Sonntag, Februar 23

Die Ukrainer erholen sich in den Skiresorts Bukowel und Drahobrat vom Angriffskrieg Russlands und feiern das Leben. Im Hintergrund ringen Oligarchen, Politiker und Umweltschützer um Einfluss.

Der Weg in die Freiheit führt über eine der schlechtesten Strassen Europas. Hunderte von Fahrzeugen befahren sie jeden Tag. Aber es sind keine gewöhnlichen Autos. Selbst Ukrainer mit Geländefahrzeugen scheuen das Risiko. Sie setzen auf die Dienste von Taxifahrern, die in Kleintransportern aus der Sowjetära unterwegs sind. «Brotlaibe» nennt man diese Gefährte wegen ihrer Form. Ihre Fahrgestelle, Antriebe und Achsen gelten als besonders robust – und vor allem leicht zu reparieren.

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Die steile Forststrasse ist mit Eis bedeckt. Geschickt umfahren die Einheimischen die knietiefen Löcher in der Fahrbahn und die spitzen schwarzen Steine, die aus ihr herausragen. Ein Abschnitt heisst «Dollar», weil die Kurven aussehen wie ein $-Zeichen. Wir halten uns an Sitzlehnen und Wandriemen, um nicht hin und her geworfen zu werden. Sicherheitsgurte gibt es nicht.

Nach dem Wald tauchen die ersten Hotels des Feriendorfs Drahobrat auf. Wobei das Wort «Dorf» in die Irre führt: Die Häuser sehen aus, als hätte ein Riese Würfel gegen den Hang geworfen und im Schnee verstreut. Die verschiedenen Ortsteile mit 77 Hotels sind kaum verbunden, die Talstationen der 10 Lifte liegen weit auseinander. Wir bewegen uns zu Fuss über eisige Pisten und holprige Strassen, während Snowboarder, «Brotlaibe» und Kinder auf Schlitten an uns vorbeizischen. Vor dem Hotel «Adrenalin» lässt eine Gang auf gemieteten Skitöffs die Motoren röhren, rast dann rücksichtslos durch das Dorf. Drahobrat ist laut und hektisch, voll ungebändigter Energie.

Chaotischer Freiheitsdrang in Drahobrat

Nirgends in der Ukraine ist der Krieg so weit weg wie in den Karpaten. Hier finden die Menschen einen Ort, um das Blutvergiessen zu verdrängen. Doch auch im äussersten Zipfel der Westukraine gibt es einen Konflikt, der sich an zwei sehr unterschiedlichen Skiorten entzündet. Beide erleben im Krieg ihren eigenen Boom: das chaotische Drahobrat und das mondäne Bukowel.

Und die Politiker im Tal dazwischen träumen schon von neuen Skigebieten, von Macht, Wohlstand und Investitionen. Es geht um existenzielle Fragen: Wem gehören Land, Wasser und Wälder, wer entscheidet, was damit geschieht? Wie verändert sich eine entlegene Region, wenn der Krieg ihr eine ganz neue Rolle verschafft? Und in welche Zukunft will sich das Land entwickeln, aus einer Gegenwart, die viele bedrückt?

Drahobrat will keine prestigeträchtige Tourismusdestination sein. Hierher kommen Leute, die sich für wenig Geld vergnügen wollen und Tiefschneehänge ohne Pisten lieben. Skiverleihe und Bars verkaufen Outback-Romantik und Hochprozentiges. Sie verdienen gut damit. Die Auslastung der Hotelbetten liegt dieses Jahr bei zwei Dritteln. Das ist fast so viel wie vor dem Krieg.

