Dienstag, Oktober 1

Die integrative Schule ist unter Druck. Ein kontroverses Interview per E-Mail.

Sie ist Schulleiterin und engagierte Bildungspolitikerin, er der wohl grösste Fürsprecher für Inklusion im Land. Im NZZ-Interview streiten sich die Stadtzürcher FDP-Gemeinderätin Yasmine Bourgeois und der SP-Nationalrat Islam Alijaj über die integrative Schule.

Bourgeois hat im Kanton Zürich soeben eine Initiative mit über 9000 Unterschriften eingereicht, welche die Abkehr vom integrativen Ansatz vorsieht. Dieser wird in der Schweiz seit rund fünfzehn Jahren praktiziert: Grundsätzlich werden heute alle Kinder gemeinsam unterrichtet.

Bourgeois’ Initiative will, dass neu sogenannte Förderklassen geschaffen werden, in denen Kinder mit besonderen Bedürfnissen und mit Verhaltensauffälligkeiten in kleineren Gruppen lernen. Neben der FDP unterstützen auch SVP und GLP das Anliegen.

Alijaj ist ein entschiedener Gegner der Vorlage. Er setzt sich insbesondere für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein. Selber hat er seit Geburt eine Cerebralparese, sitzt deswegen im Rollstuhl und hat eine Sprachbehinderung. Dieses Interview wurde in einem regen E-Mail-Austausch geführt.

Der integrative Ansatz in der Schule steht in der Kritik. Politisch macht die FDP Druck, in der Stadt Zürich und neu auch auf Bundesebene. Herr Alijaj, warum halten Sie am Konzept fest?

Islam Alijaj: In der Schweiz ist die integrative Schule die wichtigste inklusionspolitische Errungenschaft der letzten zwanzig Jahre. Nur wenn Kinder mit und ohne Behinderungen zusammen heranwachsen, wenn sie von- und miteinander lernen, kann Inklusion gelingen. Als ehemaliger Sonderschüler weiss ich, wie schnell man als Mensch mit Behinderungen in einer Schublade verschwindet und wie das eigene Potenzial in einem System der Separation vergraben werden kann.

Kehren wir mit Ihrer Förderklassen-Initiative ins Schubladensystem zurück, Frau Bourgeois?

Yasmine Bourgeois: Im Gegenteil, wir wollen mit den Förderklassen ja genau verhindern, dass Kinder, bei denen die Integration nicht passt, einfach an eine Sonderschule – häufig ausserhalb ihres Wohnquartiers – geschickt werden. Die wenigsten dieser Kinder brauchen eine Sonderschule. Weil sie aber spezielle Bedürfnisse haben und mehr Betreuung oder Hilfe benötigen, als die Regelklasse bieten kann, sind sie in einer Förderklasse mit einer heilpädagogisch geschulten Lehrperson am richtigen Ort. Solche kleineren Klassen können im eigenen Schulhaus oder im Wohnquartier besucht werden.

Diese Förderklassen sollen durchlässig sein, die Einteilung soll regelmässig überprüft werden. Wieso trauen Sie dieser Zielsetzung nicht, Herr Alijaj?

Alijaj: Gemäss Uno-Behindertenrechtskonvention, die 2014 von der Schweiz ratifiziert wurde, dürfen Menschen nicht wegen ihrer Behinderungen ausgegrenzt werden – und da spielt es zuerst einmal keine Rolle, ob die Ausgrenzung «nur» im selben Gebäude stattfindet. Die Botschaft von der Durchlässigkeit höre ich wohl, doch klar ist: Mit der Förderklassen-Initiative würden wir in Zürich noch mehr benachteiligte Kinder ausgrenzen. Und ja, ich und viele meiner Mitstreiter betrachten diese Initiative auch vor dem Hintergrund, dass Yasmine Bourgeois’ Partei, die FDP, die Abschaffung der integrativen Schule gerade zum Bestandteil ihrer Neupositionierung gemacht hat.

Es geht nicht nur um Menschen mit Behinderung, sondern auch um Kinder, die den Regelunterricht – aus welchen Gründen auch immer – stören. Sie, Frau Bourgeois, sind Schulleiterin. Was sind konkret die Probleme, die Sie mit dem integrativen Ansatz im Alltag sehen?

Bourgeois: Die heutige Regelschule vereint normal- bis hochbegabte Kinder sowie solche mit Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten. Befürworter des Systems fordern viel Unterstützungspersonal wie Klassenassistenzen, Heilpädagogen und viele mehr. In den Klassen herrscht dadurch ein ständiges Kommen und Gehen.

