Donnerstag, Oktober 10

Das vor 1300 Jahren gegründete Kloster auf der Insel Reichenau war wegweisend für viele andere Klöster wie etwa Einsiedeln. Heute leben und praktizieren wieder Mönche auf der Reichenau.

Wenn man sich über den mit Pappeln bepflanzten Damm auf die Insel Reichenau begibt, fällt als Erstes die Kirche Sankt Georg ins Auge. Sie steht inmitten eines Grünkohlfelds, von dem sich ihre gelbe Fassade deutlich abhebt. Die Ende des 9. Jahrhunderts gebaute Basilika gehört zu den ältesten Georgskirchen in Europa.

Es ist genau diese Mischung, die die Besonderheit der Reichenau ausmacht: Einerseits wird auf der grössten Insel im Bodensee fast überall Gemüse, Salat oder Wein angebaut; anderseits finden sich hier Bauwerke, die an eines der bedeutendsten Klöster des europäischen Mittelalters erinnern.

Drei romanische Kirchen sind noch erhalten. Sie bilden gleichzeitig historische und geografische Wegmarken: Im Mittelpunkt der Insel, im Ortsteil Mittelzell, steht die ehemalige Abteikirche, das heutige Münster Sankt Maria und Markus. An der westlichen Spitze der Insel, im Ortsteil Unterzell, befindet sich die Kirche Sankt Peter und Paul, im Ortsteil Oberzell die Georgskirche.

Die Georgskirche ist für ihre beeindruckenden Wandmalereien aus dem frühen Mittelalter berühmt: acht Bildfelder, zwei Meter hoch und vier Meter breit, die alle Heilungswunder Jesu zeigen. Sie zählten zu den frühesten Zeugnissen ihrer Art, so der Konstanzer Historiker Harald Derschka, der ein umfassendes Werk über die Geschichte des Klosters Reichenau geschrieben hat. Die Ausmalung der Kirche Sankt Georg sei nördlich der Alpen einmalig, schreibt er. «Wir haben sonst keine vollständige Kirchenausmalung des 10. Jahrhunderts in dieser Region.» Die Wandmalereien waren einer der Hauptgründe für die Aufnahme der Insel Reichenau ins Unesco-Weltkulturerbe.

Die wertvollste Buchkunst der Welt

Aber auch jenseits davon war das Kloster ein künstlerisches Zentrum. Die Handschriften aus dem 10. und 11. Jahrhundert, die die Reichenauer Mönche verfasst und illustriert haben, gehören zu den schönsten ihrer Zeit. So ist allein der Einband des sogenannten Evangeliars von Kaiser Otto III. ein Kleinod: Es ist vorn mit einem Elfenbeinrelief verziert, das durch ein mit zahlreichen Edelsteinen und Perlen bestücktes Goldblech gerahmt ist.

Im Inneren befinden sich ganzseitige Zeichnungen, die eindrücklich zeigen, welche Qualität die Werke der sogenannten Reichenauer Malschule hatten. Diese gehören zum Besten, was von der mittelalterlichen Buchkunst überliefert ist. Rund sechzig Handschriften sind noch erhalten. Harald Derschka sagt, dass sie zu den wertvollsten Büchern der Welt gehörten.

Wann und wie es genau zur Gründung eines Klosters durch einen gewissen Pirminius oder Pirmin auf der Reichenau kam, steht bis heute nicht eindeutig fest. Pirmin wurde um 720 – möglicherweise im französischen Meaux – zum Wanderbischof geweiht und zur Mission nach Nordwestfrankreich und an den Oberrhein gesandt: Es gebe kein authentisches zeitgenössisches Dokument über die Gründung, sagt der Historiker Derschka. «724 ist ein traditionell angenommenes Datum, das aber in die wenigen Fixpunkte, die wir über Pirmins Leben wissen, passen würde.»

Die Gründung eines Klosters auf der Reichenau vor 1300 Jahren gehörte aber zweifelsfrei zu den Bemühungen der römischen Kirche, die Region im östlichen Teil des Frankenreichs zu christianisieren. Dazu zählten das heutige Westdeutschland, die Niederlande und die Schweiz.

Zur klösterlichen Ideologie gehört das Motiv der Weltabkehr, daher lag eine Insel als Standort nahe. Die Abteikirche wurde auf der Nordseite, gleich neben einem Naturhafen, errichtet. Von dort ist es nicht weit mit dem Boot zum Festland beim heutigen Ort Allensbach, etwa zehn Kilometer westlich von Konstanz.

Der Südseite der Insel fliesst der Seerhein entlang, der den Bodensee mit dem Rhein verbindet. «Gerade im Fall der Reichenau würde ich daher das Motiv der Weltabkehr nicht allzu hoch hängen», schränkt Harald Derschka ein: «Die Reichenau ist eine Rheininsel, und der Rhein war die Hauptachse des Frankenreichs. Pirmin hat also an der Autobahn gebaut.»

Die Abteikirche war zunächst ein recht bescheidener Holzbau. Sie entwickelte sich aber bald zu einem monumentalen Steingebäude und zum Zentrum eines beachtlichen Klosters mit entsprechenden Nebengebäuden für die wachsende Zahl der Mönche. Der Adel schickte seine Söhne zur Ausbildung in die Klosterschule. Besonders fähige Mönche dienten König und Kaiser als Diplomaten.

Unter Abt Hatto III., zu Beginn des 10. Jahrhunderts, erlangte die Abtei eine überragende politische Sichtbarkeit: Der diplomatisch hochbegabte Abt wurde nicht nur Erzkanzler des Reichs, sondern auch Taufpate und Vormund Ludwigs des Kindes, des letzten deutschen Karolingerkönigs.

