestaltung meinen Vorstellungen angepasst.

Es gab da ja zum Beispiel die Biografie, die pünktlich zu Ihrem 80. Geburtstag vergangenes Jahr erschien. Sie mochten es nicht, dass jemand anderes über Sie schreibt?

Ich wertschätze, dass Frau Wiesner (die Autorin, Anm. der Red.) sich die Mühe gemacht hat.

Im Pressetext Ihres neuen Buches steht nun, es sei ein «ultimatives Vermächtnis». War das Ihr Anliegen?

Diese Formulierung kam nicht aus meiner Feder. Wollen wir doch mal sehen, ob es nicht noch weitergeht mit dem Vermächtnis.

«Ich habe mich als Prototyp gesehen und alles, was ich entworfen habe, am eigenen Körper getestet.»Jil Sander

Sie waren in den achtziger Jahren eine der ersten «Selfmade Frauen in der Mode», die erste Frau an der Spitze eines DAX-Unternehmens. Erinnern Sie sich noch an Reaktionen von Männern damals?

Ich erinnere mich an ungläubige Bemerkungen auf Cocktailpartys.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Gelassen, ich kannte ja das Potenzial meiner Marke.

Hatten Sie das Bedürfnis, das, was Sie geschafft hatten – nämlich als Geschäftsfrau ernst genommen zu werden –, nun auch anderen Frauen zu ermöglichen und ihnen die passende Garderobe dafür zu entwerfen? Die «Vogue» nannte sie einmal «Fashion’s First Feminist».

Natürlich, das habe ich auch immer gesagt. Ich war ja nur eine von vielen Frauen, die sich nach dem Krieg freigeschwommen haben. Ich habe mich als Prototyp gesehen und alles, was ich entworfen habe, am eigenen Körper getestet. Meine Mutter hat mir in der Kindheit Cordhemden genäht und sie an mir gefittet. Das habe ich später dann selbst gemacht.

Würden Sie sagen, dass Frauen damals auch durch Kleidung bewusst klein und weiblich gehalten wurden?

Sie waren dekorative Schauobjekte, die viel Zeit in ihre Erscheinung investieren mussten. Ich sage nur: Dauerwelle. Man nahm sie als Typus wahr und nicht als gleichberechtigtes Gegenüber. Ich habe mich um eine diskretere Oberfläche bemüht. Die Kleidung sollte Selbstbewusstsein vermitteln und den Kopf ins Spiel bringen, nicht sexuell aufgeladen sein. Bis in die 1960er Jahre sind die Frauen der Entwicklung in der Kleidung hinterhergehinkt. Der männliche Anzug war viel zeitgemässer. Darum ist mir Modernität in Stoffen, Proportionen und Schnitten so wichtig. Ein avancierter Stil, kann eine Frau sichtbar in die Zukunft torpedieren. Modernität fordert Respekt.

«Ich war auf der Suche nach Vorbildern für eine friedliche, zukunftsorientierte Gesellschaft.»Jil Sander

Ihre Ruhe selbst in schwierigen Verhandlungen gilt als legendär. Woher nahmen Sie dieses Selbstbewusstsein?

Da verweise ich wieder auf meine Mutter: Sie hatte ein sonniges Gemüt und hat an das Gute geglaubt. «Wenn du denkst, der Hund beisst nicht, dann beisst er dich auch nicht», hat sie immer gesagt. Mein Vater hatte einen Autohandel, er war Geschäftsmann und gewohnt, in aller Ruhe zu verhandeln. Davon habe ich auch gelernt. Das Selbstbewusstsein kam mit der Fokussierung, ich wusste genau, wohin ich wollte. Bei Konferenzen unter Männern gab es Rituale, die alles in die Länge zogen, gemeinsame Lunchpausen zum Beispiel. Die Ruhe hat mir dabei geholfen, mich in Verhandlungen zu konzentrieren und schneller zum Ziel zu kommen. Ich habe eine Affinität zu asiatischen Umgangsformen, die direkte Konfrontationen eher vermeiden. Das spiegelt sich auch in meiner Modevision.

Sie sind 1944 geboren. Wie war Ihre Kindheit im Nachkriegsdeutschland? Lernten Sie in dieser Zeit des Aufbruchs, dass kein Stein auf dem anderen bleiben muss? Dass Dysfunktionales neue Lösungen braucht?

Es stand damals ja kein Stein mehr auf dem anderen. Mein Bruder und ich sind an Trümmerwänden vorbeigelaufen, um in unser Badehaus zu kommen. Nüchtern betrachtet gab es keine Alternative zu neuen Lösungen, auch wenn viele versucht haben, an Altes anzuknüpfen.