Und warum ist das ein Problem?

Bourgeois: Die permanente Unruhe erschwert das fokussierte Lernen. Die Lehrpersonen sind überlastet, da sie viele Personen koordinieren und auf verschiedenste Bedürfnisse eingehen müssen. So kommt niemand mehr auf seine Kosten.

Sehen Sie diese Schwierigkeiten – namentlich für die Lehrpersonen – nicht, Herr Alijaj?

Alijaj: Es steht mir nicht zu, über die Erfahrungen und Sorgen von Lehrpersonen zu urteilen. Mein Punkt ist ein anderer: Für das Gelingen einer inklusiven Gesellschaft ist die inklusive Schule der richtige Weg. Lasst uns über das «Wie» der inklusiven Schule streiten, nicht über das «Ob». Mit eurer Initiative würden wir die Abkehr von diesem Weg institutionalisieren.

Was ist denn Ihr Rezept, um für Lehrerinnen und Lehrer ein besseres Arbeitsumfeld zu schaffen? Probiert wurde ja schon vieles . . .

Alijaj: Neben den vieldiskutierten Ansätzen wie beispielsweise der Entlastung von administrativen Aufgaben muss es aus meiner Sicht vor allem um eines gehen: Die Politik muss die Ressourcen zur Verfügung stellen, die es braucht, damit Lehrpersonen ihren Beruf auch unter den Bedingungen von inklusiver Bildung mit Freude ausüben können.

Mehr Ressourcen, das bedeutet noch mehr Ausgaben. Sie, Frau Bourgeois, sagen, dass die Umsetzung Ihrer Initiative «ohne finanzielle Mehrbelastung von Kanton und Gemeinden» erfolgen soll. Wären die Förderklassen nicht eine gute Gelegenheit, um die Kosten im teuren Bildungswesen etwas zu drosseln?

Bourgeois: Wenn Förderklassen erst einmal etabliert sind, werden wir deutlich weniger Ressourcen benötigen als im heutigen System. Es werden weniger Kinder in teure Sonderschulen geschickt, wo sie häufig auch nicht passend betreut werden. Zudem werden wir deutlich weniger Stützpersonal benötigen, auch weniger Absprachen. Dadurch werden wir mehr Lehrpersonen haben, die wieder bereit sind, höhere Pensen zu übernehmen. So reduziert sich auch der Aufwand für Schulleitungen. Also, ja: Ich gehe davon aus, dass sich die Gesamtkosten mittelfristig tatsächlich reduzieren werden.

Alijaj: Wenn wir schon über Kosten sprechen: Man muss diese doch verdammt noch einmal ganzheitlich betrachten! Warum sprechen wir eigentlich immer nur über die Kosten von Inklusion, aber nie über die hohen Kosten der Separation? Wenn Menschen wie ich von der IV alimentiert werden, anstatt auf dem ersten Arbeitsmarkt einen Beitrag zu leisten und sich eine Altersvorsorge aufzubauen, dann bedeutet das hohe gesellschaftliche Kosten. Kinder, die in einem separativen Schulsystem aufwachsen, haben deutlich schlechtere Chancen, jemals im ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. Inklusion ist daher nicht nur eine Frage der Mitmenschlichkeit, sondern auch im volkswirtschaftlichen Interesse.

Tatsächlich unterstützen ja auch die Freisinnigen das Prinzip der Chancengerechtigkeit und des Leistungsprinzips. Ist Ihre Initiative diesbezüglich nicht ein Rückschritt?

Bourgeois: Förderklassen ermöglichen sogar mehr Chancengerechtigkeit. Denn in kleineren Klassen kann besser auf Kinder mit speziellen Bedürfnissen eingegangen werden. Im heutigen System leidet das Selbstvertrauen vieler scheinintegrierter Kinder darunter, immer ein «Spezialfall» zu sein.

Alijaj: Natürlich gibt es Fälle, in denen weitere Unterstützung individuell sinnvoll ist. Aber diese können wir sicherstellen, ohne mit dem Geist der Behindertenrechtskonvention zu brechen. Grosso modo zeigen Studien, dass Kinder mit und ohne weiteren Unterstützungsbedarf unter den richtigen Voraussetzungen von inklusiver Bildung profitieren.

Bourgeois: Die Fakten und Erfahrungen aus dem Schulalltag zeigen, dass bei weitem nicht alle profitieren. Integration nur um der Integration willen ist schlicht der falsche Weg. Es muss das Ziel sein, alle Kinder gemäss ihren Bedürfnissen zu unterrichten und zu fördern.

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