Dienstag, Oktober 1

Die unglaubliche Geschichte einer wenig betuchten, fünffachen Mutter aus dem Zürcher Niederdorf, die sich in Rapperswil zur wohlhabenden Unternehmerin hocharbeitet.

Es ist die Zeit um 1860, als die Fotoateliers in der Schweiz aufkommen. Um 1900 gibt es in der Stadt Zürich schon hundert solcher Salons. Eine breite Bevölkerungsschicht in Zürich und Umgebung kann sich zu jener Zeit Porträtfotografien leisten. Ähnlich wie Panini-Bilder sammeln Zunft- und Handwerkerfamilien, Soldaten wie Fussballer die Cartes-de-Visite. Das sind auf Karton aufgezogene kleine Fotografien, die in vorgefertigte Alben eingefügt werden können.

Einige wenige Frauen mischen ebenfalls in dem Geschäft mit. Sie arbeiten in den Ateliers ihrer Ehemänner als Kopistinnen und erlernen so auch die Kunst des Fotografierens. Nur einzelne führen ein eigenes Geschäft. Eine der Pionierinnen dieser Zeit heisst Alwina Gossauer.

«Ihre Bedeutung für die Schweiz des 19. Jahrhunderts ist aussergewöhnlich. Es gelang ihr, sich als Frau und Geschäftsführerin entgegen allen gesellschaftlichen Konventionen in der Fotografiebranche durchzusetzen», sagt Mark Wüst.

Er leitet das Stadtmuseum in Rapperswil. Für eine Ausstellung arbeitete der Historiker die Biografie von Alwina Gossauer auf und fasste diese im St. Galler Neujahrsblatt 2019 zusammen. Bietet Mark Wüst Stadtführungen zum Thema an, wird er förmlich überrannt. Es nahmen auch schon 120 Personen daran teil. In Zürich sind Rundgänge über die Fotografie im 19. Jahrhundert ebenfalls beliebt – just am Samstag, 20. Juli, findet wieder einer statt.

Alwina Gossauer wird 1841 als Tochter eines Buchdruckers und einer Obsthändlerin in der damals eigenständigen Gemeinde Riesbach geboren, die dem heutigen Stadtkreis 8 entspricht. Im Alter von 18 Jahren lernt sie Johannes Kölla kennen. Er ist 23 Jahre alt, gelernter Sattler, stammt aus Stäfa, wohnt aber ebenfalls in Riesbach.

Die beiden heiraten und lassen sich in Zürich nieder. Kölla arbeitet als Tapezierer – doch er ist aufgeschlossen für Neues. Früh ahnt er, dass die aufkommende Fotografietechnik einen Boom auslösen dürfte. Er will davon profitieren. 1863 erwirbt Kölla das Patrizierhaus «Zum blauen Himmel» an der Napfgasse im Niederdorf. Das aus dem 13. Jahrhundert stammende Gebäude wurde während Generationen von Exponenten der Zürcher Politelite bewohnt. Heute gehört es der Zunft zur Letzi.

Das Paar richtet 1864 im Dachgeschoss ein grosses Fotoatelier ein. Es ist eines der frühen Zürcher Tageslichtstudios auf einer Hauszinne. Kölla gehört zu den ersten Atelierfotografen der Stadt. Der Schriftzug «Photographie zum blauen Himmel» ziert fortan die Fassade. «Zu dieser Zeit lässt sich Alwina vermutlich von ihrem Mann in die Praxis der Fotografie einweihen», so Mark Wüst.

Johannes Kölla vor Gericht wegen «unzüchtiger Handlungen»

Bald macht Kölla mittels des neuen Bildmediums auch Fotos, die zu dieser Zeit als pornografisch gelten. Der Fotograf nimmt im Atelier nackte Frauen auf und verkauft die Erzeugnisse. Doch damit gerät er 1866 auf den Radar der Polizei. Das Statthalteramt erhebt Anklage wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.

Im Bezirksgerichtsurteil heisst es dann über den Angeklagten Johannes Kölla: «Photograph von Stäfa, wohnhaft an der Napfgasse im blauen Himmel, 30 Jahre alt, Vater von vier Kindern». Und: Es lägen «bei den Acten verschiedene Photographien von 2 nackten Weibspersonen in möglichst obscönen Stellungen». Diese Fotos sind nicht mehr erhalten.

