Für Mercedes ist der spektakulärste Wechsel in der Formel-1-Geschichte ein Schock – der Rekordweltmeister sucht 2025 den absoluten Legendenstatus.
Ein halbes Jahr, das kann in der Formel-1-Zeitrechnung eine Ewigkeit sein. «Unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende, wir sind fest entschlossen, gemeinsam mehr zu erreichen, und wir werden nicht aufhören, bis wir es geschafft haben», antwortete Lewis Hamilton noch im vergangenen August auf die Frage, warum er sich mit seinen 38 Jahren noch zwei weitere Jahre vertraglich an Mercedes binde. Allen war klar: Das ist der Rentenvertrag für den Rekordweltmeister.
Doch die Pension muss noch warten, und ein Ortswechsel ist für ihn inbegriffen, nachdem sich am Donnerstag die Anzeichen für einen der spektakulärsten Transfers der Königsklasse verdichtet haben: Die Mercedes-Geschichte soll demnach am Ende der Saison 2024 ihren Abschluss finden, von 2025 an ist eine ganz neue Erzählung vorgesehen: Lewis Hamilton wird dann im Ferrari sitzen.
Zwei Verzweifelte machen gemeinsame Sache
Es ist ein «shock move», wie ihn das britische Branchenblatt «Autosport» betitelt. Der Mercedes-Teamchef Toto Wolff wird damit zum zweiten Mal von einer Fahrerpersonalie völlig überrascht; 2016 hat ihn Nico Rosberg kurz nach dem Titelgewinn sitzengelassen. Diesmal ist die Abfuhr noch schwerwiegender, den Österreicher und den Briten verbindet seit Jahren eine Männerfreundschaft, von Charakter und Konsequenz her sind sich der Boss und sein Chauffeur ähnlich.
Zudem hat Wolff seinen eigenen Vertrag gerade erst langfristig verlängert. Pikant ist ausserdem, dass der erst im Vorjahr von Hinwil nach Maranello gewechselte Ferrari-Prinzipal Frédéric Vasseur seit Jahrzehnten eng mit Wolff verbandelt ist. Aber auch Hamilton kennt den Franzosen aus seiner Nachwuchszeit noch gut. Jedenfalls hatte Wolff am Donnerstag die nicht einfache Aufgabe, die Mercedes-Belegschaft über den Verlust zu informieren.
Fred 🤝 Lewis
Finally, reunited? 👀 #F1 pic.twitter.com/pKcGxdkh2r
— Autosport (@autosport) February 1, 2024
Was schlecht sein mag für das seit zwei Jahren in einem sportlichen Tief steckende erfolgreichste Team der jüngeren Formel-1-Geschichte, ist hingegen gut für die ganze Branche, die nach drei Titeln von Max Verstappen in Serie etwas paralysiert wirkt. Denn mit Ferrari und Hamilton finden zwei Ikonen des Motorsports zusammen, zumindest aus Vermarktungssicht.
Letztlich machen aber auch zwei Verzweifelte gemeinsame Sache. Ferrari wird nach den Demütigungen durch Red Bull in der kommenden Saison ein komplett neues Rennwagenkonzept an den Start bringen (wie Mercedes auch). Und Lewis Hamilton nimmt es seinem bisherigen Arbeitgeber, dem er lebenslang verbunden schien, doch übler als gedacht, dass er zum zweiten Mal in Folge aus technischen Gründen keine Revanche an Max Verstappen nehmen konnte. Gegen ihn hatte er im umstrittenen Finale von 2021 den Titel verloren.
Der vergangene Ruhm ist der grosse Treiber für Ferrari und Hamilton, beide haben in ihre bisherigen Konstellationen und Partner ein Stück weit das Vertrauen verloren. Die Italiener, die gerade erst den Vertrag mit dem als Kronprinzen vorgesehenen Charles Leclerc langfristig verlängert hatten, halten den Monegassen offenbar nicht für konstant genug. Hamilton wiederum läuft die Zeit davon, um mit einem achten WM-Gesamtsieg auch Michael Schumacher zu überflügeln und alleiniger Rekordinhaber zu werden. Er scheint nicht mehr an die Fähigkeiten von Mercedes zu glauben, eine schnelle Wende der sportlichen Verhältnisse zu schaffen. Oder er braucht dringend neue Motivation.
Lewis Hamilton muss noch ein Rennjahr mit Mercedes verbringen, das längste der Grand-Prix-Geschichte
Es ist eine faszinierende, aber vermutlich auch höchst explosive Kombination, die da entsteht. Die phantasievollen italienischen Medien sind das geringere Problem, als Social-Media-Superstar beherrscht Lewis Hamilton das Spiel. Ob er aber als Aussenstehender das komplizierte interne und höchst politische Geflecht bei der Scuderia durchdringen kann, bleibt abzuwarten. Am einfachsten geht das immer mit Erfolgen; die Rückendeckung des Fiat-Erben John Elkann an der Firmenspitze dürfte er haben. Anscheinend ist der grosse Deal auf dieser Ebene eingefädelt worden. Man kennt sich, man mag sich. Und tatsächlich ist es für jeden Rennfahrer die Krönung der Laufbahn, einmal für Ferrari gefahren zu sein, aktuelle Leistungswerte hin oder her.
