Sonntag, Oktober 6

Das Bahnhofbuffet Olten sucht einen neuen Pächter. Einst traf sich hier das ganze Land. Und heute? Geschichten aus dem legendärsten Bahnhofsrestaurant der Schweiz

Das Restaurant im Bahnhof von Olten, das Bahnhofbuffet, ist leicht zu übersehen. Es liegt eingeklemmt zwischen Gleis 4 und 7, umgeben von quietschenden Zügen und gehetzten Pendlern. Doch wer die schweren Türen nach innen stösst, öffnet ein Tor zu 168 Jahren Schweizer Geschichte.

Das Bahnhofbuffet war eine Denkkammer der Schweiz – auf wenigen Quadratmetern. Parteien, Unternehmen, Vereine wurden hier gegründet, Literaten wie Peter Bichsel, Adolf Muschg und Max Frisch trafen sich hier. Die NZZ bezeichnete das Restaurant einst als «die Brutstätte des Schweizer Wohlergehens».

Heute ist das Bahnhofbuffet in Olten eines der letzten Bahnhofbuffets der Schweiz, und seine Zukunft ist ungewiss. Seit 1973 führt eine Raststätten-Betreiberin das Restaurant. Doch Ende 2024 wird es geschlossen, danach saniert. Diese Woche haben die SBB mitgeteilt, sie suchten einen neuen Pächter. Und die Leute in Olten fragen sich, ob es das Bahnhofbuffet überhaupt noch geben wird.

Voller versteckter Geschichten

Das Bahnhofbuffet Olten wurde 1856 eröffnet, damals wurde es von der Schweizerischen Centralbahn betrieben. Die SBB erkannten in den 1920er Jahren das Potenzial der Bahnhofrestaurants in der ganzen Schweiz, erwirtschafteten mit den Buffets bis zu einem Zehntel ihres Umsatzes.

In den 1970er Jahren gerieten die urchigen Lokale in Verruf, sie wurden von Fast-Food-Ketten, Bäckereien, Kiosken verdrängt. Viele der Bahnhofrestaurants schlossen, das Bahnhofbuffet Olten jedoch blieb bestehen. Bis heute.

An einem Mittwochmorgen sitzt eine grosse Gruppe von Pensionierten an Tischen, es sind ehemalige Lehrerinnen und Lehrer aus dem Kanton Zug, sie wollen Olten entdecken. Ihr erster Stopp: das Bahnhofbuffet. Sie bestellen bei zwei jungen Kellnerinnen: Gipfeli und Café crème.

Ein paar Tische weiter liest ein Mann die Zeitung. Er sei auf der Durchreise, wieso sonst solle er hier sein, sagt er. «Hier ist der Kaffee noch billig, 4 Franken 60.»

Und irgendwo sitzt ein Student und tippt etwas in seinen Laptop.

Universal wie die Gäste ist die Einrichtung. Orangefarbene Polstergruppen reihen sich aneinander, LED-Spots an der Decke tauchen den Raum in ein kühles Licht, glänzende Holztischchen stehen auf anthrazitfarbenen Steinplatten. Die Stühle am Stammtisch sind unbesetzt. Im Radio läuft «Anti Hero» von Taylor Swift. Und alles wirkt ein wenig mainstreamig.

Doch das Bahnhofbuffet in Olten ist voller Geschichte und Kultur. Man muss nur genau hinschauen, dann sieht man diese Geschichte an der Wand: Schwarz-Weiss-Fotografien von Dampflokomotiven hängen dort, ein alter Kondukteur-Hut, eine metallene Hand-Laterne, vergilbte Billetts.

Unter einer SBB-Uhr sind die Gründungsurkunden der FDP und des Schweizer Alpen-Clubs an die Wand genagelt. Beide wurden an diesem Ort erfunden. Und ebenso der Schweizerische Gewerkschaftsbund, der Schweizerische Fussballverband oder der Evangelische Kirchenbund. In Olten, wo Zuglinien aus der ganzen Schweiz sich kreuzen, wurde das Bahnhofbuffet zu einem alternativen Zentrum von Politik, Kultur und Wirtschaft zwischen Zürich, Basel und Bern.