Johannes Kölla wird der «Erregung öffentlichen Ärgernisses durch unzüchtige Handlungen» vom Bezirksgericht schuldig gesprochen. Das Obergericht bestätigt später dieses Urteil. Kölla muss einen Monat ins Gefängnis und eine für damalige Verhältnisse hohe Geldbusse von 300 Franken zahlen.

Sobald Johannes Kölla wieder auf freiem Fuss ist, übersiedelt die Familie nach Rapperswil. «Vermutlich führten diese Verurteilung und der damit verbundene Ehrverlust zum Wegzug der Familie aus Zürich», sagt Mark Wüst.

An der Rapperswiler Schifflände eröffnen sie das erste örtliche Fotoatelier. Die Eheleute kümmern sich gemeinsam um das Geschäft. 1868 wird Kölla in einem weiteren Gerichtsurteil bezeugen: «Es war meine Frau, welche das Kopieren der Photographien meistens besorgte, während ich mich mehr mit der Aufnahme beschäftigte.» Gelegentlich also, folgert Mark Wüst, dürfte Gossauer ebenfalls fotografiert haben.

Nur zwei Jahre später begeht Johannes Kölla eine weitere Straftat. Er fälscht österreichische Banknoten. Dafür wird er vom Kantonsgericht St. Gallen zu 18 Monaten Freiheitsstrafe und zu zehn Jahren Kantonsverweis verurteilt. Kölla schlittert in den Konkurs, Haus und Besitz der Familie werden versteigert.

Das Verderben ihres Mannes ist paradoxerweise der Anfang von Alwina Gossauers Karriere als selbständige Fotografin und Geschäftsfrau. Es gelingt ihr, aus der Konkursmasse von Kölla eine Fotoausrüstung zu erwerben. «Ihr Kapital für die Zukunft», betont Wüst.

1868 kündigt sie in einem Zeitungsinserat an, dass sie das Fotoatelier von Johannes Kölla weiterführe. Sie richtet an der Schifflände in einem Dachstock ihr eigenes Studio ein. Bald läuft das Geschäft unter ihrem Namen. In grossen Lettern ist an der Hausfassade zu lesen: «Photographie v. Gossauer».

Nach der Verbüssung der Zuchthausstrafe versucht Kölla, sich in Richterswil zu etablieren. Wegen der Wegweisung aus dem Kanton St. Gallen kann er nicht nach Rapperswil zur Familie zurück.

Johannes Kölla wandert nach Amerika aus

1871 reicht Alwina Gossauer die Scheidung ein. Sie wirft ihrem Mann vor, dass er zum Unterhalt der fünf Kinder nichts beitrage, sich mit anderen Frauen vergnüge und Schulden anhäufe. Dabei habe sie ihm doch mit der Ausleihe einer Fotoausrüstung zu helfen versucht. Kölla verliert den Prozess, die Ehe wird geschieden. Die Kinder im Alter zwischen einem und elf Jahren werden der Mutter zugesprochen, der Vater zu Unterhaltszahlungen verpflichtet.

Trotz Gerichtsurteil zahlt der geschiedene Mann keine Alimente. 1872 lässt Gossauer ihn betreiben. Kölla zieht von dannen, in den Akten heisst es, er sei nach Amerika ausgewandert.

Als alleinstehende Frau erhält Gossauer einen gesetzlichen Beistand. Ohne sein Einverständnis kann sie keine rechtskräftigen Geschäfte abschliessen. Gossauer hat wenig Geld, sie lebt von der Hand in den Mund. Immerhin wird 1881 das Gesetz über die Beistandschaft aufgehoben. Gossauer kann fortan eigenverantwortlich ihrer Geschäftstätigkeit nachgehen.

Entlastung bringt der alleinerziehenden Mutter und Berufsfrau das Dienstmädchen Elise, knapp fünfzig Jahre lang hilft sie im Haushalt und bei der Kinderbetreuung.

Porträt einer unbekannten Frau in einem Album (links) und eine Carte-de-Visite, beides aus dem Atelier «A. Gossauer».

