Samstag, April 26

Ein visuelles Erklärstück.

Während sich die israelische Armee auf eine Offensive in Rafah vorbereitet, hat sie gleichzeitig die Einfuhr humanitärer Hilfe in den Gazastreifen in den vergangenen Wochen erleichtert. Es gelangen mehr Lastwagen mit Essen, Medizin und anderen humanitären Gütern nach Gaza.

Laut Cogat, der Behörde des israelischen Verteidigungsministeriums, die für die Koordination der Hilfslieferungen in den Gazastreifen zuständig ist, haben zuletzt im Durchschnitt über 350 Lastwagen pro Tag Essen, Medizin und andere humanitäre Güter in den Gazastreifen geliefert. Obwohl die Vereinten Nationen eine geringere Anzahl Lastwagen zählten – im Durchschnitt rund 200 pro Tag Ende April –, berichten sie und andere internationale Organisationen ebenfalls von einer Zunahme der Hilfslieferungen nach Gaza.

Die Uno-Schätzungen stiegen im April auf fast 200 Lastwagen pro Tag

Anzahl Lastwagen mit Hilfsgütern pro Tag, nach Grenzübergang

Dass wieder mehr Hilfsgüter nach Gaza gelangten, liege auch an der vorübergehenden Öffnung des Grenzübergangs Erez und des Hafens von Ashdod für humanitäre Güter, erklärte Sigrid Kaag, die UN-Koordinatorin für humanitäre Hilfe und Wiederaufbau im Gazastreifen. Auch für die Verteilung der Güter im Innern Gazas gibt es inzwischen zusätzliche Routen.

Amerikanische Ingenieure haben zudem mit dem Bau einer provisorischen Anlegestelle für Hilfsschiffe an der Küste Gazas begonnen. Gestern hat auch die Hilfsorganisation World Central Kitchen (WCK) ihre Tätigkeiten in Gaza wieder aufgenommen. Vor vier Wochen hatte die Organisation ihre Arbeit eingestellt, nachdem sieben ihrer Mitarbeiter bei einem israelischen Angriff auf einen Konvoi getötet worden waren. «Wir werden auf dem Land-, Luft- oder Seeweg so viele Nahrungsmittel wie möglich nach Gaza und vor allem in den nördlichen Gazastreifen bringen», erklärte ein Sprecher von WCK am Sonntag.

Keine Entwarnung

Trotz den positiven Signalen will Kaag aber noch keine Entwarnung geben. Angesichts des Ausmasses der Zerstörung und des menschlichen Leids müsse nun jeden Tag genug Hilfe in das Kriegsgebiet gelangen, sagte sie vor dem Uno-Sicherheitsrat. Noch immer gelangen deutlich weniger als die 500 Lastwagen, die vor dem Krieg im Schnitt pro Tag über die Grenze rollten, in den Gazastreifen. Die Gefahr einer Hungersnot ist insbesondere im Norden nicht gebannt.

Davor, dass eine Hungersnot in den nächsten Monaten bevorsteht, hatte Mitte März das internationale Expertenkomitee der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) in einem vielbeachteten Bericht gewarnt. So sollen im Gazastreifen fast 880 000 Menschen unter einem akuten Nahrungsmittel-Notstand leiden, während rund 680 000 Menschen von «katastrophalem Hunger» betroffen seien. Mehr als die Hälfte der rund 2,2 Millionen Menschen in Gaza hungert, nur rund hunderttausend sind laut IPC nicht dringend auf humanitäre Lieferungen angewiesen.

Ein immer grösserer Teil der Bevölkerung in Gaza leidet unter Hunger

Einteilung der Bevölkerung gemäss ihrer Stufe auf der Ernährungssicherheits-Skala der IPC. Ein Punkt steht für 5000 Menschen.

Das könnte sich gemäss IPC bald ändern. Im Norden des Gazastreifens drohe zwischen Mitte März und Mai eine Hungersnot, und im gesamten Gebiet bestehe «die Gefahr einer Hungersnot», schrieben die Experten. Die Warnung vor einer bevorstehenden Hungerkatastrophe sorgte weltweit für Schlagzeilen und zog den Zorn der israelischen Regierung auf sich.

Diese warf den Experten vor, in ihrem Bericht schwerwiegende sachliche und methodische Fehler begangen zu haben. Die IPC stütze sich auf unvollständige oder falsche Daten, schrieb die israelische Cogat in einer Stellungnahme. So seien viel mehr Essen, Wasser und Nahrungsmittel in den Gazastreifen gelangt als von der IPC angenommen. Zudem gebe es in verschiedenen Teilen des Gazastreifens, einschliesslich des Nordens, gut gefüllte Lebensmittelmärkte mit einer Vielzahl von Nahrungsmitteln. Falls es dennoch zu Nahrungsmittelknappheit komme, sei die Hauptursache dafür die mangelnde Fähigkeit der Hilfsorganisationen, die Güter schnell zu verteilen, so Cogat.

Was eine Hungersnot ist, ist streng geregelt

Die Lageanalyse der IPC stützt sich auf ein fünfstufiges System, nach dem beurteilt wird, wie viele Menschen wie stark von Hunger betroffen sind. Dafür befragten rund 40 Experten von 18 internationalen Organisationen Bewohner im Gazastreifen per Telefon zu ihrer Situation und evaluierten dann, in welcher Phase der Ernährungssicherheit sie sich befanden. Dabei variiert diese von Haushalt zu Haushalt: Jede Familie weist unterschiedliche Vermögen, Vorräte oder Mitglieder in verschiedenen körperlichen Verfassungen auf.

