In den vergangenen Tagen hat die russische Armee ihre Angriffe auf die Kleinstadt Torezk verstärkt. Der Krieg in der Ukraine fordert auf beiden Seiten hohe Verluste. Russland und die Ukraine gehen damit aber sehr unterschiedlich um.

Im Donbass ist die Provinzstadt Torezk seit Mitte Juni zu einem neuen Fokus des Kampfgeschehens geworden. Laut Angaben des russischen Verteidigungsministeriums, die sich mit den üblicherweise sehr zuverlässigen Informationen der Website deepstatemap.live decken, haben die russischen Angreifer im Osten der von den Ukrainern gehaltenen Stadt seither kleinere Gebietsgewinne erzielt. Seit Samstag befindet sich das Dorf Schumi unter russischer Kontrolle.

Versuch einer Frontbegradigung

Die Stadt Torezk, die vor dem Krieg etwa 30 000 Bewohner hatte, und ihr Umland stehen seit Tagen unter heftigem Beschuss. Laut den ukrainischen Behörden wurde etwa am Samstag in der südlich von Torezk gelegenen Ortschaft Nju Jork ein Zivilist durch eine Rakete getötet. Der kuriose Name, der im Ukrainischen und im Russischen identisch mit jenem der amerikanischen Metropole ist, stammt von deutschen Siedlern aus der Ortschaft Jork bei Hamburg, die sich im 19. Jahrhundert in der Region niederliessen.

Torezk befindet sich etwa auf halber Strecke zwischen der bereits im Februar gefallenen Stadt Awdijiwka im Süden und der heftig umkämpften Frontstadt Tschasiw Jar im Norden. Die Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) deutet die Angriffe auf Torezk als Versuch einer Frontbegradigung. Tatsächlich würde die Region bei einem weiteren Vorrücken der russischen Truppen im Hinterland von Awdijiwka zu einem Keil, der tief in die russische Front hineinragt.

Obwohl Russland mit Torezk die Angriffe an einem Frontabschnitt intensiviert hat, der während Monaten weitgehend inaktiv war, hat die russische Armeeführung bisher nur in beschränktem Ausmasse zusätzliche Feuerkraft in die Region verlegt. Für eine grössere Offensive mit dem Ziel einer schnellen Einnahme der Stadt reicht das kaum.

Graduelle Fortschritte statt grosser Durchbrüche

Für die Experten des ISW ist der Angriff deshalb auch exemplarisch für ein Vorgehen, das laut Russlands Präsidenten Wladimir Putin seinem Land langfristig den Sieg sichern soll. Anfang Juni erklärte Putin am Wirtschaftsforum in St. Petersburg, Russland sei nicht auf einen schnellen Erfolg angewiesen.

Die Ziele könnten auch durch kontinuierliche, kleinere Fortschritte erreicht werden. Russland könne aufgrund seines grösseren Reservoirs an Kriegsmaterial und Soldaten den offensiven Druck an vielen Frontabschnitten und über lange Zeit aufrechterhalten.

Dies halte einerseits die Ukraine von Gegenoffensiven ab. Zudem böten sich infolge ukrainischer Truppenverlegungen zur Abwehr russischer Angriffe immer wieder Gelegenheiten zu graduellen Vorstössen. Dass diese oftmals mit schlecht ausgebildeten Infanterieeinheiten ausgeführt werden, die dabei horrende Verluste erleiden, wird in Kauf genommen.

Russland verliert jeden Tag mehr als 1000 Mann

Putins Aussagen dürften auch vor dem Hintergrund der damals bereits weitgehend gestoppten Offensive auf Charkiw gemacht worden sein. Dabei war es den Russen eben nicht gelungen, im Rahmen eines Grossangriffs in kurzer Zeit einen taktischen Erfolg zu erzielen.

Die Äusserungen stehen aber auch für die Überzeugung des Kremls, dass die westliche Unterstützung an die Ukraine endlich sei und Russland nur den längeren Atem zu beweisen brauche, um am Ende die Kriegsziele zu erreichen. Umso wichtiger ist es, dass der Westen der Ukraine ohne Verzögerung die für die Verteidigung des Landes notwendigen Mittel zur Verfügung stellt.

Russland geht weiterhin verschwenderisch mit der Ressource Mensch um. Der Mai dieses Jahres, in den auch die Offensive auf Charkiw fiel, sei aus russischer Sicht der bisher blutigste Monat des Krieges gewesen, schreibt die «New York Times» mit Verweis auf westliche Geheimdienstinformationen.

Demnach seien jeden Tag mehr als 1000 russische Soldaten gefallen oder verletzt worden. Laut Zählungen der ukrainischen Streitkräfte, für die es allerdings keine unabhängigen Bestätigungen gibt, halten diese hohen Verluste auch weiterhin an.

Hohe Verluste schlagen in der Ukraine Wellen

Durch 25 000 bis 30 000 meist nur notdürftig ausgebildete Soldaten, die jeden Monat neu an die Front geschickt würden, gelinge es Russland aber bisher, zumindest nominell diese Verluste auszugleichen, schreibt die «New York Times». Berichte über verstärkte russische Rekrutierungsbemühungen in marginalisierten Bevölkerungsschichten passen ins Bild. Dazu gehören etwa kürzlich eingebürgerte Personen, von denen die Mehrzahl aus Zentralasien stammen dürfte.

Auch die Ukraine leidet unter hohen Verlusten an der Front. Anders als in Russland, wo öffentlicher Widerspruch schlicht nicht möglich ist, kann die Regierung den damit verbundenen Unmut nicht einfach ignorieren. Angesichts der verstärkten Anstrengungen zur Mobilisierung wehrfähiger Männer gilt das erst recht.

Zumindest in Teilen dürfte damit auch ein prominenter Personalwechsel in der vergangenen Woche zusammenhängen. Präsident Selenski entliess überraschend Generalleutnant Juri Sodol. Nur kurz zuvor hatte ein hoher Offizier der Asow-Brigade eine Strafuntersuchung gegen Sodol gefordert. Dieser habe mehr ukrainische Soldaten getötet als jeder russische General, lautete der Vorwurf.

Sodol stand in der Kritik, Soldaten schlecht vorzubereiten und bewusst hohe Verluste in Kauf zu nehmen. Er ist ein Vertrauter des Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, Olexander Sirski, der diese Funktion seit der Absetzung seines sehr populären Vorgängers Waleri Saluschni innehat. Die Kritik an Sodol zeigt, dass der damalige Wechsel in der obersten Militärführung weiterhin Wellen schlägt.

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