Sie gingen mit 18 zwei Jahre nach Los Angeles, das war ungewöhnlich für diese Zeit. Was haben Sie dort gelernt, was Sie später in Ihrer Karriere nutzen konnten?

Ich war auf der Suche nach Vorbildern für eine friedliche, zukunftsorientierte Gesellschaft. In Kalifornien habe ich eine Ahnung davon gewonnen, wie entspannt, auch für Frauen, der Lebensstil sein kann.

Sie hatten eine Ausbildung als Textil­ingenieurin gemacht, konnten aber weder nähen noch Schnittmuster machen. Dafür können Sie «sehen wie der Blitz» – was meinen Sie damit?

Mein Gehirn speichert alles, was ich sehe. Es verfügt über so etwas wie den Goldenen Schnitt, einen Massstab für das Überlebte. Erst aus dem Überdruss über das Alte ergibt sich ein Sinn für das Neue, das man eher fühlt, als vor sich sieht. Ich sehe es, wenn es da ist, aber bis dahin müssen wir lange durchhalten, fitten, verwerfen und von vorne anfangen. Wenn ein Entwurf gelungen ist, sieht es so aus, als hätte ich gar nichts gemacht. Dann steht er für sich selbst.

Haben Sie diesen Blick noch heute? Sehen Sie beispielsweise bei Kleidung auf der Strasse immer sofort, ob die Proportionen stimmen, oder stört es Sie, wenn Gebäude nicht stimmig sind?

Den Blick verliert man nicht. Und ja, bei Freunden muss ich mich zusammenreissen, damit ich nicht gedankenlos die Einrichtung verrücke.

Ihre Mode strahlte immer eine grosse Stimmigkeit aus. Sind Sie auch privat ein harmoniebedürftiger Mensch?

Ich hasse Streit und möchte konstruktiv kommunizieren. Aber Harmonie ist ein Wort, dem ich nicht ganz zustimme. Harmonien ändern sich mit der Zeit, was uns heute anspricht, ist morgen langweilig. Darum sage ich, dass meine Mode nicht klassisch ist. Die Klassik glaubte an zeitlose Masse und Proportionen. Mies van der Rohe dagegen hat in seiner Neuen Nationalgalerie gezeigt, dass man auch goldene Regeln in die eigene Zeit übersetzen muss, damit sie mit ihr harmonieren.

Aber wie erreicht man das? Warum fällt das anderen Designern so schwer?

Andere Designer haben andere Ziele.

«Man kann sagen, dass mein Design vom nördlichen Klima beeinflusst ist.»Jil Sander

Oft hiess es, die Eleganz Ihrer Kollektionen grenze an etwas Klösterliches. Stimmt es, dass Sie sich vor Ihren Fashion-Shows oft da Vincis «Abendmahl» im nahe gelegenen Kloster Santa Maria delle Grazie anschauten?

Ich habe dort gebetet, damit alles gut läuft. Denn eine Presseshow ist eine grosse Herausforderung, bei der viel schiefgehen kann. «Das Letzte Abendmahl» befindet sich im Refektorium des Klosters. Gegenüber im Palazzo delle Stelline, ebenfalls ein ehemaliges Kloster, haben wir jahrelang unsere Modeschauen in Mailand abgehalten.

Wenn es international um deutsche Mode geht, wird immer noch sofort Jil Sander als Referenz genannt. Ihr purer Stil galt und gilt als sehr deutsch. Würden Sie sich selbst als sehr deutsch bezeichnen?

Nein, aber man kann sagen, dass mein Design vom nördlichen Klima beeinflusst ist. Ich habe viele Mäntel und Jacken entworfen, wie man sie im Süden weniger braucht. Auch Farben wirken im strengen Nordlicht anders und brauchen mehr Subtilität. Der Bauhaus-Stil hat mir eine Richtung gegeben. Obwohl die Bewegung zwar in Deutschland gegründet wurde, aber ihre Protagonisten von Anfang an international waren.

Sie sagen, Sie behalten gern die Kontrolle, und aus Ihrem Mund klingt das keineswegs negativ konnotiert. Sind Sie stolz darauf, in Ihrem Leben immer weit­gehend die Fäden in der Hand gehalten zu haben? Über Stoffe, Qualität, die Menschen, mit denen Sie zusammenarbeiteten?

