Montag, Oktober 21

Ein Millionenpublikum befolgt die Tricks der selbsternannten Glukose-Göttin Jessie Inchauspé, um rundum gesund zu bleiben.
Fachleute sind skeptisch. Denn viele Behauptungen der französischen Biochemikerin lassen sich nicht belegen.

Gegen 15, 16 Uhr hatte die Journalistin und Influencerin Alexa von Heyden regelmässig diese Tiefs. Egal ob Kaffee, Cola, Süsses – nichts schien ihr bei der Arbeit wieder Energie zu geben. «Der Kopf war immer wie vernebelt», erzählt sie, an Arbeit war kaum noch zu denken. Sie wurde reizbar, begann sogar, manchmal die kleine Tochter anzuschreien.

Vor einem Jahr glaubte die 45-Jährige, sie habe die Ursache ihrer Probleme gefunden. Mit einem auf den Oberarm geklebten Sensor begann sie das Auf und Ab ihres Blutzuckers zu studieren. Solche Geräte für die sogenannte kontinuierliche Blutzuckermessung melden im 5-Minuten-Takt, wie viel Glukose – wie Fachleute den Blutzucker nennen – in den Gefässen schwimmt.

Alexa von Heydens erster «Augenöffner»: Morgens, nach dem ersten Hafermilch-Cappuccino und Fruchtsaft, schossen ihre Zuckerwerte explosionsartig nach oben. Wenig später ging es wieder steil bergab. Aus dem folgenden Loch konnte sie auch der tägliche Salat zum Mittag nicht mehr herausholen, das Gleiche galt für Kaffee oder süsse Riegel. Sie begann, die Glukose-Tricks, die sogenannten Hacks, von Jessie Inchauspé auszuprobieren.

Was der erhöhte Blutzuckerwert angeblich anrichtet

In ihrem Buch «Der Glukose-Trick» beschreibt die französische Biochemikerin, was man gegen eine solche Berg-und-Tal-Fahrt des Blutzuckers tun kann. Denn zu viele und zu hohe Glukosespitzen, behauptet sie, können nicht nur Heisshungerattacken und Stimmungstiefs auslösen. Wer sie mit den von ihr beschriebenen Esstechniken, den Hacks, vermeide, könne zum Beispiel auch Demenz, Depressionen, Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorbeugen.

Mit diesen Thesen hat sich die 32-Jährige in die internationalen Bestsellerlisten vorgeschrieben und auf Instagram fast fünf Millionen Follower um sich geschart. «Glucose Goddess», Glukose-Göttin, heisst ihr Account bescheiden. Und ihre Gemeinde berichtet im Buch tatsächlich von wundersamen Heilverläufen. Die konsequente Anwendung der Tricks ist allerdings mit weitreichenden Einschnitten in den eigenen Speiseplan verbunden. Süssigkeiten, Kuchen und Zucker verkneift sich Alexa von Heyden inzwischen. Denn sie enthalten besonders viele leicht verdauliche Kohlenhydrate. Und die werden vom Körper schnell aufgenommen, ruck, zuck in Glukosemoleküle zerlegt und lassen den Zucker dann nach oben schnellen.

Deshalb gibt es bei der Influencerin jetzt zuerst etwas Herzhaftes wie eine Bowl mit Tomaten, Ei und Avocado zum Frühstück. Der Grund: Sie enthält Fett, Eiweiss und Ballaststoffe, die verdauungsbremsend wirken. Und Kohlenhydrate im Gemüse, die nicht so schnell ins Blut übergehen.

Dem Glas Essig vor dem Essen hat die Influencerin dagegen wieder abgeschworen. Dieses wird von Jessie Inchauspé empfohlen, weil die Säure die Kohlenhydrataufnahme bremsen soll. Dafür geht Alexa von Heyden nach dem Essen oft spazieren – das reduziert die Peaks, die Zuckerspitzen.

Bleibt die Frage: Lohnt sich der ganze Aufwand wirklich? Kann man mit diesen Tricks das Wohlbefinden steigern und sogar schweren Erkrankungen wie Demenz oder Herz-Kreislauf-Beschwerden vorbeugen? Dieser Meinung ist nicht jeder.

