Der Vorfall zeugt vom Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung in dem Küstengebiet. Die Verteilung der humanitären Hilfe bleibt ein Problem – Hilfsorganisationen nehmen Israel in die Pflicht.
Dass im Gazastreifen Lastwagen mit humanitären Hilfsgütern von bewaffneten Banden und der Hamas ausgeraubt werden, ist ein bekanntes Problem. Doch nun scheint eine neue Dimension erreicht zu sein: Am Montag wurde bekannt, dass am 16. November ein Konvoi von mehr als 100 Lastwagen geplündert wurde. Wie das Palästinenserhilfswerk UNRWA mitteilte, wurden 97 Lastwagen ausgeraubt, die Fahrer seien mit vorgehaltener Waffe gezwungen worden, die Hilfsgüter auszuladen. Gerade einmal elf Lastwagen hätten ihr vorgesehenes Ziel erreicht.
Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Die UNRWA machte auch keine Angaben dazu, wer hinter der Plünderung steckt. Die israelischen Streitkräfte (IDF) haben den Vorfall bisher nicht kommentiert. Allerdings meldete sich am Montagabend das von der Hamas kontrollierte Innenministerium des Gazastreifens zu Wort: In einer «von Sicherheitskräften durchgeführten Operation in Kooperation mit Stammesgruppen» seien mehr als 20 Menschen getötet worden.
Diese «Operation» sei der Beginn einer grösseren Kampagne, um das Problem der Diebstähle anzugehen, heisst es in der Mitteilung weiter. Es scheint sich dabei um einen Versuch der Hamas zu handeln, Stärke und Handlungsfähigkeit als Ordnungsmacht im Gazastreifen zu demonstrieren. Dabei zeigt nur schon der Umstand, dass die Islamisten offenbar mit Stammesgruppen zusammenarbeiten mussten, dass sie ihre Macht in den vergangenen Monaten weitgehend eingebüsst haben.
Versorgungslage hat sich verschlechtert
Vor allem aber zeugt der Vorfall davon, dass die öffentliche Ordnung im Gazastreifen nach mehr als einem Jahr Krieg völlig zusammengebrochen ist, während verschiedene Gruppen um Macht und Einfluss konkurrieren. Ein zentraler Machtfaktor ist dabei die Kontrolle über die Verteilung der Hilfsgüter – das machen sich sowohl die Hamas als auch organisierte Banden zunutze. Indem sie die erbeuteten Lebensmittel zu überteuerten Preisen auf dem Schwarzmarkt verkaufen oder von den Hilfsorganisationen Schutzgelder erpressen, generieren sie zudem ein Einkommen.
Die Lage ist inzwischen derart prekär, dass Hilfsgüter zwar die Grenze zum Gazastreifen passieren, dort aber von den Hilfsorganisationen nicht abgeholt werden – aus Angst vor Plünderungen und Gewalt. Seit Monaten beschweren sich humanitäre Organisationen über diese Zustände: Laut ihnen lässt sich die Lage nur verbessern, wenn deutlich mehr Hilfsgüter geliefert werden. Zwar hat sich die Menge der Hilfsgüter, die den Gazastreifen erreichen, zuletzt leicht erhöht. Sie liegt aber immer noch weit unter dem Durchschnitt der vergangenen Monate. Laut den Vereinten Nationen hat sich die Lebensmittelversorgung im gesamten Gazastreifen zuletzt drastisch verschlechtert.
Die UNRWA nahm am Montag die israelischen Behörden in die Pflicht: Diese würden ihre Pflichten missachten, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu decken. Die IDF machten in Vergangenheit hingegen die Hilfsorganisationen für die Probleme bei der Verteilung verantwortlich. Allerdings weisen Rechtsexperten darauf hin, dass laut dem Völkerrecht die Besetzungsmacht dafür zuständig ist, die Verteilung der Hilfsgüter zu ermöglichen.
Neuer Plan von Netanyahu
In Israel scheint man sich des Problems durchaus bewusst zu sein, doch eine Lösung wurde bisher nicht gefunden. Laut Angaben der Zeitung «Haaretz» will die israelische Regierung eigentlich die IDF mit der Verteilung der Hilfsgüter beauftragen, was diese jedoch ablehnt. Im Oktober berichtete die «Times of Israel», dass die Regierung erwäge, die Hilfe durch private Sicherheitsfirmen verteilen zu lassen.
In einer Rede am Montag sagte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, er habe die Armee damit beauftragt, einen Plan auszuarbeiten, um neben den militärischen Kapazitäten der Hamas nun auch die Regierungsfähigkeit der Hamas zu zerstören. Dabei gehe es nicht zuletzt darum, der Hamas die Möglichkeit zu nehmen, Hilfsgüter zu verteilen. Ein Grundproblem jedoch bleibt: Es gibt nach wie vor keine alternative Verwaltung, die im Gazastreifen für Recht und Ordnung sorgen kann – derweil herrscht das Chaos.