Am Donnerstagabend bestätigte Ferrari den Wechsel. Wie sehr er die Formel-1-Szene aufmischt, wird sich schon bei den bald anstehenden Testfahrten und dann beim Saisonstart in Bahrain Anfang März zeigen. Denn Lewis Hamilton muss ja noch ein Rennjahr, dazu noch das längste der Grand-Prix-Geschichte, mit Mercedes verbringen. Gut möglich, dass das Team sich verstärkt um den 14 Jahre jüngeren George Russell kümmern wird, der im letzten Sommer zusammen mit Hamilton bis 2026 verlängert hatte.
Team Statement
Scuderia Ferrari is pleased to announce that Lewis Hamilton will be joining the team in 2025, on a multi-year contract. pic.twitter.com/moEMqUgzXH
— Scuderia Ferrari (@ScuderiaFerrari) February 1, 2024
Damals war nicht publik geworden, dass der clever beratene Ältere sich offenbar auch eine Ausstiegsklausel hatte festschreiben lassen. Nun muss wohl Russell zusätzlich die Rolle übernehmen, eine angeschlagene Mannschaft motivieren; vom Talent her galt er allerdings ohnehin schon als Hamiltons Nachfolger. Auch die Regisseure von Netflix dürften sich die Hände reiben über die kurzfristige Rochade und deren langfristige Auswirkungen.
Bei Ferrari bleibt Charles Leclerc eine Saison, um sich als Nummer eins zu positionieren. Eine schöne Zwickmühle, würde er tatsächlich den WM-Titel gewinnen und dann Hamilton als Rivalen im Team haben. Der Spanier Carlos Sainz junior, der das Nachsehen bei Ferraris Personalplanungen hatte, wird sich nach einem neuen Job umschauen müssen, die Hamilton-Option war mitten in seine Vertragsgespräche geplatzt. Sainz könnte Anschluss bei Sauber finden. Der dortige Statthalter Andreas Seidl kennt ihn von McLaren her und könnte den 29-Jährigen im Hinblick auf die Audi-Zukunft als erfahrene Grösse gut gebrauchen. Bei Mercedes dürfte der deutsche Ersatzpilot Mick Schumacher wieder in eine bessere Position rücken.
Immer wieder hatte Lewis Hamilton mit Ferrari geliebäugelt, manchmal war es auch umgekehrt. Der Brite fuhr sogar privat einen italienischen Sportwagen, aber die Treue zu Mercedes und der Erfolg mit dem deutschen Hersteller waren einfach zu starke Argumente gegen eine Fahnenflucht. Der überraschende Gesinnungswechsel hängt sicher mit der anspruchsvollen Aufgabe zusammen, an anderer Stelle noch einmal einen Rennstall zurück nach ganz oben zu führen. Ganz so, wie es zur Jahrtausendwende Michael Schumacher vorgemacht hatte. Der siebenfache Champion war gegen Ende seiner Karriere allerdings den umgekehrten Weg gegangen, von Ferrari zu Mercedes. Schumachers Comeback legte zwar den Grundstein für die spätere Mercedes-Überlegenheit, für ihn selbst war es weniger erfolgreich.
Lewis Hamilton steigt wohl in eine noch höhere Gehaltsklasse
Vermutlich rückt Lewis Hamilton, dessen Jahressalär bisher auf bis zu 50 Millionen Dollar geschätzt wurde, noch einmal in eine höhere Gehaltsklasse. Das Schicksal seiner Vorgänger bei der Scuderia schreckt ihn offenbar nicht. Sowohl Fernando Alonso als auch Sebastian Vettel konnten keinen Titel in Rot einfahren, Ferrari ist seit 2007 ohne Einzeltitel. Hamilton lockt auch der Status, noch legendärer zu werden, als er ohnehin schon ist, würde er mit den Italienern triumphieren. Dieses grosse Risiko ist zugleich auch der grosse Reiz für einen, der schon fast alles gewonnen hat.
Dem Titelverteidiger Max Verstappen und dem Red-Bull-Teamchef Christian Horner kann die entstandene Unruhe bei den grössten Rivalen nur recht sein. Für Ferrari ist der künftige Trumpf aber schon heute ein Triumph, lange war der älteste Rennstall der Formel 1 hinter Lewis Hamilton her gewesen. Ein Nein, da steht man ganz in der Tradition von Firmengründer Enzo Ferrari, ist kaum zu akzeptieren, wenn die Scuderia ruft. Eins aber wird Lewis Hamilton wohl kaum bewerkstelligen können – dass der rote Rennwagen schwarz umlackiert wird, wie es Mercedes mit dem Silberpfeil getan hatte.