Mittwoch, November 6

Der deutsche Physiker Wolfgang Gentner soll während des Zweiten Weltkriegs ein Labor überwachen. Dort arbeitet Frédéric Joliot-Curie, einer der führenden Köpfe der noch jungen Kernforschung. Die beiden Forscher treffen eine geheime Absprache.

Ausgerechnet an einem Sonntag erreicht den Physiker Wolfgang Gentner eine Nachricht, die er schon lange gefürchtet hat. An jenem Morgen des 29. Juni 1941 ist sein Kollege, der Nobelpreisträger Frédéric Joliot-Curie, in Paris verhaftet worden. Gentner sitzt gerade beim Frühstück, in seinem Hotel nahe dem Arc de Triomphe, als er davon erfährt. Zwei französische Polizisten hätten Joliot-Curie von zu Hause mitgenommen, erzählt ihm dessen Frau aufgeregt am Telefon.

Wolfgang Gentner arbeitet im Auftrag des Heereswaffenamts des NS-Regimes in Paris. Er überwacht das Labor von Joliot-Curie am Collège de France, soll dort kriegswichtige Kernforschung durchführen. Eine heikle Mission, ist der Physiker doch ein langjähriger Freund des Franzosen und insgeheim ein Gegner des NS-Regimes. Daher versucht er an jenem Sonntagmorgen sofort zu erfahren, wo sich Joliot-Curie befindet und wer ihn überhaupt festgenommen hat.

«Wolfgang Gentner war für unsere Familie sehr wichtig», erklärt Hélène Langevin-Joliot, die Tochter des französischen Nobelpreisträgers, heute, selbst ehemals Professorin für Kernphysik und Forschungsdirektorin am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris.

Noch hoffen die Nationalsozialisten, den Zweiten Weltkrieg mit einer Wunderwaffe rasch für sich zu entscheiden: der Atombombe. Und dafür wollen sie die kernphysikalische Expertise der französischen Kollegen nutzen. Frédéric Joliot-Curie gilt als einer der führenden Köpfe der noch jungen Kernforschung, und in seinem Labor steht der mächtigste Teilchenbeschleuniger Europas, ein Zyklotron. «Man fasste den Beschluss, es in Paris in Gang zu setzen», wird Gentner später berichten. Und genau dabei soll der deutsche Physiker helfen.

Eine folgenschwere Entdeckung

Die Grundlage dafür hatten im Dezember 1938 die deutschen Chemiker Otto Hahn und Fritz Strassmann vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin gelegt. Sie nämlich entdeckten, dass Atomkerne «zerplatzen» können, wie sie es selbst bezeichneten. Eine Sensation, bis dahin haben Physiker eine solche Kernspaltung für unmöglich gehalten. Allerdings kann erst ihre Kollegin Lise Meitner, die aus Berlin vor den Nationalsozialisten nach Schweden geflohen war, den Vorgang erklären: Der Atomkern des Urans war unter dem Beschuss mit Neutronen in zwei kleinere Atomkerne zerfallen, mit einer insgesamt kleineren Masse als vorher. Die übrige Masse wurde als ungeheure Energie freigesetzt, die Kernenergie.

Was das bedeutete, verstand Joliot-Curie sofort, und er veröffentlichte wenige Monate später einen Fachartikel in der Zeitschrift «Nature», in dem er erstmals laufend neue Kernspaltungen beschrieb: Der Atomkern spaltet sich, wenn Wissenschafter ihn mit Neutronen beschiessen. Dabei entstehen jedoch nicht allein neue chemische Elemente. Auch neue Neutronen werden freigesetzt. Was, wenn diese Neutronen weitere Kernspaltungen auslösen? Dann fände eine Kettenreaktion statt, die kontrollierte Gewinnung und Freisetzung gewaltiger Mengen an Energie.

Nach Lektüre des Fachartikels im Jahr 1939 wandten sich zwei Physikochemiker der Universität Hamburg an das deutsche Reichskriegsministerium und bestanden darauf, die Anwendung der Kernenergie für militärische Zwecke zu prüfen. «Das Land, das zuerst Gebrauch davon machen wird, wird einen unüberwindbaren Vorteil haben», schrieben die deutschen Wissenschafter. Auch deshalb besetzten die deutschen Militärs sofort das Labor von Joliot-Curie, als sie in Paris eintrafen.

Bombenbau mithilfe der Kernphysik

Im Frühsommer 1940 waren Hitlers Truppen in Frankreich eingefallen, hatten ihren Gegner überrumpelt, mit einer Offensive über die Ardennen, die für Panzer eigentlich unzugänglich schienen. Kurz nach dem Eintreffen in Paris hatte das Militär die Laborräume von Frédéric Joliot-Curie am Collège de France versiegelt. Keine Gerätschaft, kein Material sollte daraus entschwinden, versprachen sich die Nationalsozialisten damals doch, mithilfe der Kernphysik immens grosse Mengen Energie zu gewinnen. Und eine Atombombe zu entwickeln. Dabei sollte Gentner mit seiner Arbeit am Collège de France helfen.