Der anarchische Geist passt zum Freiheitsdrang der Ukrainer. Vor dem «höchsten Swimmingpool der Ukraine» macht eine junge Frau gerade ein Oben-ohne-Foto vor der Bergkulisse. Andere Orte bieten Diskretion: Im Speiseraum eines Hotels stossen die Männer einer Eliteeinheit der Armee auf ihre gefallenen Brüder an. Sie erhalten hier eine Spezialausbildung für den Kampf im Gebirge. Unten an der Eingangstür hängt ein neues Zahlenschloss. Den Code bekommen nur die Gäste. Es schützt die jungen Männer, die nicht in den Krieg wollen. Zuvor hatten die Militärbehörden in Drahobrat Razzien durchgeführt und Wehrpflichtige mitgenommen.

Kontrolliert war in Drahobrat noch nie etwas. Der Skiort entstand in den siebziger Jahren als Wetterstation und Trainingsgelände für Athleten. Als die Sowjetunion 1991 kollabierte, wurden die Geschäftstüchtigen unter ihnen zu Hoteliers, nutzten die Chancen der spontanen Privatisierung. Heute gibt es 4000 Hotelbetten, aber keine vernünftige Strasse, keine Versorgung mit Gas und Benzin, keine Abfallentsorgung. Nur jedes fünfte Hotel reinigt seine Abwässer. Weil es billiger ist, die Behörden zu bestechen. Der Bach neben dem Kinderskilift stinkt nach Kot.

Die bedrohte Idylle von Swidowez

Dieser wilde Tourismus hat Michajlo Schurawljow zum Umweltschützer werden lassen. Er sagt: «Das Produkt, das die Leute hier konsumieren, ist unzivilisiert.» Sein Grossvater war einer der ersten Hoteliers in Drahobrat. Doch der Tourenführer hält sein Heimatdorf nur aus, wenn er Gäste mit seinem Snowboard in die Natur mitnimmt. Wir lassen den Smooth Jazz am Lift und den russischen Pop am Pool hinter uns. Bald hören wir im Wald nur noch das Knirschen des Schnees unter den Ski.

Der 35-Jährige kennt die Mentalität der Lokalbevölkerung und der Gäste gut. Schurawljow schaut hinüber zum Berg Howerla, mit 2061 Metern der höchste Punkt der Ukraine, auf die Schneisen, die sich wie Narben durch die Wälder ziehen. Sie wurden geschlagen, um Platz zu machen für die Ausflügler, die mit ihren Allradwagen auch im Sommer immer tiefer in die Natur eindringen. «Die Leute schmeissen überall Abfall weg, machen wilde Feuer. Sie haben keinen Respekt», sagt Schurawljow.

Für ihn mischt sich in Drahobrat die Verbohrtheit der Einheimischen und die Rücksichtslosigkeit der Touristen auf üble Weise. Die Schneefelder sind sein Zufluchtsort, dort, wo nur ein paar Holzhäuser auf einer Alp stehen und der Fluss Swidowez wild fliesst. Dahinter liegt das gleichnamige Bergmassiv, eine von Europas letzten fast unberührten Naturlandschaften, voller seltener Tiere und Pflanzen.

Aber Schurawljow hasst nicht nur den chaotischen Tourismus von Drahobrat, sondern auch dessen Gegenteil: auf dem Reissbrett entworfene Skigebiete wie den mondänen Skiort Bukowel, weniger als 30 Kilometer Luftlinie entfernt. Die Besitzer von Bukowel bedrohen seine Idylle. Geht es nach ihren Plänen, so entstünde just auf dem Gebiet, durch das unsere Tour führt, das grösste Skiresort der Ukraine. Schurawljow zeigt, wo überall an den weissen Hängen dereinst die Hotels errichtet würden, die Pisten verlaufen würden.

230 Kilometer Piste wollen die Investoren bauen, 23 Lifte und 120 Restaurants. 2 Milliarden Euro sollen in das Resort fliessen. Die Initianten lancierten jüngst gar noch zwei weitere Projekte weiter nordwestlich im Gebirge, Turbat und Bistrizja. Würden alle drei umgesetzt, entstünden fast 60 000 neue Hotelbetten, fünfzehn Mal so viele wie in Drahobrat.