In den 1890er Jahren bessert sich die finanzielle Situation Gossauers. Die Kinder werden erwachsen, ziehen aus und heiraten. Vier von fünf ihrer Kinder sind der Fotografie ebenfalls eng verbunden, die Söhne Jean und Albert eröffnen Ateliers im Kanton Bern. Die älteste Tochter, eine Alwina, unterstützt die Mutter im Geschäft.

1892, Gossauer ist 51 Jahre alt, lässt sie an der Oberen Bahnhofstrasse in Rapperswil ein dreistöckiges Wohn- und Geschäftshaus erstellen. Dazu gehört ein Glasdach für Porträtaufnahmen. Entlang des Geländers der Dachterrasse steht: «Photographie A. Gossauer». Nun ist aus der mittellosen Frau eine gutbürgerliche geworden. Das Gebäude steht heute noch in Rapperswil.

Gossauer versteht sich in erster Linie als Porträtfotografin. Sie lichtet ihre Kundschaft im Atelier ab, vor Kulissen und Requisiten – 60 000 Personen sollten es am Schluss sein. Jahrzehntelang ist sie in Rapperswil fast konkurrenzlos tätig. Die Kundschaft kommt aus der ganzen Region, dem oberen Zürichsee- und dem Linthgebiet.

Doch Gossauer war es auch, welche die frühesten Aussenaufnahmen von Rapperswil machte. Etwa das einzige Bild, das von der feierlichen Eröffnung des Seedamms von Rapperswil 1878 existiert. Rund ein Dutzend Originalaufnahmen aus dem Zeitraum von 1890 bis 1900 zeigen zudem Rapperswiler Sehenswürdigkeiten. Die Bilder seien wohl für touristische Zwecke gedacht gewesen, mutmasst Mark Wüst.

1896 tritt Gossauer dem Schweizerischen Photographenverein bei. Unter den 120 Mitgliedern befinden sich bei Gossauers Eintritt gerade einmal sechs Frauen, später ist sie gar die einzige Fotografin. Das zeige ihre besondere Stellung, betont Wüst.

1920 übergibt die alternde Fotografin nach 55-jähriger Tätigkeit ihr Atelier an Karl Stalder, den Mann ihrer Tochter Karolina. Das Geschäft der Schwiegermutter führt er unter dem Namen «Stalder-Kölla» weiter. Sechs Jahre später, im Alter von 85 Jahren, stirbt Alwina Gossauer.

Der Pfarrer hält an ihrem Grab fest, die Frau sei eine Kämpferin mit grossem Durchhaltewillen gewesen. Und sie hat eine Fotografendynastie begründet.

Doch nach dem Tod von Karl Stalder findet das Fotogeschäft keinen Nachfolger mehr. Laut der Überlieferung der Familie hat man den gesamten Bestand an Fotoglasplatten aus dem Atelier vor Rapperswil im Zürichsee versenkt.

Witwe führt Fotoatelier im «Blauen Himmel»

bai. Im Haus an der Napfgasse war wenige Jahre nach Alwina Gossauer noch eine weitere eigenständige Fotografin tätig. 1871 liess sich im «Blauen Himmel» der Fotograf Jean Gut nieder. Mit seiner Ehefrau, der Aussersihlerin Paulina Gut-Zehnder, baute er einen erfolgreichen Fotobetrieb auf. Die Guts machten auch populäre Stadtansichten. Das Geschäft florierte, darauf lassen Zeitungsinserate schliessen: Immer wieder wurde nach «tüchtigen Copisten» oder «Retoucheuren» gesucht. Im März 1880 verstarb Jean Gut an Lungenschwindsucht. Die Ehefrau Paulina übernahm die Firma «Jean Gut & Cie.». Sie versprach der Kundschaft in einer Annonce, das Geschäft «unverändert und auf gleicher Stufe fortzuführen». Trotz fünf Kindern im Alter zwischen 5 und 9 Jahren hielt sie den Betrieb bis 1885 am Laufen, ehe sie sich wieder verheiratete.

Unter dem Motto «Zürich wird fotografiert» findet am Samstag, 20. Juli, um 10 Uhr eine Stadtführung mit einem Experten vom Baugeschichtlichen Archiv statt. Thema: Entwicklung der Fotografie im 19. Jahrhundert. Treffpunkt: Hauptbahnhof, unter dem Engel von Niki de Saint Phalle.

Exit mobile version