Eine zunehmende Ernährungsunsicherheit (Phase 2) stellt das IPC fest, sobald Geld für Essen und wichtige Hygieneartikel wie Seife, Tampons oder Windeln ausgeht und erste Haushalte ihre Mahlzeiten auf das Nötigste reduzieren.

Ernährungsunsicherheit kann sich selbst dann ausbreiten, wenn Lebensmittel auf den Märkten noch verfügbar sind. Dann nämlich, wenn die Preise für gewisse Bewohner unerschwinglich werden. In Rafah im südlichen Gazastreifen, wo mittlerweile über eine Million Menschen Zuflucht gesucht haben, kostet beispielsweise Spinat oder Mangold für eine Familie 25-mal so viel wie noch vor dem Krieg. Ein Kilo Zwiebeln kostet gar das 50-Fache. Fladenbrot oder Tomaten kosten das Sieben- oder Achtfache. Dies zeigen Zahlen der humanitären Organisation Christian Aid, welche die Preisschwankungen analysiert hat.

Die Preise für Lebensmittel haben sich vervielfacht

Die Kreisgrössen geben an, wie viel teurer verschiedene Produkte im Vergleich zu vor dem Krieg sind.

Allerdings sind Hilfsgüter für die Bevölkerung grundsätzlich kostenlos. Immer wieder werden aber Lebensmittel gestohlen und dann zu überteuerten Preisen verkauft. Wer nicht über das Geld verfügt, überteuerte Lebensmittel zu kaufen, muss Vermögenswerte dafür eintauschen, Mahlzeiten auslassen und kann sich oft nur einseitig ernähren. Bewohner einiger weniger Haushalte zeigen bereits Symptome akuter Mangelernährung, darunter Haarausfall, Hautausschläge und Gewichtsverlust. Das IPC spricht dann von Haushalten im Krisenmodus (Phase 3).

Wenn bereits sämtliche Vermögenswerte verkauft oder eingetauscht sind und täglich mehrere Mahlzeiten ausgelassen werden, tritt in einem Haushalt der Nahrungsmittelnotstand (Phase 4) ein. Fälle akuter Mangelernährung nehmen dann rasant zu, und erste Menschen sterben an den Folgen von Hunger. Im Gazastreifen sollen laut der Weltgesundheitsorganisation bis Anfang April 28 Menschen an den Folgen von Mangelernährung gestorben sein.

Erst dann, wenn kaum mehr eine Möglichkeit besteht, Essen oder Wasser aufzutreiben und Mahlzeiten nur noch improvisiert werden können, sei es in Form von dünnen Suppen oder einem Stück Brot, spricht der IPC von Haushalten, die an «katastrophalem Hunger» leiden (Phase 5).

Damit ist die Schwelle zur Hungersnot jedoch noch immer nicht überschritten. Diese kann erst deklariert werden, wenn für ein bestimmtes Gebiet drei Kriterien erfüllt sind: Mindestens 1 von 5 Haushalten leidet unter katastrophalem Hunger. 1 von 3 oder ein höherer Anteil der Kinder in dem Gebiet ist akut mangelernährt. Und mindestens 2 von 10 000 Menschen sterben täglich an den Folgen von Hunger oder dem Zusammenspiel von Unterernährung und Krankheit. Die IPC geht davon aus, dass diese Kriterien im Norden schon im Mai erreicht sein könnten, sollten Hilfslieferungen in diesen besonders vom Krieg und seinen Folgen heimgesuchten Teil des Gazastreifens nicht drastisch zunehmen.

Die IPC prognostiziert, dass im Norden des Gazastreifens bis im Juli eine Hungersnot herrschen könnte

Einteilung der Bevölkerung gemäss ihrer Stufe auf der Ernährungssicherheits-Skala der IPC. Ein Punkt steht für 5000 Menschen.

Die IPC prognostiziert, dass im Norden des Gazastreifens bis im Juli eine Hungersnot herrschen könnte - Einteilung der Bevölkerung gemäss ihrer Stufe auf der Ernährungssicherheits-Skala der IPC. Ein Punkt steht für 5000 Menschen.

Warnung vor Hungersnot zeigt erste Wirkung

Es wäre erst das dritte Mal seit der Einführung der IPC-Skala, dass eine Hungersnot deklariert würde. Letztmals geschah dies 2017 im Südsudan und davor 2011 in Somalia. Die alleinige Feststellung einer Hungersnot bringt zwar keinerlei Verpflichtung für Staaten oder Organisationen mit sich, zu handeln. Die Warnung der IPC kann die Akteure jedoch aufschrecken, wie das Echo nach der Veröffentlichung der IPC-Analyse im Gazastreifen gezeigt hat.

Der internationale Druck, insbesondere der USA auf Israel, mehr humanitäre Hilfe zuzulassen und weitere Hilfsrouten zu öffnen, intensivierte sich danach weiter. Inzwischen hat sich die Situation teilweise verbessert. Damit eine Hungersnot insbesondere im nördlichen Gazastreifen aber abgewendet werden kann, pocht die internationale Gemeinschaft auf noch mehr Kooperation Israels. Sollten die Hilfslieferungen weiter zunehmen, ist es möglich, dass eine Hungersnot gar nicht erst ausgerufen wird.

Exit mobile version