«Wenn das Skigebiet Swidowez gebaut wird, gibt es hier nur noch Asphalt, und wir ertrinken im Abwasser», sagt Schurawljow. Er engagiert sich deshalb bei «Free Svydovets», einer Koalition von 21 Nichtregierungsorganisationen im In- und Ausland, darunter auch der Schweizer Bruno-Manser-Fonds. Als Lokaler habe er Zugang zu Informationen und könne Kulturunterschiede zwischen Berglern und Umweltschützern überbrücken. «Ich spreche die Sprache der Hiesigen.»

Einen wichtigen Sieg haben die Gegner der neuen Skigebiete bereits errungen: Im Oktober stoppte der Oberste Gerichtshof der Ukraine das erste und wichtigste Swidowez-Projekt. Er gab damit der Klage einer Gruppe von Einheimischen statt, die von den Umweltschützern unterstützt wurden. Die Richter befanden, die Initiatoren hätten die Bevölkerung im Vorfeld zu wenig transparent informiert und damit die gesetzlich vorgeschriebenen Regeln für Konsultationsverfahren verletzt. Zudem hätten die Regionalbehörden bei der Ausarbeitung des Zonenplans ihre Befugnisse überschritten. Diesen müsse erst die nationale Regierung beschliessen.

Bukowel, das Ufo in den Karpaten

In Bukowel herrscht Unverständnis über die Entscheidung. Die Anwältin Jaroslawna Iwanowa, die den Skiort vor Gericht vertrat, sieht die Chance vertan, den Tourismus zu kanalisieren und so den Rest der Natur zu schützen. «Dafür braucht es eine klare Strategie und eine klare Führung. Sonst kommt so etwas Schreckliches heraus wie in Drahobrat», sagt sie. Bukowel, von wo aus das Swidowez-Massiv leicht zu sehen ist, preist sie als Vorbild für einen komfortablen und sicheren Tourismus nach europäischem Standard.

Bukowel wirkt nicht zusammengewürfelt wie Drahobrat, sondern eher als wäre ein Ufo in der westukrainischen Bergwelt gelandet. Strassen, Lifte und Gebäude sehen aus wie in den modernsten Skigebieten Westeuropas, und überall prangt der Schriftzug des Resorts. Bukowel wurde vor zwanzig Jahren gebaut, und natürlich ist hier nichts: 80 Prozent des Schnees stammen aus Schneekanonen, es gibt drei künstliche Seen, am Ortsrand steht sogar ein Riesenrad.

Der Ort bietet seinen Gästen Sicherheit: Hier gibt es keine Raketenangriffe, keine Stromausfälle, keine Verwundeten. Das Ehepaar Andri und Anna Kriwonos leistet sich eine Auszeit vom schwierigen Alltag in ihrer Heimatstadt Kiew. Andri, ein gefragter Coiffeur, ist gerade mit siebzig Kilometern in der Stunde die Piste hinuntergerast. Stolz zeigt er die Geschwindigkeitsmessung auf seinem Handy. Nun haben sie eine nächtliche Tour auf dem Pistenbully durch das Skigebiet gebucht. «Ein paar Tage Ferien», sagt er. «Dann geht es zurück ins Überleben.»

Für umgerechnet 200 Franken pro Nacht sind die beiden in der «Mountain Residence» untergekommen, einem luxuriösen Wohnturm mit Infinity-Pool auf dem Dach. An Geld mangelt es weder den Betreibern noch den Gästen. Hierher kommt man nicht für ein Abenteuer in der Natur, hier will man gesehen werden. Oben auf dem Berg lassen sich Skifahrerinnen in teuren Overalls vor dem Panorama ablichten, während sich Skilehrer um die Kinder kümmern.

Im Dorfzentrum steht ein reich geschmückter Weihnachtsbaum neben Geschäften für Winterbekleidung – die Feiertage dauern hier wegen des julianischen Kalenders bis Mitte Januar. Ableger von bekannten japanischen, georgischen und italienischen Restaurants aus Kiew servieren frisches Sushi, Chatschapuri und Pizzen mit Mozzarella di Bufala. Es weht ein Hauch von St. Moritz durch die Westukraine.