So wurde Gentner zunächst ans Collège de France beordert, um ein Verhör von Frédéric Joliot-Curie zu übersetzen. «Es war (. . .) sehr peinlich für mich, die an Joliot-Curie gerichteten Fragen als Dolmetscher an ihn weiterzuleiten», wird der deutsche Forscher später erklären. Kannte er Joliot-Curie doch seit Jahren. Als junger Stipendiat hatte Gentner zwei Jahre im Labor von Marie Curie verbracht, der Schwiegermutter des nun verhafteten Kollegen. Damals hatte er sich mit Frédéric Joliot-Curie und seiner Frau Irène angefreundet, hatte bei jenen Experimenten zur künstlichen Radioaktivität mitgeholfen, für die das französische Forscherehepaar kurz darauf den Nobelpreis erhielt.

Diesmal, im Herbst 1940, musste Gentner das Labor jedoch mit zwei führenden Köpfen des Uranvereins aufsuchen, jenes Zusammenschlusses von Wissenschaftern, der vor allem die Entwicklung einer Kernwaffe zum Ziel hatte. General Erich Schumann und Kurt Diebner forderten Gentner auf, seinen französischen Kollegen nach dem Verbleib wertvollen Forschungsmaterials zu fragen, das aus dem Labor verschwunden war. Wie die deutschen Militärs aus geheimen Unterlagen wussten, hatte Frédéric Joliot-Curie in seinen Experimenten zum Beispiel mit schwerem Wasser hantiert, einer Substanz, die damals für die Atomforschung als unentbehrlich galt. Für eine Kernspaltung des Urans mit anschliessender Kettenreaktion.

Den einzigen Vorrat weltweit von 185 Kilogramm hatte die französische Regierung auf Drängen Joliot-Curies in einer geheimen Mission aus Norwegen nach Frankreich gebracht, kurz bevor die Deutschen in das skandinavische Land einfielen. Ein Angestellter des französischen Geheimdienstes hatte die Kanister ausgeflogen. Das schwere Wasser sei inzwischen über den Atlantik verschifft worden, antwortete Joliot-Curie den Militärs, ob es in England angekommen sei, wisse er nicht.

Ein geheimes Treffen

Nach dem Verhör bleibt Gentner hinter den Offizieren zurück und bittet seinen französischen Kollegen leise, sich mit ihm am gleichen Abend zu treffen. Um 18 Uhr, in einem Café am Boulevard Saint-Michel. In einem Hinterzimmer des Cafés fragt Gentner seinen Kollegen nochmals nach dem schweren Wasser, doch der versichert ihm, dass es Frankreich verlassen habe.

Daraufhin berichtet Gentner Joliot-Curie von jenem Auftrag, den er vom Heereswaffenamt erhalten hat. Er soll über die Laborräume am Collège de France wachen. Ob Joliot-Curie damit einverstanden sei, will Gentner wissen. Der Franzose stimmt sofort zu.

Vor allem sollte sich Gentner um das Zyklotron kümmern, jenen mächtigen Teilchenbeschleuniger, der im Collège de France steht. Nirgendwo in Europa gab es ein vergleichbar potentes Gerät, um Atomkerne mit Neutronen zu beschiessen.

Zunächst wollten die Deutschen den Teilchenbeschleuniger in ihre Heimat bringen. Doch hatte Joliot-Curie das Gerät samt schwerem Magneten in den Keller des Gebäudes bauen lassen, was den Transport unmöglich machte. Daher wollten die Besetzer, dass Gentner samt Kollegen das Gerät vor Ort in Gang setzte, noch funktionierte es nämlich nicht. Die Deutschen wollten lernen, wie der Teilchenbeschleuniger funktioniert, und darin neue radioaktive Elemente erzeugen.

Wobei sie nicht ahnen können, dass die befreundeten Kernphysiker insgeheim eine Absprache getroffen haben, so jedenfalls werden es beide später berichten: Keiner der Versuche am Collège de France soll der Kriegsführung dienen. Zumal Gentner dafür sorgt, dass die deutschen Besetzer nicht jederzeit ins Labor gelangen können. «Nachdem ich die Leitung der deutschen Gruppe am Collège de France übernommen hatte, wies ich den Concierge des Instituts an, mich von jedem Eintreffen eines deutschen Besuchers – ob in Uniform oder Zivil – sofort zu unterrichten», berichtet der deutsche Physiker später.

Offensichtliche Sabotage

In den ersten Monaten kommt es immer wieder zu Pannen am Zyklotron, mal ist es das Kühlsystem, mal die Hochspannungsanlage, vor allem wenn Gentners Chef Walther Bothe mit Uranproben aus Heidelberg anreist, als Kernphysiker ist auch er Mitglied des Uranvereins. «Das Zyklotron funktionierte oft nicht, das war ganz offensichtlich Sabotage. Da aber niemand von den Deutschen etwas davon verstand, konnten sie es nicht nachweisen», erzählt die Laborantin Helga Cazas in ihren Erinnerungen. «Das Zyklotron ist allerdings auch ein sehr empfindliches Gerät», wendet Hélène Joliot-Curie ein, die Tochter des Physikers.