Neue Wohngemeinschaft von Mönchen

Die Abtei Reichenau sei wegweisend gewesen für die Entstehung anderer Klöster, erzählt Urban Federer, Abt des Klosters Einsiedeln im Kanton Schwyz: «Die Bedeutung von Reichenau und Sankt Gallen, den beiden grossen Abteien Mitteleuropas, kann man nicht wegdenken für andere Klöster wie Einsiedeln. Man hat sich dort das Know-how, wie man Mönch wird, geholt.»

Für die Entstehung des Klosters Einsiedeln spielte der Reichenauer Mönch Meinrad eine wichtige Rolle. Er kam mit fünf Jahren zur Ausbildung in die Klosterschule auf der Insel. Nach Beendigung seiner Studien legte er die Gelübde als Benediktinermönch ab. Meinrads grosser Wunsch war es, Gott als Einsiedler zu dienen. So zog er sich auf den Etzelpass und später in den sogenannten Finsteren Wald zurück und lebte dort über zwei Jahrzehnte lang in einer Klause. An ihrer Stelle entstand im Jahr 934 das Kloster Einsiedeln. Meinrad wurde 861 von Räubern erschlagen.

Der Niedergang der Reichenauer Abtei begann im 14. Jahrhundert. Das Kloster geriet in wirtschaftliche Schwierigkeiten, die Anzahl der Mönche nahm rapide ab. Das Prinzip, nur Adelige in die Klosterschule aufzunehmen, hatte sich überlebt. Mehrere Reformversuche scheiterten. Das Kloster wurde ins Bistum Konstanz eingegliedert und 1757 schliesslich aufgelöst. Nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und der damit einhergehenden Säkularisation kirchlicher Besitztümer gingen das Kloster und seine Ländereien in den Besitz weltlicher Fürsten über.

Danach wurde es für längere Zeit still um die einst mächtige Klosterinsel. Aber seit 2001 gibt es wieder Mönche auf der Reichenau und sogar ein kleines Kloster, genauer genommen eine Cella. So heisst die kleinste Form eines Klosters. Zu finden ist diese Cella im Ortsteil Niederzell, gegenüber der Kirche Sankt Peter und Paul.

Hier steht ein schmuckes, weiss getünchtes Haus mit grünen Fensterläden, erbaut 1725. Es ist gleichzeitig auch das Pfarrhaus der Kirche. Neben der Klingel weist nur ein kleines Messingschild auf die «Cella St. Benedikt» hin. Darauf stehen auch die Namen der drei Mönche, die dort leben: Pater Stephan Vorwerk, Pater Hugo Eymann und Pater Stephanos Petzolt.

Als Stephan Vorwerk 1991 als Münsteraner Theologiestudent erstmals während der Ferien auf die Reichenau kam, gab es seit über 200 Jahren keine Mönche mehr auf der Insel. Für ihn war schnell klar, dass er an die alte Klostertradition wieder anknüpfen wollte: «Ich habe damals die Gebäude und Kirchen besucht und gespürt, dass die Mauern etwas von der Geschichte dieses Ortes ausstrahlen. Das hat mich nicht mehr losgelassen und über Jahre beschäftigt.»

Von seinem Plan, wieder Mönche auf der Reichenau anzusiedeln, erzählte er dem befreundeten Bischof von Münster. Der wiederum gab diese Idee an den Bischof von Freiburg weiter. Beide Bischöfe unterstützten den Vorschlag. Am 1. September 2001 liessen sich die Benediktinermönche Stephan Vorwerk, der zuvor in Israel gelebt und das Kloster in Tabgha am See Genezareth geleitet hatte, sowie Nikolaus Egender, Altabt der Dormitio-Abtei in Jerusalem, auf der Insel Reichenau nieder. Drei Jahre später wurde die Cella St. Benedikt offiziell errichtet.

Eine moderne Botschaft

Die Mönche übernehmen die Gottesdienste in allen drei Kirchen auf der Reichenau. Zum gemeinsamen Mittagessen im Mönchsrefektorium am Sonntag und an den Feiertagen kommen auch die beiden Benediktinerschwestern, die seit 2017 ebenfalls auf der Reichenau, direkt gegenüber dem Pfarrhaus, wohnen. Zum festen Bestandteil des Lebens der Mönche und der Schwestern gehören die drei Tagesgebete: Die Morgenhore, das Mittagsgebet und die Abendhore werden ganz bewusst öffentlich in der Sankt-Egino-Kapelle der Peter-und-Paul-Kirche abgehalten. Jeder ist willkommen, daran teilzunehmen.

Träumt Pater Stephan manchmal davon, dass auf der Reichenau wieder ein grosses Kloster entsteht wie einst? «Die Zukunft unserer Klöster liegt nicht mehr in diesen grossen Gemeinschaften. Die Mitgliederzahlen schrumpfen fast überall. Die Form einer Cella ist daher genau richtig», sagt er.

Auch Bürgermeister Wolfgang Zoll weiss, dass die Reichenau keine Zukunft mehr als reine Klosterinsel hat. Er ist aber davon überzeugt, dass das, was sie verkörpert, für die heutige Zeit durchaus an Bedeutung gewinnt: «Es ist eine insulare Welt, ein begrenztes Gebilde. Es ist uns hier auf der Insel immer sehr bewusst gewesen, dass die Fläche begrenzt ist. Entweder nutze ich das Gebiet für den Tourismus, den Wein- oder den Gemüseanbau. Die Ressourcen lassen sich nicht vermehren. Das ist, glaube ich, auch eine sehr moderne Botschaft, die von der Insel ausgeht.»

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