Auch wenn der Skiort keine Zahlen veröffentlicht, ist offensichtlich, dass Bukowel boomt. Hier bauen aber nicht einzelne Hoteliers, sondern eine Betreiberfirma, die vom Zementmischer über den Zugang zum Dorf bis zum Stromanschluss alles kontrolliert. In Bukowel stehen Dutzende von Verkaufsständen für potenzielle Investoren. Es kursieren Zahlen, wonach zu den bestehenden 20 000 Betten in den nächsten zwei Jahren 25 000 dazukommen sollen. An der Promenade entsteht gerade ein Block mit neuen Ferienwohnungen. Auf dem Werbeplakat für die «Glacier Premium Apartments» schaut eine Frau auf einem Heimtrainer durch das Fenster auf die Natur. «Eine Investition, die dir Ruhe und Selbstvertrauen gibt» lautet der Slogan.

Das Prestigeprojekt des Oligarchen

Bukowel ist eine Insel der Sicherheit weit weg vom Krieg. Im Gegensatz zu Drahobrat, wo Zahlenschlösser an den Hoteleingängen die Gäste vor den Razzien der Militärbehörden schützen, sind Soldaten hier nur als Kurgäste präsent. 100 Armeeangehörige und ihre Familien lädt der Skiort jede Woche zur Erholung ein.

Dafür spazieren die anderen jungen Männer, die Nicht-Soldaten, ruhig durch Bukowel. Anderswo in der Westukraine fehlen diese Wehrpflichtigen im Strassenbild oft ganz. Sie haben Angst, eingezogen zu werden. Hier existiert dieses Problem nicht. Dass die engen Beziehungen der Bukowel-Betreiber zu den Behörden eine Erklärung für diesen Schutz sein könnten, wird öffentlich zwar als russische Propaganda abgetan. Sicher ist: Der Staat hat nur begrenzten Zugriff an diesem Ort. Es gibt zwar einen Polizeiposten. Doch für die Sicherheit zuständig ist die Privatfirma der Betreiber.

Bukowel ist seit seiner Entstehung eine Welt für sich. Die ersten Investoren kauften scheinbar wertloses Land von Bauern im Dorf Poljanizja, auf dessen Territorium das Skigebiet liegt, bauten darauf Lifte und Hotels. Von der Aufwertung profitierten auch die Einwohner. Doch die echten Gewinne machten die grossen Investoren. Es ist vor allem ein Name, mit dem Bukowel assoziiert wird: Ihor Kolomoiski.

Der Oligarch, lange der zweitreichste Ukrainer, war ein Strippenzieher der Politik. Auch Präsident Selenski machte auf seinem Fernsehkanal Karriere. Bukowel war Kolomoiskis Prestigeprojekt. Er investierte riesige Summen. Doch die Geldflüsse in seinem Imperium waren oft intransparent bis illegal: 2016 musste der Staat seine PrivatBank mit viel Steuergeld retten, nachdem diese durch dubiose Kredite systematisch ausgehöhlt worden war. Eine Untersuchung der unabhängigen Audit-Firma Kroll bezifferte den Schaden auf umgerechnet 5,5 Milliarden Dollar.

Dass ein Teil dieses Geldes nach Bukowel floss, bleibt unbewiesen. Allerdings haben die Umweltschützer von «Free Svydovets» dokumentiert, dass ein schwer entwirrbares Geflecht von Offshore-Firmen in Zypern und den British Virgin Islands hinter dem Skiort und seinen Entwicklungsprojekten steht. Offiziell hat Kolomoiski 2020 die Kontrolle über Bukowel an die Familie von Ihor Palizja abgegeben, einem seiner Vertrauten. Heute sitzt Kolomoiski wegen zahlreicher Vorwürfe in Untersuchungshaft, sein Einfluss ist unklar. Und Palizja spricht nicht mit Medien.

