Donnerstag, November 28

Anatomie einer zunehmend schwierigen Beziehung.

An einem trüben Oktobertag wartet im Foyer des Bezirksgerichts Arbon ein älterer Herr auf Gerechtigkeit. Auf seinen Lebensabend hin habe er am Bodensee die Idylle gesucht, sagt er, und nicht den Lärm einer jahrelangen Baustelle. Kaum sei er eingezogen, sei es aber losgegangen. «Dabei hatte mich niemand informiert!» Der Fall ist umstritten. Und so ist der ältere Herr zum Kläger vor dem Mietgericht geworden. Er trägt seine Steppjacke wie einen Panzer. Sein Gegner, der Vermieter des Hauses, hat sich samt Anwalt in einen Nebenraum zurückgezogen. Man würdigt sich nur noch der nötigsten Blicke.

Die Schweiz ist ein Land von Mieterinnen und Mietern, so sehr wie kein anderes Land in Europa. Was wir bewohnen, ist uns also meistens nicht eigen, sondern nur gemietet. Und doch reden alle über die «eigene Wohnung», das «eigene Haus». Vielleicht liegt darin der Ursprung der ewig schwierigen Beziehung zwischen Mieter und Vermieter: Beide beanspruchen die Wohnung für sich, der eine gefühlsmässig, der andere materiell.

Die «eigene Wohnung» soll ein «safe space» sein – ist aber immer bedroht: durch den Vermieter, die nächste Sanierung, die nahe Umwelt. So erzählt es auch die Literatur. Der vielleicht unglücklichste Mieter der Schweiz wohnt in Hermann Burgers «Schilten»: Es ist ein Roman über einen Lehrer, der im Dachstock eines abgelegenen Schulhauses lebt, das auch noch Mehrzweckhalle und Friedhof ist. Seine Untermieter sind also die Musikgesellschaft, die unten mit Höllenlärm probt, und der Tod. Sein Vermieter, die Schulgemeinde, überlässt ihm das Haus und hält ihn darin gefangen. Es endet im Wahnsinn.

So weit muss es in der Realität nicht kommen. Und doch nehmen die Konflikte zu. Die Statistik über die Schlichtungsverfahren für Miet- und Pachtangelegenheiten vermeldet für das vergangene Jahr einen massiven Anstieg: 80 Prozent mehr als im Jahr davor (stark bedingt durch den zweifach erhöhten Referenzzinssatz). Nie in den vergangenen zwanzig Jahren gab es «eine so hohe Anzahl von Pendenzen», schreibt das zuständige Bundesamt. Generell wird es immer ärger: Man beobachte «eine grössere Gereiztheit», bemerken Schlichterinnen und Anwälte. In diesem Klima stimmt die Schweiz am 24. November über zwei Mietrechtsvorlagen ab, die die Vermieter stärken sollen: bei der Untermiete und beim Eigenbedarf. Der Mieterverband kämpft dagegen.

Eine Reise zu den Gerichten im Land soll die grundsätzliche Frage beantworten: Warum bekämpfen sich Mieter und Vermieter im Alltag?

Die Zündschnur ist kürzer geworden

Im Mietrecht, so wird sich zeigen, geht es um die Abgründe des menschlichen Zusammenlebens – so wie in Arbon um scheinbar falsche Erwartungen am Anfang, um umstrittene Abmachungen für die Jahre danach, oder es misslingt das Ende. Meistens geht es um Geld. Am häufigsten wird deshalb um Mietzinsen oder Kündigungen gestritten. Und wie immer in Beziehungen gibt es mindestens zwei Wahrheiten.

Im Baulärm-Fall am Bezirksgericht Arbon einigen sich die Anwälte, in ein spezielles Verfahren zu wechseln – sie wollen versuchen, sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit doch noch einmal anzunähern. Darauf ist das System ausgelegt.

«Ein Gerichtsverfahren ist für jeden Mandanten belastend», sagt der St. Galler Anwalt Samuel Horner, der in Arbon den Kläger vertritt, «ich überlege deshalb immer zuerst: Kann man den Streit anders lösen?» Zumal es im Mietrecht oftmals um Psychologie gehe und etwa Mängel in einer Wohnung nur stellvertretend für zwischenmenschliche Probleme beklagt würden. Als Anwalt weiss Horner, dass der Abgrund immer nah ist. An der Goldküste war er einmal in einem Fall engagiert, der spätestens dann eskalierte, als die einen Mieter direkt neben dem Schlafzimmer der anderen einen Plätscherbrunnen installierten.

