Sonntag, November 24

Zu lange hat man im Westen dem Treiben radikaler Muslime tatenlos zugeschaut aus Sorge, man könnte als islamophob gelten. Das hat es den Islamisten ermöglicht, sich auszubreiten, schreibt die Politologin Ayaan Hirsi Ali.

New York. London. Paris. Madrid. In den letzten drei Jahrzehnten wurden diese Städte zu unterschiedlichen Zeiten und mit wechselnder Intensität von einer Terrorwelle erfasst, die sich alsbald über den gesamten Westen ausgebreitet hat. Sie hat die verschiedenen Gruppen in der Bevölkerung gegeneinander aufgebracht und zugleich alle um ihr Leben fürchten lassen. Die Angriffe sind sich ähnlich, in den Einzelheiten unterscheiden sie sich.

Manchmal handeln die Angreifer allein, manchmal in Zellen. Oft schlagen sie wahllos zu, ein anderes Mal nach monatelanger, sorgfältiger Planung. Doch alles in allem hat der Terror einen Namen. Nicht Islam, sondern Islamismus – politisch, messianisch, totalitär. Am 7. Oktober 2023 schlug er in Israel erneut zu, als die Hamas Hunderte von unschuldigen Juden ermordete und viele weitere entführte.

Es gibt zahlreiche Parallelen zwischen dem Massaker im vergangenen Jahr und seinen Vorläufern in New York und Paris. Wie bei der Terrorattacke von 9/11 folgten auf die Schrecken am 7. Oktober 2023 zunächst ein Schock und dann die Rufe nach massiven Vergeltungsmassnahmen.

Und wie nach 9/11 kam es postwendend zu einer massiven antiisraelischen und antisemitischen Gegenreaktion. In den letzten zwölf Monaten sahen die Universitäten und die Strassen westlicher Städte eine präzedenzlose Welle des Antizionismus. Das Ausmass übertraf sogar den Antiamerikanismus in den frühen 2000er Jahren, in den sich die Wut der Linken gesteigert hatte.

Vor zwei Jahrzehnten lösten die amerikanischen Invasionen in Afghanistan und im Irak grosse Protestaktionen aus. Verbreitet waren die Aufrufe, dass die Truppen zu Hause bleiben sollten, ähnlich wie heute in Gaza und in Libanon vehement ein Waffenstillstand gefordert wird. Und wie nach dem 11. September erwies sich die Gegenreaktion als komplex bis unwirksam. Die USA hielten in Afghanistan bis 2021 durch. Heute ist Israel damit beschäftigt, seinen Krieg gegen die Hamas auf Libanon auszuweiten – und vielleicht bald auch auf Iran.

Grosser Denkfehler

Doch die stärkste Parallele zwischen diesen früheren Greueltaten und dem 7. Oktober sind nicht die Ausbrüche von Gewalt, auch nicht die Reaktion oder die darauf folgende Eskalation. Es ist der Begriff, mit dem ich angefangen habe. Es ist der Islamismus und die Art und Weise, wie der Westen sich konsequent weigert, seinen wahren Feind zu benennen. Ich meine die Muslimbruderschaft, aus der die Hamas hervorgegangen ist, zusammen mit anderen Barbaren, die nur darauf warten, an diesem Jihad teilzunehmen.

Am 12. September 2001 erklärten die USA den «Krieg gegen den Terror». Aber Terror ist eine Taktik, keine Ideologie. In späteren Jahren, als der Feind sich ausbreitete und uns zu Hause in vielen westlichen Städten angriff, nannten wir ihn «gewalttätigen Extremismus» und warfen ihn in einen Topf mit Faschismus und anderen Formen des einheimischen Eiferertums.

Dies geschah erstens und vor allem, weil der Feind uns sagte, er kämpfe im Namen des Islam. Wir weigerten uns kategorisch und weigern uns immer noch, einen Krieg gegen eine der grossen Religionen der Welt zu führen. Zweitens dachten wir, wir könnten unsere enormen militärischen und geheimdienstlichen Ressourcen nutzen, um den Feind zu schwächen und zu vernichten, ohne in die Falle zu geraten, einen Krieg mit einem Fünftel der Menschheit zu beginnen. Wir begingen einen Denkfehler: Wir haben den Unterschied zwischen Islam und Islamismus – zwischen Muslimen und der Muslimbruderschaft – nicht verstanden.

Islamisten breiten sich aus

Indem wir es versäumt haben, den Islamismus als unseren Feind zu benennen, haben wir es ihm ermöglicht, sich auszubreiten. Man denke zum Beispiel daran, was in Afghanistan geschehen ist. Zwanzig Jahre lang kämpfte der Westen gegen diesen namenlosen Feind und gab Billionen von Dollar aus. Aber nachdem Tausende ihr Leben geopfert hatten, überliessen wir das Land den islamistischen Schergen der Taliban.