Zum Beispiel der Direktor der Berner Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie und Ernährungsmedizin. Es gebe zwar die wissenschaftliche Beobachtung, sagt Christoph Stettler, dass gesunde Menschen mit einem stark schwankenden Glukosespiegel ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs hätten. Nur könne man diese Ergebnisse auch ganz anders deuten.

Wie viel der Blutzucker mit schweren Krankheiten zu tun hat

Denn Menschen mit hohen Blutzuckerspitzen neigten im Schnitt auch in anderer Hinsicht dazu, ungesund zu leben. Beispielsweise indem sie mehr ungesunde Fette und Kalorien zu sich nehmen, einen Bauch ansetzen und sich weniger bewegen. Deshalb könne man in solchen Studien nicht unterscheiden, welcher dieser vielen Risikofaktoren die entscheidende Ursache für die beobachteten Probleme ist.

Ähnlich schwierig sei es, die Entstehung neurologischer und psychiatrischer Probleme wie Depressionen oder Demenz auf einzelne Nahrungsbestandteile zurückzuführen, erklärt Paul Pfluger. Als Leiter der Abteilung Neurobiologie des Diabetes am Helmholtz-Zentrum München beschäftigt er sich mit dem Einfluss der Glukose auf das Gehirn.

«Studien, die auf solche Zusammenhänge hinweisen, existieren genauso für Fette und alle anderen wichtigen Nahrungsbestandteile», sagt er. Es gebe nie den einen Auslöser für solche Probleme. Die Risikofaktoren wirkten zusammen, verstärkten sich gegenseitig. «Gefährlich ist es, ungesund zu leben.»

Gesunde kommen gut zurecht mit Blutzuckerschwankungen

Und dann wäre da noch die Frage: Was sind überhaupt Glukosespitzen? Laut Jessie Inchauspé sollte Nichtdiabetiker bereits ein Anstieg von mehr als 30 Milligramm Zucker pro Deziliter Blut, kurz mg/dl, nach dem Essen alarmieren. «Dieser Wert ist nicht belegbar und völlig frei erfunden», sagt dazu der Ernährungsmediziner Hans Hauner von der Technischen Universität München.

Bei gesunden Westeuropäern wird ein solcher Anstieg zum Beispiel nach einem normalen Frühstück fast immer überschritten. Und auch nach dem Mittag- und Abendessen sind höhere Werte nicht selten. «140 mg/dl nach den Mahlzeiten sind deshalb völlig unproblematisch», sagt Hauner. «Für Gesunde sind auch kurze Peaks über 160, 180 kein Problem.» Um die 80 mg/dl liegt der Durchschnittswert bei Nichtdiabetikern vor dem Essen.

Denn: «Unser Körper ist so gebaut, dass er mit viel Glukose gut umgehen kann», erklärt der Münchner Paul Pfluger. Steigen die Werte stark an, schüttet die Bauchspeicheldrüse Insulin aus, das Hormon sorgt für die schnelle Aufnahme des Zuckers in die Zellen.

Problematisch würden hohe Werte nach dem Essen erst dann, wenn der Körper die Fähigkeit verliere, seinen Zuckerstoffwechsel selbst zu regulieren, sagt er. Das ist der Fall, wenn die Zellen nicht mehr adäquat auf Insulin reagieren, wenn sie taub für das Signal werden. Übergewicht ist die Hauptursache für eine solche Insulinresistenz. Denn Fettzellen produzieren Botenstoffe, die die Hormonfühler desensibilisieren. Aber schon Abnehmen, Sport oder mehr Bewegung im Alltag reichen, damit die Rezeptoren wieder empfindlicher werden.

Passiert jedoch zu wenig, verliert der Körper zunehmend die Fähigkeit, den Zucker aus den Blutgefässen abzutransportieren. Aus der Insulinresistenz wird ein Typ-2-Diabetes. In diesem Stadium haben die Betroffenen durchschnittlich mehr als acht Stunden am Tag Blutzuckerwerte jenseits der 140, nach den Mahlzeiten sind auch 180, 200, 220 mg/dl nicht selten. In so hohen Dosen werde der Blutzucker dann tatsächlich gefährlich, sagt Christoph Stettler.

Bei Diabetikern sei auch nachgewiesen, dass extreme und häufige Schwankungen zu einem erhöhten Risiko für Gefässe und viele Organe würden. Doch von solchen Belastungen sind Gesunde eben weit entfernt. Und bei Diabetikern werden die Effekte des Zuckers laut Stettler zudem durch andere Faktoren verstärkt: Durch eine chronische, durch das Fettgewebe angeheizte leichte Entzündung im ganzen Körper. Und eine Störung der Signalwege im Gehirn.

