Mittwoch, Oktober 9

Deutschlands Bundeskanzler versprach, Ausschaffungen deutlich zu beschleunigen. Eine Datenanalyse der NZZ zeigt: Es gab tatsächlich mehr Abschiebungen, insgesamt ändert das aber nur wenig.

Es war die Art von Magazin-Covern, die auch Monate nach der Veröffentlichung im kollektiven Gedächtnis bleiben. Im Oktober 2023 kündigte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Titelseite des «Spiegels» an: «Wir müssen endlich im grossen Stil abschieben.»

Scholz versprach im dazugehörigen Interview, Asylverfahren zu beschleunigen und mehr Menschen ohne Bleibeperspektive in ihre Herkunftsländer zurückzuführen. Er pochte auf eine verstärkte Zusammenarbeit mit Herkunftsstaaten. Es gehe ihm darum, die «irreguläre Migration» zu begrenzen. «Es kommen zu viele», waren seine Worte.

Doch wie sieht die Realität aus? Um diese Frage zu beantworten, hat die NZZ die Abschiebezahlen aus den Jahren 2022, 2023 und 2024 aus allen Bundesländern angefragt. Deren Auswertung ergibt kein eindeutiges Bild.

Was bedeutet «im grossen Stil»?

Tatsächlich hat der Kanzler sein Versprechen gehalten, wenn man unter «im grossen Stil» eine nachweisbare Steigerung der Abschiebungen versteht. Seit dem Erscheinen des «Spiegel»-Covers haben die Bundesländer mehr Personen abgeschoben. Ein Vergleich der Zahlen aus den Jahren 2023 und 2024 zeigt einen deutlichen Anstieg.

So wurden von Januar bis Mai 2024 nach Angaben der Bundespolizei bereits 7846 Menschen von den Bundesländern abgeschoben. In der Vorjahreszeit liegt die Anzahl nach Berechnungen der NZZ bei 6048. Das entspricht einer prozentualen Erhöhung von rund 30 Prozent.

Dieser Trend entspricht anderen Medienberichten wie dem des «Hamburger Abendblatts», wonach im ersten Halbjahr 2024 die Zahl der Ausweisungen um 30 Prozent gestiegen sei. Im ersten Halbjahr 2024 sind 841 Personen aus Hamburg abgeschoben worden, im Vorjahreszeitraum waren es 645 Menschen.

Deutlich mehr Abschiebungen im Frühjahr 2024

Das liegt deutlich über den Erwartungen im Entwurf des Rückführungsverbesserungsgesetzes. Die Bundesregierung ging dort von einem Anstieg der Abschiebungen um lediglich 5 Prozent aus, also etwa 600 zusätzlichen Abschiebungen pro Jahr. Das Gesetz ist im Februar dieses Jahres in Kraft getreten.

Nordrhein-Westfalen ist Spitzenreiter bei Ausschaffungen

Spitzenreiter 2024 in absoluten Zahlen ist Nordrhein-Westfalen mit 1708 – ein Plus von 273 im Vergleich zum Vorjahr. Zum Stichtag Ende April entfallen mehr als ein Fünftel der bundesweiten Ausreisen und Abschiebungen im Jahr 2024 auf das bevölkerungsreichste Bundesland. Das grösste Bundesland Bayern (+278) und der Stadtstaat Hamburg (+216) verzeichneten ebenfalls Erfolge bei den Rückführungen.

Auf der anderen Seite haben Berlin (+7) und Bremen (+17) die geringsten Zunahmen im Vergleich zum Vorjahr. Brandenburg (-10) und das Saarland (-6) verzeichnen als einzige Bundesländer einen Rückgang in der Anzahl der Abschiebungen verglichen mit dem Vorjahr, der in absoluten Zahlen aber geringfügig ausfällt.

Bremen verzeichnete einen prozentualen Anstieg von 340 Prozent bei Abschiebungen, da die Zahl der abgeschobenen Ausreisepflichtigen von 5 auf 22 stieg. Der hohe Prozentsatz resultiert aber aus der niedrigen Ausgangsbasis.

Erste Reaktionen der Länder auf das neue Gesetz

Ist es die Suggestivkraft von Scholz’ Worten oder das von der Ampelkoalition verabschiedete Rückführungsverbesserungsgesetz, das den Unterschied macht? Die NZZ hat die Länder nach einer Einschätzung gefragt.

Mehrere Bundesländer sagen, dass die Auswirkungen des Rückführungsverbesserungsgesetzes wegen des kurzen Zeitraums seit dem Inkrafttreten schwer zu bewerten seien (Bayern, Hessen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein).

