Montag, November 25

Trotz schwerer Lese- und Schreibschwäche: Der Bieler Autor Sebastian Steffen legt mit «I wett, i chönnt Französisch» einen grandiosen Rollenmonolog vor.

Astrid geht ihm nicht aus dem Kopf. Wie sie tot dalag, im Maisfeld, erwürgt. Zufällig hat er sie entdeckt, als er zwischen den Stauden nach einem verschossenen Fussball suchte. Sie war dreizehn, seine Freundin seit Kindertagen. Zwillingsschwester nannte er sie; schliesslich waren sie am gleichen Tag geboren. Über zwanzig Jahre sind seither vergangen, doch die Geschichte treibt ihn immer noch um. In den Lärm, der ohnehin schon durch seinen Kopf tost, drängt sich immer wieder Astrids Stimme.

Der namenlose Ich-Erzähler in Sebastian Steffens neuem Buch zieht uns vom ersten Satz an in seinen Bann. Das liegt zum einen an dem, was er zu erzählen hat, noch mehr aber an dem, wie er es erzählt: in der Mundart des Berner Seelands, in kurzen Sätzen, in einer rhythmisch und melodisch durchgestalteten Prosa, in der alles nach vorn drängt, in der kein Wort zu viel steht und jeder Halbsatz sein spezifisches Gewicht hat. Ein Krimi ist dieser Rollenmonolog nicht, spannend aber allemal.

Wer spricht? Ein junger Einzelgänger, sensibel, verstört, voller Zweifel. Beide Eltern sind tot. Die Mutter war drogenabhängig, der Sohn ist deshalb schon süchtig auf die Welt gekommen. Nach dem Tod der Eltern hat eine Ziehmutter für ihn gesorgt; er nennt sie «Frau Dokter». Seine Schul- und Berufskarriere ist nicht gerade eine Erfolgsstory. Irgendwann landet er als Koch in einer abgelegenen Alpwirtschaft; die Gäste sind wenig begeistert. Halb verkriecht er sich, halb begehrt er auf. Vor Wehleidigkeit schützt ihn sein Sinn fürs Groteske.

Als Kind misst man sich immer an den andern, und wenn man dauernd scheitert, an der Wandtafel, im Diktat, beim Vorlesen, ist man bald abgestempelt.

«Ich habe nicht alles, was meinem Protagonisten durch den Kopf strudelt, selbst erlebt», sagt der 39-jährige Autor; «aber ich denke mich in ihn hinein. Bei uns daheim gingen allerlei Freaks ein und aus. Auch in der anthroposophischen Schule Schlössli Ins habe ich merkwürdige Typen kennengelernt. Und am Bielersee wurde damals tatsächlich ein Mädchen ermordet. Da war ich ungefähr fünf. In meiner Erinnerung wurde die Leiche in einem Maisfeld gefunden, und immer, wenn wir Kinder an so einem Feld vorbeikamen, wurde es uns unheimlich.»

Geschrieben hat Sebastian Steffen schon immer – sozusagen aus Notwehr und gegen innere Widerstände. Eine schwere Legasthenie machte ihm die Schule zur Qual. «Dort werden die meisten Aufgaben ja schriftlich gestellt», erzählt er, «und wenn man die nicht lesen kann, hat man ein Problem. Als Kind misst man sich immer an den andern, und wenn man dauernd scheitert, an der Wandtafel, im Diktat, beim Vorlesen, ist man bald abgestempelt. Zum Glück war ich gut im Sport; da konnte ich mein Image ein bisschen aufpolieren.»

Wie aber wird ein junger Bursche, der sich mit dem Lesen und Schreiben so schwertut, zum Schriftsteller? Steffens Weg verlief nicht geradlinig. Eine Bauspenglerlehre brach er ab. Er versuchte sich als Ziegenhirt und Landschaftsgärtner, absolvierte eine Ausbildung zum Betreuer. Mehrere Jahre arbeitete er in einer Institution für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung; seit zwei Jahren ist er als «Unterstützungslehrperson» in einem Kindergarten tätig. Weil er aber daneben unentwegt schrieb, Notizen, Geschichten, auch Texte für Songs (bis heute bildet er mit Mathias Schmid die Band Wasser), überredete ein Kollege ihn, doch einmal sein Dossier ans Literaturinstitut Biel zu schicken. Dort wurde er prompt angenommen, obwohl er keine Matura hatte; 2015 machte er seinen Abschluss.