Die Strahlkraft der Westukraine

In der Corona-Pandemie und durch den Krieg erlitt Bukowel finanzielle Einbussen. Woher also kommt das viele Geld für den Bauboom? Einerseits von den Gästen, die wieder in grosser Zahl kommen. Andererseits ist Bukowel nicht nur Zufluchtsort für jene, die den Krieg verdrängen wollen. Kleinere und grössere Investoren sehen den Skiort auch als sicheren Hafen für ihr Vermögen.

Oligarchen hätten heute grosse Probleme, ihr Geld ins Ausland zu bringen, sagt Olexander Tschatalow, ein Hotelier und der grösste Bierbrauer der Gegend, der in der Westukraine gut vernetzt ist. Die Kontrollen seien strenger geworden, und die Politik schaue genauer hin. Der Krieg verunmögliche Investitionen in der Ostukraine. Ausserdem liessen die russischen Raketenangriffe die grossen Immobilien- und Tourismusmärkte in Kiew oder Odessa stagnieren. «Wenn du dein Geld weder im Ausland noch am Meer oder in der Hauptstadt anlegen kannst, dann bleibt fast nur die Westukraine.»

Tschatalow, dem ein grosses Sanatorium im Tal gehört, verfolgt den Bauboom mit Skepsis. Er fragt sich, ob dieser nachhaltig ist. «Momentan können die Ukrainer nur hier in die Ferien, weil die Männer nicht ins Ausland dürfen. Aber wie ist das, wenn der Krieg vorbei ist?» Der 41-Jährige findet, dass Kleininvestoren, die sich Anteile an Wohnungen kaufen, mit unrealistischen Renditeversprechen gelockt würden. Er fürchtet eine Spekulationsblase und fragt sich, woher die Gäste für die 60 000 zusätzlichen Betten in den geplanten Skiorten Swidowez, Turbat und Bistrizja kommen sollen.

Jaroslawna Iwanowa, die Anwältin der Projekte, hält diese Frage für falsch gestellt. «Niemand sagt, dass Swidowez in der geplanten Grösse gebaut wird. In einer Projektierung muss man das Maximum angeben, weniger geht immer.» Die Befürworter haben gemerkt, dass ihr Traum von einem zweiten, dritten oder vierten Bukowel in der Region Widerstände auslöst.

Sie sind vorsichtiger geworden, und sie nehmen Kritik auf. So spricht der Betreiber von Bukowel heute viel und gerne über das Thema Naturschutz. 84 Massnahmen will man im Namen der Nachhaltigkeit umsetzen. Es geht um Wasser, Abfall und Luftqualität – und generell um die Frage, wie ein Skiort, dessen höchster Punkt auf knapp 1400 Metern über Meer liegt, in Zeiten des Klimawandels überlebt. Der Zuständige, der uns vor Ort trifft, will den Sommertourismus fördern und die Gäste zum Wassersparen motivieren. Die Pläne wirken noch sehr theoretisch.

Allerdings treibt gerade die Frage nach den natürlichen Ressourcen die Gegner des Massentourismus um. Hotels und Schneekanonen brauchen riesige Mengen an Wasser, das nur begrenzt vorhanden ist. Verschiedene unserer Gesprächspartner glauben deshalb, dass Bukowels Pläne für das Skigebiet Swidowez zumindest teilweise auf die Sicherung der dortigen Wasservorräte abzielen. Schon heute bringen Zisternenwagen das Trinkwasser in den Ort. Eine Kläranlage gibt es zwar, doch vor dem Krieg büsste die Umweltbehörde Bukowel, weil zu viele Schadstoffe in die Flüsse geleitet wurden. Ob sich seither etwas geändert hat, ist ungewiss: Seit 2022 sind alle Kontrollen wegen des Kriegsrechts ausgesetzt.