Es war einer der schändlichsten Rückzüge in der amerikanischen Geschichte, getarnt durch schäbige politische Zweckmässigkeit. Wir haben weggeschaut, als die Islamisten die afghanischen Frauen und Minderheiten in ein weiteres dunkles Zeitalter zurückkatapultierten.

Es gab auch noch andere Folgen, die oft viel näher an unserem Zuhause lagen. Während wir geschwiegen haben, haben sich die Muslimbruderschaft und ihre zahlreichen Ableger in westlichen Städten, von australischen Universitäten bis zu den Vorstädten von Manchester, still und leise festgesetzt. Unser Schweigen hat es ihnen ermöglicht, Moscheen zu bauen und Schulen zu übernehmen, und es hat ihnen erlaubt, sich als vermeintliche Sprecher aller Muslime im Westen aufzuspielen.

Diese anhaltende Abneigung, den Feind vor uns zu sehen und ihn zu benennen, ermöglichte es ihm, sich in immer mehr Herzen einzunisten. Da immer mehr verzweifelte Menschen aus kriegsgebeutelten Ländern zu uns kommen, finden viele von ihnen Trost in einer neuen Gemeinschaft in ebendiesen Moscheen und Schulen sowie im Internet.

Und für diejenigen unter uns, die nicht bereit sind, beide Augen vor dieser neuen Wirklichkeit zu verschliessen, stehen die Freunde der Islamisten mit ihren bewährten Anschuldigungen der Islamophobie bereit. Sie werden den Argwohn gegen ihre Kritiker mit Bedacht schüren, um eine Diskussion über die wahre Natur der Bedrohung, die der Islamismus darstellt, zu verhindern. Alle Kritiker der Muslimbruderschaft und ihrer Ableger werden als rassistisch und intolerant diffamiert. Ihnen, die den hasserfüllten Islamismus entlarven, wird unter dem Namen Islamophobie Hass und Diskriminierung vorgeworfen.

In ihrem Bemühen, die Diskussion zu verunmöglichen, werden die Islamisten von der ideologischen Linken unterstützt und gefördert. In Europa verkündet diese ihren Glauben an den Multikulturalismus, der den Vorwand gibt, Kritik am Islamismus zu diskreditieren. In Amerika sind es die «Social Justice Warriors», die auf dem Campus und in den angrenzenden Institutionen diese Arbeit verrichten.

Araber machen es vor

Wir befinden uns, zumindest im Moment, in einer Sackgasse. Mehr als zwanzig Jahre nach den Anschlägen auf das World Trade Center und nur ein Jahr nach dem 7. Oktober weigern sich viele im Westen immer noch, den Feind klar zu benennen. Die Ironie besteht darin, dass gegenüber dem Islamismus nicht alle so unentschlossen vorgehen wie wir im Westen. Man denke nur an Saudiarabien, den Gründungsort des Islams, den Beschützer von Mekka und Medina, der dennoch die Muslimbruderschaft verboten hat.

Eine ganze Reihe anderer muslimischer Länder hat Ähnliches geschafft: Syrien, Jordanien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten. Dies ist eine verblüffende Veränderung. Noch im letzten Jahrhundert hiessen die Saudi die Bruderschaft willkommen, überliessen ihr die Leitung von Schulen und Moscheen und finanzierten die Islamisten, damit sie ihre Ideologie in der gesamten Region und darüber hinaus verbreiten konnten.

Ich habe dies in Kenya aus nächster Nähe miterlebt. Sie kamen zu uns nach Hause, als ich erst fünfzehn war, und sie übernahmen die Kontrolle über unsere örtliche Moschee. Wenn ich die Muslimbruderschaft besser kenne als viele, dann liegt es daran, dass ich als Teenager für sie rekrutiert wurde.

Zunächst glaubten die Saudi, sie und die Bruderschaft seien ideologisch gleichgesinnt. Aber die Islamisten offenbarten schliesslich ihr wahres Gesicht und versuchten, das Königshaus zu stürzen. Daraufhin trieben die saudischen Prinzen die Vertreter der Muslimbrüder zusammen und entfernten sie aus ihren Schulen, Moscheen, Zeitungen – und verwiesen sie zuletzt des Landes.

Heute, ein Jahr nach dem abscheulichen Angriff der Hamas auf Israel, bleibt dem jüdischen Staat nur der Kampf gegen die Hamas, den Hizbullah, die Huthi und gegen Iran. Doch Israel muss auch aus den Fehlern Amerikas lernen. Der Krieg wird erst dann vorbei sein, wenn die Ideologie der Muslimbruderschaft zerstört ist. Damit das geschieht, müssen wir zuerst unseren Feind in unserer Mitte erkennen, und das beginnt damit, ihn beim Namen zu nennen.

Die Publizistin und Politologin Ayaan Hirsi Ali stammt aus Somalia und lebt heute in den USA. Der vorliegende Beitrag wurde zuerst auf der von der Autorin bespielten Plattform «Restoration» publiziert. – Aus dem Englischen von rbl.

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