Nach etwa einem halben Jahr scheint das Gerät endlich funktionsfähig zu sein. Doch nur für einen kurzen Moment. Als Gentner den Teilchenbeschleuniger vorführen möchte, fordert Joliot-Curie plötzlich seinen Haupttechniker auf, das Gerät abzuschalten. Der Mitarbeiter unterbricht daraufhin die Verbindung zwischen dem Teilchenbeschleuniger und dem Magneten. Die Konsequenzen sind verheerend: Die freigesetzte Energie des Magneten entfacht ein Feuer, das vorhandene Kupfer schmilzt, und das Kühlwasser tritt aus den Rohren. «Es war ein riesiges Durcheinander. Wir hatten das Zyklotron vollständig zerstört», erinnert sich Gentner Jahre später. Somit begann die Arbeit von neuem: Sie waren gezwungen, das Gerät zu reparieren und es erneut in Betrieb zu nehmen.

Joliot-Curie blieb oft bis spät am Collège de France, um nachzusehen, woran die Deutschen tagsüber gearbeitet hatten, Gentner hatte ihm von Beginn an freien Zugang zu allen Räumen des Instituts zugesagt. Im Alltag arrangierten sich deutsche und französische Wissenschafter miteinander, sie fanden eine Arbeitsroutine, bei der sie sich meist aus dem Wege gingen. Bis Gentner an jenem Morgen im Juni 1941 erfuhr, dass Joliot-Curie verhaftet worden war.

Listen mit den Namen von Kommunisten

Wenige Tage zuvor hatte Hitler überraschend den Nichtangriffspakt mit Stalin gebrochen und war mit seinen Truppen in die Sowjetunion eingefallen. Was auch das Zusammenleben der deutschen Besetzer und der Franzosen schlagartig verändern sollte. Die Kommunisten dort hatten sich bis dahin recht still verhalten, entwickelten sich aber nun zu den wichtigsten Elementen der Résistance. Gleichzeitig forderten die Deutschen ab sofort Listen von der französischen Polizei, mit den Namen von Kommunisten oder Sympathisanten der Sowjetunion.

Auf diesen Listen stand Joliot-Curie. Seit Mai 1941 nämlich war Joliot-Curie Präsident des kommunistisch geprägten Front national, der Widerstandskämpfer gegen die Besetzer vereinen sollte. Einen Monat später wurde er Vorsitzender des Front national universitaire, der Résistance-Gruppe der Hochschulen.

Nach seiner Verhaftung gelangt Joliot-Curie in die Polizeipräfektur, das Gebäude ist an diesem Sonntag menschenleer. Dort trifft er in einem schmutzigen Wartesaal auf Marcel Bataillon, Professor an der Sorbonne, der ebenfalls festgenommen ist. «Joliot-Curie war sehr gefasst. Er war fest davon überzeugt, dass sich seine deutschen Kollegen für ihn einsetzen würden», erinnert sich Bataillon später. Doch bringen die Polizisten den Kernphysiker bald in die Rue des Saussaies, den Sitz der Sicherheitspolizei, wie die Gestapo im besetzten Gebiet heisst. In den Folterkammern des Gebäudes sollen Gefangenen ihre Geheimnisse preisgeben.

Ein Obersturmbannführer der SS beginnt, Joliot-Curie zu verhören. Statt auf die Fragen zu antworten, erklärt der Wissenschafter sogleich, dass er mit einer Gruppe deutscher Physiker vom Heereswaffenamt zusammenarbeite. Kurz darauf klingelt bei Gentner im Hotel das Telefon. Der SS-Mann möchte von ihm wissen, ob Joliot-Curie die Wahrheit sagt. Genter, zornig, erklärt ihm, dass Joliot-Curie an einem geheimen Kommandoauftrag arbeite, der als kriegsentscheidend eingestuft sei. Eine Übertreibung, die Gentner für angebracht hält, um Eindruck zu schinden. «Ich konnte hören, wie er auf meinen sehr heftigen Ton hin deutlich kleinlauter wurde», wird der Physiker später berichten.

Joliot-Curie sei gar nicht verhaftet, widerspricht der Obersturmbannführer, er habe nur ein Gespräch mit dem Forscher geführt. Rasch lässt er Joliot-Curie gehen, ist so erschrocken, dass er ihn sogar nach Hause bringen will. «Mein Vater hatte ein gutes Gespür für Menschen», erklärte später Gentners Sohn Ralph. Für den deutschen Physiker ist es ein riskantes Spiel, das er diesmal noch gewonnen hat.

Nicht einmal ein Jahr später allerdings muss er Paris verlassen, ein deutscher Gastforscher hat sich über ihn beschwert. Von diesem Zeitpunkt an ist Joliot-Curie nur noch selten am Collège de France zu sehen, er geht in den Untergrund. Erst nach Ende des Krieges werden sich die beiden in Paris wiedersehen.

Von der schicksalhaften Freundschaft der beiden Kernphysiker in der NS-Zeit erzählt auch das soeben im Galiani-Verlag erschienene Buch von Astrid Viciano «Die Formel des Widerstands» (240 S., Fr. 36.90).

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