Holz, Wasser und Religion

Während sich das mondäne Bukowel und das chaotische Drahobrat in der Berglandschaft immer weiter ausbreiten, weiss das zwischen den Skiorten eingeklemmte Tal nicht, ob es träumen oder sich fürchten soll. Der Hauptort Jassinja lebt davon, Durchgangsstation für die Touristen zu sein. Doch am Dorf Tschorna Tissa, näher bei der Mündung des gleichnamigen Flusses, sind die letzten Jahrzehnte fast spurlos vorübergegangen. Die Holzhäuser sehen aus wie im Entlebuch, die Strassen wurden lange nicht mehr geflickt.

Wie traditionell das Leben hier ist, zeigt sich in der orthodoxen Kirche mit ihren goldenen Dächern. Die Gläubigen feiern an diesem Januartag die Taufe Jesu. Von den Neugeborenen bis zu den Ältesten sind alle da. Sie tragen Hemden mit traditionellen Stickereien und farbige Kopftücher, lauschen dem Sermon des Priesters und singen Lieder über den Herrn und den Fluss Jordan.

Als die Glocken das Ende des Gottesdienstes einläuten, macht sich die Gemeinde vom Kirchhügel auf den Weg zum Fluss. Zwei Frauen tragen zuvorderst die Ikone, dahinter kommen die Bannerträger und die goldenen Kreuze. Genau im richtigen Moment stösst die Sonne durch die Wolkendecke, ihr Licht blitzt von den Eisschollen auf dem Fluss ab. Die Zeremonie findet zum ersten Mal seit 2022 statt. In den zwei Jahren dazwischen führte der Fluss Hochwasser. In den Fluten schwamm zu viel Abfall mit für eine würdige Feier.

In Vater Witalis Fluss-Predigt hat der Krieg keinen Platz. Nur einmal betet er zu Gott: «Entferne die Kräfte des Hasses, damit unsere Herzen von Liebe zu Jesus Christus erfüllt werden.» Schliesslich senkt er sein goldenes Kreuz viermal in den Fluss, tauft ihn. Dann verteilen seine Helfer das heilige Wasser, das sie aus der Kirche mitgebracht haben. Die Leute giessen es in sorgsam verzierte Behälter, die nur am Feiertag zum Einsatz kommen.

Wasser, Religion und Holz prägen das Leben im Dorf und auch jenes von Iwan Popjuk. Der 43-jährige Sägereiunternehmer hat uns zuerst in die Kirche mitgenommen. Nun sind wir zum Feiern bei ihm zu Hause eingeladen. Popjuks Frau hat unter einem Wandbild des Abendmahls Jesu ein Festessen aufgetischt. Es gibt Brot und Schinken, Nudelsuppe und Salate, Fleischklösschen und Kartoffeln. Auf fast jeden Bissen stossen wir mit einem Glas Wodka an. Das «Wässerchen» gehört dazu.

Die unbeantworteten Fragen des Konservativen

Die ernsten Themen bespricht Popjuk am Feiertag aber nicht am Tisch. Um über Swidowez zu reden, führt er uns in den oberen Stock. Sein Kampf begann auf der Alp, zu der uns am Tag davor schon der Umweltschützer Michajlo Schurawljow geführt hatte: Dort privatisierten die Lokalbehörden vor einigen Jahren plötzlich 20 Hektaren und boten sie zum Verkauf an. Popjuk war wie viele andere im Dorf empört: «Meine Vorfahren hatten auf dieser Allmend stets ihre Kühe geweidet, das gefiel mir nicht.» Er gründete eine lokale Organisation und vernetzte sich.

Popjuk ist ein konservativer, gläubiger Mann. Veränderungen mag er nicht. Mit seiner kleinen Sägerei, die er im letzten Vierteljahrhundert aufgebaut hat, sichert er sich und seiner Familie ein gutes Auskommen. Entsprechend skeptisch ist er gegenüber den mächtigen Geschäftsleuten, die im Dorf auftauchen und den Menschen ein besseres Leben verheissen. Genau dies tat im Dezember 2019 der damalige Geschäftsführer von Bukowel, Olexander Schewtschenko. Er erzählte, wie das Skigebiet Swidowez über das Land von Tschorna Tissa mit Bukowel verbunden würde. Das bringe eine bessere Infrastruktur und Arbeitsplätze für alle.