Romanze in der Besenkammer

Im Bahnhofbuffet sitzen jetzt zwei Männer am Tisch, beide um die 70 Jahre alt, sie sind in Olten aufgewachsen. Der eine trägt einen Schnauz und einen weissen Anzug, der andere einen schwarzen Hut, auf dem Tisch liegt sein Gehstock.

Der Mann in weiss spricht mit einem eigenartigen Dialekt, einer Mischung aus dem Berner und Aargauer Dialekt. Der Mann sagt: «Das ist typisch fürs Bahnhofbuffet.» Er spricht den Bahnhofbuffet-Olten-Dialekt.

Wikipedia definiert den «Bahnhofbuffet-Olten-Dialekt» als «eine schweizerdeutsche Mischsprache, bei der die regionale Herkunft nicht mehr eindeutig zu eruieren ist». Die Sprachwissenschafterin Helen Christen schreibt dazu: Das Bahnhofbuffet sei «bestens geeignet, um Deutschschweizer unterschiedlicher Provenienz an einen Tisch zu bringen, ohne regionale Sensibilitäten zu tangieren.»

Der Mann glaubt zu wissen, warum er diesen Dialekt spricht. Er sagt: «Ich bin 1952 im Bahnhofbuffet gezeugt worden. Wahrscheinlich in der Besenkammer.»

Seine Mutter sei zuerst Au-Pair in Neuenburg gewesen, erzählt er, dann habe sie als Serviertochter im Bahnhofbuffet gearbeitet. In der zweiten Klasse des Restaurants habe sie einen Kondukteur aus Grindelwald kennengelernt. Und sei schwanger geworden.

Über seinen Vater sagt der Mann: «Er hat sich vom Gleisarbeiter zum Kondukteur hochgearbeitet, dann wurde er Lokführer. Er war ein roter Bähnler, ein typischer Sozi. Ich bin anders, ich bin ein Liberaler.»

Damals gab es im Bahnhofbuffet in Olten zwei Klassen. In die erste Klasse sind die feinen Leute gegangen, in die zweite Klasse die einfachen Leute, das Gesindel, die Trinker, die Prostituierten. Bis in die 1970er Jahre war das so. Wer Überhosen trug, ging in die zweite Klasse. Niemand wies die Leute zurecht. Alle wussten, wo ihr Platz war.

«Wir verlieren die richtige Kultur»

Ein 85-jähriger Mann erinnert sich an diese Zeiten, er brummelt, sein Gesicht ist gerötet, die Nase markant. Er komme seit den 1950er Jahren ins Bahnhofbuffet, sagt er. Neben ihm sitzt ein glatzköpfiger Mann um die 60, der kaum Zähne mehr hat, dafür viele Tattoos. Zwei Stammgäste.

«Angeli, bringst du mir noch einen Café crème? Du musst dich nicht beeilen, gell», sagt der tätowierte Mann zur Bedienung.

Das Servicepersonal habe sich verändert, murrt der alte Mann. «Ich komme nur noch, wenn gewisse Serviermaschinen arbeiten.»

Bitte?

«So nannte man die Bedienung früher», sagt der Alte und lacht verlegen.

Der Alte trinkt jetzt eine Stange Bier, es ist kurz vor 11 Uhr. Der Alkohol und das Bahnhofbuffet, das ist eine Sache für sich.

Der Alte erinnert sich: «Früher konnte man sich hier für einen Fünfliber volltrinken.» Wenn er damals Tagelöhner für seine Schreinerei gesucht habe, sei er schon morgens um 5 Uhr ins Bahnhofbuffet gegangen, sagt er. «Ich musste früh gehen, sonst waren die Leute schon betrunken.»

Der Alte erinnert sich gerne an die Zeiten, als sich die Schweiz noch im Bahnhofbuffet getroffen hat. «Früher musste man sich den Platz suchen. Schön war es gewesen. Heute kommen kaum Stammgäste mehr», sagt er. «Die Jungen reden nicht mehr miteinander, die schauen nur ins Handy.»

Der Mann mit den Tattoos steht jetzt auf, will sich verabschieden, doch dann hält er kurz inne und sagt: «Es ist nicht nur ein Restaurant, das verlorengehen würde. Es sind die Geschichten, die wir verlieren.»

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