Sebastian Steffens Sprache ist die Mundart. Er hat zwar versucht, sein neues Buch auf Schriftdeutsch zu schreiben, in einem dialektnahen Idiom, das zum Beispiel ohne Imperfekt auskommt, aber es hat nicht funktioniert.

«Ich bin dem Bieler Institut sehr dankbar», sagt Steffen heute, «ich habe viel gelernt, aber ich war dort schon auch ein Exot. Die ersten Monate kam ich mir saudumm vor. Ich hatte keine Ahnung von Literaturtheorie und sollte nun mit privilegierten Studierenden über Begriffe wie ‹performativer Sprechakt› reden.» (In Steffens Dialekt klingt das natürlich anders: Er spricht nicht von «privilegierten Studierenden», sondern von «Studis, won es mega Schoggiläbe hei»; in seinem neuen Buch wird das Aufeinanderprallen der Gegensätze aufs Trefflichste karikiert.)

Entscheidend war, dass die Lehrkräfte in Biel den jungen Autor förderten, ihm aber seinen eigenwilligen Stil liessen. So lernte er, das Beste aus sich zu machen. Überwunden hat Steffen seine Lese- und Schreibschwäche nach eigenem Bekunden bis heute nicht. Im Alltag hat er indes gelernt, mit ihr zu leben: «Manches fällt mir schwer», sagt er, «unter Zeitdruck Mails beantworten oder Berichte schreiben etwa, aber es gibt Strategien: genug Zeit einplanen, das Word-Korrekturprogramm aktivieren, das Atmen nicht vergessen.» Er trägt sein Handicap nicht wie ein Banner vor sich her, aber er tabuisiert es auch nicht. «Das Gfüeu, tumm zsi, bringsch nid so liecht wäg als Ching», sagt er. Deshalb will er in seiner praktischen Arbeit helfen, Ängste und Vorurteile abzubauen.

«I wett, i chönnt Französisch» ist Steffens dritte Veröffentlichung nach dem Wendebuch «Aschtronaut unger em Miuchglasdach / Astronaut unter dem Milchglasdach» sowie der Bruderzwist-Geschichte «leg di aschtändig a» (2016 bzw. 2018, Verlag Die Brotsuppe) – und es ist sein bisher stärkstes Buch. Die Dichte des parataktischen Textes ist eng mit seinem Entstehungsprozess verknüpft. «Ich schreibe die Sätze nicht einfach hin», sagt der Autor, «sondern sage sie mir immer wieder laut vor, während ich auf der Gitarre oder der Tischkante einen Rhythmus schlage. Ich verändere jede Zeile, bis sie in den Takt passt; meist muss ich sie verknappen. Dann kommt der nächste Satz dran; er soll sich im Rhythmus und Klang mit dem vorherigen verbinden. Das ist ein aufwendiges Verfahren, aber anders könnte ich gar nicht schreiben, und am Ende kann ich den Text praktisch auswendig. So muss ich auch nicht fürchten, beim Vorlesen steckenzubleiben.»

Sebastian Steffens Sprache ist die Mundart. Er hat zwar versucht, sein neues Buch auf Schriftdeutsch zu schreiben, in einem dialektnahen Idiom, das zum Beispiel ohne Imperfekt auskommt, aber es hat nicht funktioniert. «Im Dialäkt wird aus geng läbiger», sagt er. Nicht zufällig zählt der Solothurner Ernst Burren, den man sich auch nicht auf Hochdeutsch vorstellen kann, zu seinen Vorbildern. Im Übrigen nennt er Samuel Beckett sowie die Filme von Quentin Tarantino, den Coen Brothers und Paul Thomas Anderson als Einflüsse. Sein grosses Idol aber ist Bob Dylan, und wenn man das einmal weiss, wundert man sich, dass man nicht selbst darauf gekommen ist: Wie der Jahrhundertbarde ist auch Steffen auf der Suche nach gesprochenen Zeilen, in denen Aussage, Symbolik, Rhythmus und Klang eins werden – und die doch wirken, als hätte man sie gerade am Strassenrand aufgeklaubt.

Sebastian Steffen: I wett, i chönnt Französisch. Der gesunde Menschenversand. 160 S., um Fr. 27.–. Lesung: Café Kairo, Bern, 2. 2., 20 Uhr.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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