Der Bundesrat spricht Gelder für Hilfsorganisationen in Gaza und richtet deutliche Worte an die israelische Regierung. Gewisse Politiker machen den Aussenminister seinerseits mitverantwortlich für die humanitäre Krise.
Die neutrale Schweiz ist nicht für scharfe Kritik an anderen Regierungen bekannt. In der Aussenpolitik setzt die Landesregierung lieber auf Höflichkeit, Diplomatie und Zurückhaltung.
Doch am Mittwoch ist der Bundesrat für seine Verhältnisse deutlich geworden. Er sei besorgt über die humanitäre Tragödie im Gazastreifen, teilte er mit: «Israel ist verpflichtet, die Bestimmungen des Völkerrechts einzuhalten, die ihm als Besatzungsmacht obliegen.» Dazu gehöre insbesondere die Anwendung der Genfer Konventionen, die Israel dazu verpflichten, die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, «und zwar unparteiisch und ohne Diskriminierung».
Die Krise in Gaza droht ein Ausmass auszunehmen, das die westlichen Staaten zunehmend besorgt. Zweieinhalb Monate lang blockierte Israel Nahrungsmittel und Medikamente, die für die Palästinenser bestimmt waren. Am Montag hat Netanyahu zwar angekündigt, wieder «minimale Hilfe» im Gazastreifen zu ermöglichen. Doch bis jetzt handelt es sich nur um ein paar Dutzend Lastwagen für knapp zwei Millionen Palästinenser.
Der Druck auf Israel steigt. Am EU-Aussenministertreffen in Brüssel hat sich eine Mehrheit dafür ausgesprochen, das sogenannte Assoziierungsabkommen zu überprüfen, und Kanada, Grossbritannien und Frankreich drohen in einer gemeinsamen Erklärung mit konkreten Schritten.
Der SP und den Grünen geht die Kritik des Bundesrats zu wenig weit, er müsse die «Kriegsverbrechen» benennen, fordern sie. So weit, so normal. Die Genfer Ständeräte Mauro Poggia (Mouvement citoyens genevois) und Carlo Sommaruga (SP) liessen sich auf Facebook allerdings zu persönlichen Anschuldigungen hinreissen, sie machten Aussenminister Ignazio Cassis mitverantwortlich für Verstösse gegen das Völkerrecht.
Geld für UNRWA – aber nicht in Gaza
Die ganze Diskussion spielte sich vor dem Hintergrund eines Finanzentscheids ab, welchen der Bundesrat am Mittwoch getroffen hat. Er will humanitäre Organisationen im besetzten palästinensischen Gebiet mit neun Millionen Franken unterstützen. Es handelt sich um das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), das Welternährungsprogramm (WFP), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie das Schweizerische Rote Kreuz und den Palästinensischen Roten Halbmond.
Dazu kommen elf Millionen Franken für das umstrittene Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA). Allerdings darf das Hilfswerk das Geld nicht in Gaza verwenden, sondern muss zehn Millionen in Jordanien, Libanon und Syrien ausgeben. Und eine weitere Million sollen Massnahmen mitfinanzieren, welche sicherstellen sollen, dass die UNRWA neutral agiert.
Der bundesrätliche Entscheid ist ein Zugeständnis an das Schweizer Parlament. Der Nationalrat wollte alle Hilfsgelder an die UNRWA streichen. Der Ständerat lehnte den Finanzierungsstopp zwar ab, forderte aber Reformen des Hilfswerks. Ausserdem muss der Bundesrat die beiden aussenpolitischen Kommissionen konsultieren, bevor er der UNRWA Geld überweisen darf.
Der Grund: Israel wirft der UNRWA vor, von Hamas-Terroristen unterwandert zu sein. Das Hilfswerk hat neun Mitarbeiter entlassen, weil es Indizien dafür gab, dass diese am Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 teilgenommen hatten. Eine externe Untersuchung attestierte der UNRWA zwar funktionierende Mechanismen in Bezug auf die Neutralitätsvorgaben, doch in Israel ist die UNRWA seit Anfang Jahr verboten.
Die Regierung ist gerade daran, die humanitäre Versorgung der Palästinenser neu zu organisieren und so der Kontrolle der Hamas zu entziehen. Das Vorgehen ist bis jetzt undurchsichtig und unter internationalen Hilfsorganisationen umstritten. Die westlichen Länder dürften ihre weiteren Schritte auch davon abhängig machen, ob es Israel gelingt, die Palästinenser zu versorgen.
Israels Regierung weist Kritik zurück, ebenso wie die Verantwortung für den Krieg. Den letztgenannten Punkt teilt auch der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG). Dessen Präsident Ralph Friedländer erinnerte an der Delegiertenversammlung am Sonntag daran, dass die Hamas die Hauptverantwortung für die gegenwärtige Situation trage, und zitierte den israelischen Präsidenten Yitzhak Herzog: «Die Freilassung aller Geiseln ist der Schlüssel zum Frieden.» Doch auch Friedländer appellierte an Netanyahu: «Die Menschen in Gaza brauchen Hilfe.» Die israelische Regierung müsse akzeptieren, dass sie auch eine Verantwortung für die Zivilbevölkerung in Gaza habe.