Doch Popjuk hatte damals konkrete Fragen vorbereitet: Welche Folgen hätte das Resort für die Flüsse in den Bergen, welche für die Wasserversorgung der Dörfer? Was würde mit dem Abfall passieren, was mit dem Zugang zum Holz, wenn man Teile der staatlichen Wälder privatisierte? Wären die neuen Strassen von den Betreibern kontrolliert wie in Bukowel oder öffentlich? Die Antworten überzeugten viele der Anwesenden nicht. Das Treffen endete im Streit. Auf einem Video ist zu sehen, wie sich die Männer so laut anschreien, dass die Behördenvertreterin kaum das Resultat der Abstimmung verkünden kann. Eine klare Mehrheit war dennoch für Swidowez.

Trotzdem wurde Popjuk als Anführer der Opposition in den 25-köpfigen Gemeinderat gewählt. Ihm hätten Investoren bestätigt, dass sie nur am Land ausserhalb von Tschorna Tissa interessiert seien. «Wir kriegen dann nur die Pisse und Scheisse, die von den Hängen runterläuft», sagt er. Für solche Worte geriet er massiv unter Druck: Die Behörden, zu denen die Staatsforste gehören, drohten, seiner Sägerei kein Holz mehr zu liefern. Sie empfahlen ihm, die Beziehungen zu den ausländischen Umweltschützern abzubrechen, wenn er keine weiteren Probleme wolle. Gegen andere Gegner leitete der Inlandsgeheimdienst SBU Untersuchungen ein.

Der Bürgermeister träumt vom Tourismus

Oft fällt der Name Andri Deljatintschuk, wenn es darum geht, wer hinter solchen Einschüchterungsversuchen steht. Der Vorsteher der Gemeinde Jassinja ist kein Mann der leisen Töne. In einem offenen Brief kurz nach dem Gerichtsurteil, das Swidowez stoppte, schimpfte er gegen die Einmischung ausländischer Nichtregierungsorganisationen. Diese hätten keine Probleme mit den vielen Skigebieten in der EU, verweigerten der Ukraine aber das Recht, ein einziges zu bauen. Einer Aktivistin wirft Deljatintschuk Verbindungen zum Kreml vor. Er habe den Fall an den Geheimdienst weitergeleitet. «Diese Blockade von Investitionsprojekten ist Arbeit für unsere Feinde», schreibt er.

Beim Treffen im Bürgermeisteramt von Jassinja gibt sich der 42-Jährige umgänglicher. An der Kritik am Urteil hält er aber fest. «Es raubt uns die Möglichkeit zur Entwicklung», sagt er. Dass das Gericht den ganzen Zonenplan verworfen habe, heisse, dass die hiesigen Behörden keine Entscheidungen über die wirtschaftliche Zukunft ihrer Region treffen könnten. Sie müssten dafür erst auf eine Entscheidung der Regierung in Kiew warten. Er hält das für absurd, weil die Ukraine erst vor wenigen Jahren Reformen zur Dezentralisierung von Kompetenzen umsetzte.

Leicht ist die Aufgabe des Vorstehers Deljatintschuk nicht. Er leitet die höchstgelegene Gemeinde der Ukraine – und wohl eine der heterogensten. Den grössten Teil machen unzugängliche Berggebiete aus. Und unten im Tal kontrastiert das fast urbane Strassendorf Jassinja mit seinem gut erschlossenen Bahnhof, sowjetischen Bauruinen und neuen Supermärkten mit den rückständigen Dörfern dahinter. Ausserdem ist Geld knapp. Umgerechnet knapp 3,3 Millionen Franken standen der Gemeinde 2024 für sieben Ortschaften mit 20 000 Einwohnern zur Verfügung. Wegen des Krieges ist das ein Drittel weniger als im Vorjahr.