Horner ist regelmässig vor dem Mietgericht, er sagt: «Die Zündschnur ist kürzer geworden. Und die Hemmschwelle, vor den Richter zu gehen, tiefer.» Am Bezirksgericht Arbon findet man nach stundenlanger Verhandlung einen Vergleich, der aber noch nicht rechtskräftig ist. «Sind die Fronten zu verhärtet, kann eine gerichtliche Einschätzung helfen – oft finden die Parteien damit ihren Frieden», sagt der Anwalt.

Atmosphäre: unterkühlt

Am Mietgericht in Dielsdorf sieht es einige Tage davor nicht nach Vergleich, sondern nach Verhärtung aus. Die Kläger sind zwei Männer, die gemeinsam ein KMU für Klimaanlagen führen: Man garantiere ideale Temperaturen, heisst es auf der Website. Jetzt scheint die Atmosphäre unterkühlt. Draussen hängen tiefe Wolken, und nebenan vertritt «ein Staranwalt aus Zürich», wie jemand raunt, die Vermieterseite.

Die KMUler beklagen, sie müssten eine «übersetzte Miete» bezahlen, man habe sie zudem «mehrfach vor den Kopf gestossen». So formuliert es ihre Anwältin. Sie hatten einst einen Mietvertrag auf fünf Jahre hinaus unterschrieben, mit der Option auf weitere fünf Jahre. Als es so weit war, habe man ihnen den Mietzins um über 20 Prozent erhöht und sie vor eine unmögliche Wahl gestellt. «Im Prinzip sagten die uns: Friss oder stirb», sollte später einer der Männer sagen. In der Umgebung habe es keine alternativen Geschäftsräume gegeben, der Geschäftsbetrieb sei in Gefahr gewesen, und so hätten sie unter Druck unterschrieben.

Der «Staranwalt aus Zürich» bestreitet alles Wesentliche und plädiert süffisant dagegen an: Im Mietvertrag sei alles klar geregelt gewesen. Die beiden Männer hätten damit rechnen müssen, dass das neue Angebot nicht ihren Vorstellungen entspreche und sie ausziehen müssten. «Also kann von Druck keine Rede sein.» Sowieso müssten die Kläger mit mindestens fünf Vergleichsobjekten den Nachweis antreten, dass der Mietzins missbräuchlich sei. Dieser Nachweis werde aber nicht gelingen, «weil heute die letzte Gelegenheit gewesen wäre».

Zwar ist der Mietzins sehr formalisiert – gleichzeitig ist er sehr umstritten. Vielleicht weil er neben der juristischen eine existenzielle Dimension hat: Wer einen höheren Mietzins nicht mehr bezahlen und also nur noch umziehen kann, muss potenziell ein neues Leben beginnen, an einem neuen Ort, in einem neuen Umfeld. Oder er verliert, wenn es um Gewerberäume geht, potenziell seine Kundschaft.

Das finale Urteil von Dielsdorf steht noch aus, aber der Fall führt hinein in die kühle Welt des Rechts. Eigentlich basiert das Zusammenleben auf ungeschriebenen Gesetzen. Gut ist, was nicht aufgeschrieben werden muss – also auf Vertrauen basiert. So ist es auch in der Beziehung zwischen Mieter und Vermieter. Aber sobald sich das Zusammenleben verschlechtert, gelten nur noch schriftliche Vereinbarungen.

Raus aus dem «Gnusch»

Monika Sommer ist stellvertretende Direktorin des Hauseigentümerverbands und Schlichterin. Sie sagt: «Als Nichtjurist tappt man schnell in Fallen des Mietrechts.» So etwa der Vermieter, der sich vom schleppend zahlenden Mieterehepaar so lange vertrösten lässt, bis es ihm irgendwann zu viel wird, bis er kündigt – dann aber irgendeine Frist nicht beachtet oder die Kündigung nicht an beide Eheleute einzeln schickt. Oder was macht er, wenn der Mieter einfach auszieht, keine geordnete Übergabe ermöglicht und seine neue Adresse verschweigt?

Das sind die Probleme in der Hotline des Hauseigentümerverbands. Generell, sagt Monika Sommer, nähmen die Konflikte zu. Immer mehr private Vermieter würden die Verwaltung auslagern – müde und mürbe geworden etwa von der Mieterin, die die Hauswartkosten anficht, weil sie seit der Pandemie häufiger zu Hause arbeite und sehe, wie häufig der Hauswart pausiere und rauche. Oder von dem lärmsensiblen Ehepaar, das sich bei geringsten Geräuschen meldet, mehrfach in einer Nacht, mit der Forderung nach sofortiger Antwort. «Früher, per Post, war die Kommunikation automatisch entschleunigt. Heute, per E-Mail, steigern sich immer wieder Leute in etwas hinein», sagt Sommer.