Der Fachmann warnt vor Pseudowissenschaft

Auch François Jornayvaz hat das Buch von Jessie Inchauspé gelesen: «Für mich ist das Pseudowissenschaft, was die Autorin betreibt», sagt der Leiter der Abteilung für Endokrinologie, Diabetologie, Ernährung und therapeutische Patientenaufklärung am Universitätsspital Genf. Mit dieser «fake science» vermittle Jessie Inchauspé den Menschen fälschlicherweise den Eindruck, sie wüssten jetzt, wie sie gesünder werden. Warum Jornayvaz dieses harte Urteil fällt? Er hat die wissenschaftlichen Studien, auf die sich die Autorin im Buch beruft, einer genaueren Prüfung unterzogen.

«Oft handelt es sich um Untersuchungen, die im Reagenzglas oder an Versuchstieren durchgeführt wurden», hat er festgestellt. Solche Ergebnisse haben sich bei Studien an Menschen schon sehr oft als falsch erwiesen. Andere hätten es wegen methodischer Mängel oder zu kleiner Teilnehmerzahl nie geschafft, in einer angesehenen Fachzeitung veröffentlicht zu werden. Häufig übertrage die Autorin auch einfach Ergebnisse von Diabetikern auf Gesunde. «Im Prinzip basieren ihre wilden Theorien vor allem auf Beobachtungen am eigenen Körper», sagt er.

Jessie Inchauspé verdient inzwischen sehr gut mit dieser Strategie. Im Internet verkauft sie Weiterbildungskurse für umgerechnet 2100 Franken, Rezepte und für 50 Franken im Monat ein Nahrungsergänzungsmittel namens Anti-Spike. Fragt man die Autorin, ob sie sich mit ihren Versprechen nicht ein bisschen weit aus dem Fenster lehne, drückt sie sich um eine klare Aussage: Natürlich sei die Reduktion von Blutzuckerspitzen nicht der einzige Weg zu einer besseren Gesundheit, antwortet sie. «Aber meine Hacks sind ein Einstieg für viele, die noch nicht wissen, wie sie es sonst schaffen sollen, ein gesünderes Leben zu führen.»

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Womit die Glukose-Göttin recht hat

Bei Alexa von Heyden haben die Tricks jedenfalls teilweise funktioniert. Ihr Wohlbefinden hat sich verbessert. «Ich habe mehr Energie, ich kann mich besser konzentrieren» – denn hier liegt Jessie Inchauspé tatsächlich richtig. Zwar sind viele ihrer Versprechungen rund um den Zusammenhang von Blutzuckerwerten und schweren Erkrankungen nicht belegbar, aber: Glukoseabstürze nach dem Essen können zu körperlichen Tiefs führen. Allerdings nur kurz, weil der Körper sofort gegensteuert. Längerfristige Schwächephasen nach den Mahlzeiten werden durch Hormone oder eine Umverteilung grosser Blutmengen in den Darm verursacht. Glukosehochs sind dagegen – anders als von Inchauspé behauptet – eher leistungsfördernd.

Ausserdem hat Alexa von Heyden zwei Kilo abgenommen. Beigetragen hat dazu wahrscheinlich, dass Kohlenhydrate, die langsamer resorbiert werden, flachere Zuckerpeaks mit sich bringen. Das Resultat: weniger Insulin im Körper. Und weil das Hormon dazu führt, dass die Fettzellen gemästet werden, kann weniger Insulin in den Gefässen Gewichtszunahmen vorbeugen. Zudem machen steile Blutzuckerabfälle oft hungrig.

«Viele Ratschläge von Jessie Inchauspé gehen durchaus in die richtige Richtung», sagt François Jornayvaz. Nur gäbe es die auch kompakter, dazu müsse man kein ganzes Buch lesen. Tipps wie viel Grünzeug auf dem Teller, selbst kochen, wenig naschen, nur langsam im Darm aufgenommene Kohlenhydrate verzehren, so etwas rieten Ernährungswissenschafter schon seit Jahrzehnten. Nur versprechen sie keine Wunder, wahrscheinlich wurden sie deshalb so oft überhört.

Ein Artikel aus der «»

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