«Viele Möglichkeiten, etwas zu verdienen, haben wir hier oben nicht», sagt Deljatintschuk, der aus dem Tal stammt, aber in Iwano-Frankiwsk und Kiew Jus studierte. «Doch Gott gab uns die Möglichkeit, den Tourismus zu entwickeln.» Mit seiner «Zukunftsstrategie», die 40 000 Arbeitsplätze versprach, gewann er 2020 die Wahl gegen einen notorisch korrupten Dorfkönig. Doch heute wirkt der einstige Hoffnungsträger gealtert. Kritiker in der Gemeinde werfen ihm vor, sein Führungsstil sei so intransparent und autoritär wie jener seiner Vorgänger.

Deljatintschuk klingt bitter, wenn er über den Konflikt redet. «Meine Gegner stellen mich nur als Zerstörer der Karpaten dar», sagt er. Dabei hätten auch seine Vorfahren die Alpen bestellt und die Berge geachtet. Den Umweltschützern wirft er vor, alles verbieten zu wollen. «Wenn es so weitergeht, können wir hier gleich ein Schild aufstellen, auf dem ‹Reservat› steht.»

Der Krieg ist ein Fremdkörper

Die Diskussionen um Swidowez und den Massentourismus haben die Atmosphäre vor Ort vergiftet und im Ausland für Negativschlagzeilen gesorgt. Deljatintschuk gibt sich deshalb kompromissbereit. «Ich will keine Riesenprojekte, und ich will weder Bukowel noch Drahobrat», sagt der Gemeindevorsteher. Er glaube an kleinere, grünere Erholungsorte. Und auch die Umweltschützer von «Free Svydovets» betonen, dass sie für den Tourismus seien, solange dieser die Natur nicht zerstöre. Gleichzeitig ist unklar, ob die Pläne für Swidowez begraben sind. Jene für die anderen zwei Skigebiete werden ohnehin weiterverfolgt.

Das Grundproblem bleibt: Der Staat ist schwach in den Karpaten, teilweise korrupt, die Gesetze sind oft unzureichend oder schwammig. In diesem Graubereich breiten sich die Mächtigen und Reichen aus. Ihnen geht es um die Kontrolle von Ressourcen: Land, Wasser und Holz, die unberührte Natur. Seit der Krieg ihnen andere Möglichkeiten versperrt, fliesst das Geld in die Westukraine. Das überfordert die traditionellen Dorfgemeinschaften. Auf sie wirken neue Einflüsse von aussen – gerade weil der Krieg nirgends so weit weg ist wie in den Karpaten.

Manche Menschen hier spüren ihn. Weil sie Familienmitglieder verloren haben oder sich vor den Rekrutierern verstecken. Doch die meisten Leute in Jassinja begegnen dem Krieg im Alltag eigentlich nur auf der Hauptstrasse. Dort hat die Gemeinde die Porträts von dreissig Gefallenen aus den Dörfern aufgestellt. Gleich daneben findet an diesem Tag ein Gedenkanlass statt. Dreissig leere Schuhe stehen für die Toten. Darin stecken ukrainische Flaggen.

Ein Kinderchor singt Volkslieder, begleitet von Männern, die auf ihrer Trembita spielen, einer Holztrompete, die aussieht wie ein Alphorn. Sieben Priester beten für die Verteidiger und verwünschen den Feind. Die Leiterin des Kulturzentrums spricht mit Tränen in den Augen über den Schmerz der Familien. Ein Offizier der lokalen Militärverwaltung hat sogar ein Lied geschrieben über einen Soldaten, dem es das Herz zerreisst. Er singt mit Leidenschaft, fällt zum Schluss auf die Knie.

Doch das Publikum wirkt ungerührt. Nur die Behördenvertreter und die Soldaten in den vorderen Reihen hören überhaupt zu. Weiter hinten plaudern die Zuschauer, oder sie gehen nach wenigen Minuten weiter. Wie ein Fremdkörper wirkt der Krieg in der Westukraine, wo die Leute mit anderen Kämpfen beschäftigt sind.

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