Auf den Schlichtungsstellen wird das Leben verhandelt – so sieht es Walter Angst, ein Veteran des Zürcher Mietverbands, der oft in Schlichtungen involviert ist. Er sagt: «Was wir tun, ist mehr, als Recht zu sprechen. Es kommt immer wieder vor, dass wir Mietern und Vermietern helfen, aus einem ‹Gnusch› herauszukommen.» Der Stress auf der Mieterseite habe zugenommen, gerade in Zürich. Weil die Mieten stark steigen, sind jene Leute gefährdet, die schon lange in ihrer Wohnung leben und deshalb eine tiefere Miete zahlen, die sie aber nur knapp bezahlen können: «Wem dann gekündigt wird und wer keine viel höhere Miete zahlen kann, landet weit draussen in der Agglo. Das belastet die Leute.»

Am häufigsten geht es in Schlichtungsverfahren um Mietzinserhöhungen oder um Kündigungen, bei denen es Schutzbestimmungen für Mieterinnen und Mieter gibt. «Härtefälle gibt es dennoch», sagt Walter Angst. Gerade läuft im Kino ein Film namens «Brunaupark». Er zeigt, wie sich eine Siedlung in Zürich gegen die Kündigung ihrer Mietverträge und einen Neubau wehrt. Angst ist darin als Mieteraktivist zu sehen. Das ist sein Alltag. «Häufig gibt es Lösungen, die weder für den Mieter noch den Vermieter eine Katastrophe sind», sagt er, «aber es kann auch anders herauskommen.»

Der Brunaupark ist im Film ein Symbol: Die Siedlung gehört der Pensionskasse der Credit Suisse. Das ist die Ordnung, die das Recht vorgibt. Aber die Mieterinnen und Mieter haben eine eigene Ordnung etabliert, eine Art Gewohnheitsrecht, das sie bewahren wollen. Der Brunaupark ist ihre Burg, die ihnen nicht gehört.

Der Auftritt des Zauberers

Am Kreisgericht in Lichtensteig im Kanton St. Gallen versucht an einem weiteren trüben Oktobertag ein Vermieter, die Kontrolle über seine eigene Wohnung zurückzuerlangen. Er ist ein schüchterner, freundlicher Typ, an seiner Schulter hängt eine Quöllfrisch-Umhängetasche. Seine Mieter, ein Ehepaar mit Kindern und einer Mitbewohnerin, lassen sich entschuldigen. Sie seien, so lautet der Vorwurf, mit ihren Mietzinsen massiv im Verzug. Sie hätten eigenmächtig den Mietzins reduziert, angeblich wegen Mängeln (Schimmelbefall, defekte Aussentreppe), die es aber nicht gebe – tatsächlich nur deshalb, weil sie nicht in der Lage seien, die Miete zu bezahlen. Und dann hätten sie, als es anders nicht mehr gegangen sei, das Kündigungsschreiben nicht abgeholt.

Der Anwalt der Mieter tritt an, um zu beweisen, dass die Kündigung «von Gesetzes wegen nichtig» sei. Er verweist auf seine Eingaben, aber dann sagt er in den kleinen Gerichtssaal hinein: «Jetzt kommt das entscheidende Argument!» Er wirkt jetzt wie ein Zauberer vor dem grossen Trick. Mit grosser Geste verteilt er dem Richter und der «geschätzten Kollegin», der Anwältin des Vermieters, eine Fotokopie der beiden Kündigungen an Ehefrau und Ehemann Mieter. Unschwer sei zu erkennen, erklärt er, dass der Code zur Abholung bei der Post auf beiden Briefen der gleiche sei. Er müsse also davon ausgehen, dass die Eheleute nicht wie vorgeschrieben separat, sondern gemeinsam angeschrieben worden seien.

Der Richter beugt sich über die Originalbriefe, die als Beweismittel vor ihm liegen. Dann sagt er dem Anwalt, ob ihm bewusst sei, dass sich unter den Codes noch andere Codes befänden? «Moment, das seh ich zum ersten Mal!», sagt der Anwalt. Er braucht ein, zwei Minuten, sortiert seine Akten, dann sagt er: «Ich bleibe bei meiner Version.» Für einen Moment ist es still im Kreisgericht. Es ist nur eine kurze Pause im ewigen Kampf zwischen Mietern und Vermietern; ist diese Akte geschlossen, geht eine andere auf.

Der Vermieter regt sich nicht, er wirkt müde von dem Fall. Als Vermieter sei er unerfahren, sagt er später am Bahnhof, sonst wäre er sicher nicht auf solche Mieter hereingefallen. Er habe das Haus vor wenigen Jahren von seinem Vater übernommen und wäre am liebsten selbst eingezogen. Dann aber wurde er Vermieter. So begann der Ärger.

Exit mobile version