Ja, bin ich stolz darauf, dass ich früh Verantwortung übernommen und nicht geruht habe, bis ich mich meinem Team verständlich machten konnte und alle mit dachten. Es ist ein magischer Prozess, eine Idee zu vermitteln, denn die daraus resultierende kollektive Energie ist stark.

Sie sollen Ihre Mitarbeiter oft fast zur Verzweiflung gebracht haben mit Ihren hohen Ansprüchen.

Es waren so viele Fittings, dass ich mich heute an kein einzelnes mehr erinnern kann. Das gehört zum Modedesign, dass man nach jeder Kollektion leeren Tisch macht, auch im Kopf. Aber ich war ergebnisorientiert und habe nicht lockergelassen, bis das Ergebnis da war. Dazu gehörte, dass die Arbeit nach der Schau nicht vorbei war. Für die Kollektion haben wir alle Schnitte ab Grösse 40 überarbeitet und generell die globalen Schnitte den jeweils vorherrschenden Proportionen der Menschen in anderen Märkten angepasst. Für mich war das Ergebnis erst da, wenn nicht nur Models, sondern alle in den Entwürfen gut aussahen.

Auch bei der Stoffauswahl waren Sie erst zufrieden, wenn das Ergebnis Ihren Vorstellungen entsprach. Stimmt es, dass Ihre Hände nach jeder Stoffmesse ganz wund waren?

Ich hatte in unserem Headquarter in der Hamburger Osterfeldstrasse drei Konferenzräume, dahin kamen die Vertreter mit ihren Stoffkollektionen. Das war dann schon eine Vorauswahl und ausserdem langwierig. Deshalb bin ich zusätzlich direkt in die Fabriken und auf die Messen gefahren, wo ich an der Quelle war. Aber ja, am Ende waren meine Hände vom Ertasten Tausender Stoffproben immer aufgeraut.

Sie liessen beispielsweise die Stoffe aus Italien zur Qualitätskontrolle nach Ellerau schicken – und dann wieder zurück zur Fertigung. Eigentlich doch logistischer und ökologischer Wahnsinn.

Das war unvermeidbar für das gewünschte Ergebnis. Dafür gab es dann keine Retouren aus den Geschäften.

In den letzten Jahren war «quiet luxury» ein grosser Trend. Manche sagen, das ist eigentlich uralt, nämlich nur das, was Sie von Anfang an gemacht haben.

Ja, vorgeführter Luxus macht keinen Eindruck mehr. Der moderne Luxus liegt eher im Neuen, nicht im Preis. Deshalb habe ich angefangen, für die Lifewear-Marke Uniqlo zu entwerfen, mit der viele Käuferschichten erreicht werden konnten. Wir haben trotzdem eine hohe Qualität verwirklicht, auch wenn manche Luxusaspekte nicht möglich waren.

Sie bekommen immer noch Angebote aus der Modewelt – wann wird es die nächste Jil-Sander-Kollektion geben?

Im Moment ist keine weitere Modekollektion am Horizont. But never say never.

Der Belgier Dries van Noten trat kürzlich als einer der wenigen vorzeitig und freiwillig ab. Er sagt, Mode könne schnell zur Sucht werden. Stimmen Sie zu?

Wenn man etwas mit Hingabe macht, ist es immer eine Form der Sucht.

Jil Sander wird aktuell von der Schweizer Modedesignerin Lucie Meier und ihrem Mann Luke Meier entworfen. Haben Sie sie je getroffen? Gucken Sie sich die aktuellen Kollektionen an?

Ja, wir haben uns in Vorbereitung der Jil Sander-Ausstellung im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst 2017 kennengelernt. Die beiden sind reizende Menschen, und ich wünsche ihnen viel Glück.

Wie sieht Ihr Tagesablauf heute aus?

Ich gehe weiterhin am Morgen in mein Studio und verfolge neue Projekte.

Stimmt es, dass Sie sich für Astrologie interessieren? Was steht in Horoskopen über Ihr Wesen?

Ich habe Schütze- und Steinbock-Aspekte. Der Schütze hebt den abgeschossenen Pfeil auf und zielt in eine neue Richtung. Der Steinbock lässt über Stock und Stein nicht locker, bis er auf dem Gipfel ist. Ich habe beides in mir.

Sie haben mit Ihrer Mode immer nach Lösungen gesucht. Wofür haben Sie noch immer keine gefunden?

Es gibt unendlich viel, das nach neuen Lösungen sucht. Das ist Fortschritt.

Buchhinweis: Jil Sander, Ingeborg Harms, Irma Boom, Nadine Barth: Jil Sander by Jil Sander. Prestel-Verlag, Oktober 2024, 360 S., um 130 Franken.

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