Einigkeit herrscht darüber, dass das Gesetz gewisse Erleichterungen im Abschiebeverfahren bringe, aber nicht alle Hindernisse beseitige (Thüringen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen). Viele Länder betonen, dass die Kooperation der Herkunftsländer entscheidend sei – diese ist oft mangelhaft.

Brandenburg verfolgt den Ansatz, sich auf die Abschiebung von Straftätern und Integrationsverweigerern zu konzentrieren und freiwillige Ausreisen zu fördern, was auch in den Zahlen ersichtlich ist. So sind im laufenden Jahr 2024 bis Mai 95 Menschen aus Brandenburg abgeschoben worden – aber 374 sind freiwillig ausgereist.

Brandenburgs christlichdemokratischer Innenminister Michael Stübgen sagte: «Mit Rückführungen allein kann man aber keine Migrationsströme steuern, hierzu bedarf es zahlreicher weiterer Massnahmen.»

Mehr Abschiebungen, aber irreguläre Migration bleibt

Trotz der durchaus positiven Bilanz bei den Zahlen bleibt Scholz’ Versprechen bei Abschiebungen hinter den grossen Erwartungen zurück. Von den im Jahr 2024 rund 242 000 ausreisepflichtigen Menschen in Deutschland besitzen 119 000 eine Duldung – sie haben weiterhin nur in seltenen Fällen eine Ausschaffung zu befürchten.

Ein Grossteil bleibt also weiterhin im Land. Im Jahr 2022 erreichte die Zahl der Ausreisepflichtigen ein Rekordhoch von über 300 000, sank jedoch im darauffolgenden Jahr um 20 Prozent. Ein Grund dafür ist die Einführung des sogenannten Chancenaufenthalts. Geduldete, die am Stichtag 31. 10. 2022 seit über fünf Jahren in Deutschland lebten – sei es mit Erlaubnis oder Duldung – konnten nun eine Aufenthaltserlaubnis beantragen.

Zudem ist die Zahl der Asylbewerber seit der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 hoch geblieben. Im vergangenen Jahr stellten etwa 350 000 Menschen einen Asylantrag. Die Gesamtschutzquote betrug jedoch nur 52 Prozent, was bedeutet, dass die Hälfte der Antragsteller kein Bleiberecht erhielt.

Insgesamt haben seit dem Jahr 2015 mehr als zwei Millionen Migranten Asyl in Deutschland beantragt. Dazu kamen rund 1,2 Millionen Ukrainer, die vor dem Krieg geflohen sind. Der Zahl an Menschen, die auf diesem Weg einwandern, stehen also lediglich Abschiebungen im niedrigen fünfstelligen Bereich pro Jahr gegenüber.

Fehlende Kooperation von Migranten und Herkunftsstaaten

Eine Ursache für den in absoluten Zahlen eher geringen Erfolg ist die fehlende Bereitschaft der Asylmigranten, mitzuwirken, also beispielsweise ihre Ausweispapiere vorzuzeigen oder zum Termin der eigenen Abschiebung zu erscheinen und sich kooperativ zu verhalten.

Eine andere Ursache ist die unzureichende Zusammenarbeit vieler Herkunftsstaaten bei der Identifizierung und Rückübernahme ihrer Staatsangehörigen. In einem Fall stellte das Land Niger die Papiere für einen in Deutschland straffällig gewordenen Afrikaner nur für einen einzigen Tag und Flug aus.

Solange Deutschland diese Hürden nicht durch diplomatische Massnahmen beseitigt, können die Länder die Rückführungszahlen nur bedingt steigern. Auch weitere gesetzliche Befugnisse wie die Ausdehnung des Ausreisegewahrsams wären für die Ausländerbehörden nützlich.

Darüber hinaus plädiert die Gewerkschaft der Bundespolizei für bundesweite Abschiebehaftplätze – also Einrichtungen, in denen Ausreisepflichtige festgesetzt werden – sowie mehr Befugnisse für die Bundespolizei, um Ausschaffungen effizienter zu gestalten.

Das Problem der grossen Zahl an Ausreisepflichtigen wird durch die konstant hohe Migration nach Deutschland andauern. Denn auch wenn es im Vergleich zum Vorjahr im Jahr 2024 weniger Asylanträge gibt und die stationären Grenzkontrollen wirksam sind, bleibt der Zustrom an Migranten, die irregulär über das Asylsystem einreisen, weiterhin erheblich. Daran haben Scholz’ markige Worte nichts geändert.

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