Donnerstag, Oktober 3

Wie sähe die Spitallandschaft aus, wenn der Kantönligeist nicht wäre? Experten skizzieren, was in Zürich niemand vorzuschlagen wagt.

Von Not nach Elend sind es mit dem Auto nur dreizehn Minuten: Zuerst stand in diesem Frühjahr in Uster das Spital vor dem Aus, konnte aber gerade noch gerettet werden. Kurz darauf ist jenes Wetzikon in eine existenzbedrohende Krise geraten, die noch längst nicht ausgestanden ist. Der Zürcher Bevölkerung dürfte in diesen turbulenten Tagen aufgegangen sein, dass es im Kanton womöglich ein paar Spitäler zu viel gibt. Und dass dies nicht effizient sein kann, sondern die Gesundheitskosten unnötig erhöht.

Der Zürcher GLP-Nationalrat Patrick Hässig hat vergangene Woche mit einem Vorstoss für Aufsehen gesorgt. Dieser könnte das Ende des allzu dicht gestrickten Netzes bedeuten, in dem jede Region eisern ihr eigenes Spital verteidigt. Sein Plan läuft auf eine Entmachtung der kantonalen Gesundheitspolitiker hinaus.

Diese seien aus Angst vor den Wählerinnen und Wählern nicht in der Lage, nüchterne Entscheide zu treffen. Denn wer hart durchgreift, überlebt das politisch nur im Ausnahmefall. Hässig verlangt deshalb, dass in der Spitalplanung nicht mehr die Kantone das letzte Wort haben sollen, sondern der Bund. Es wäre eine Revolution.

Das wirft die Frage auf, wie die Zürcher Spitallandschaft der Zukunft aussehen könnte, wenn sie quasi am Reissbrett neu entworfen werden könnte, ohne auf regionale Befindlichkeiten Rücksicht nehmen zu müssen. Die NZZ hat drei Experten gebeten, sich auf dieses Gedankenspiel einzulassen.

Vier Spitalregionen für den Grossraum Zürich

Der Berner Gesundheitsökonom Heinz Locher würde Zürich in vier Regionen aufteilen, die je nur noch ein Zentrumsspital für die Grundversorgung hätten. Zwei dieser Zentren lägen gar ausserhalb des Kantons.

Die Veränderungen wären einschneidend. Und Locher weiss, dass Schliessungen immer mit Drama verbunden sind. Er hat einmal unter Polizeischutz 400 empörten Bürgern erklärt, weshalb ihr Regionalspital überflüssig sei: weil sie selbst im Zweifelsfall meist in ein zentrales Spital gingen – und das mit gutem Grund. Er ist deshalb überzeugt: Man kann die Gesundheitsversorgung so verbessern, dass niemand mehr ein Spital gleich um die Ecke nötig hat.

«Wir müssen mit der heutigen Spitalbaupolitik aufhören und das Gesundheitssystem vom Kopf auf die Füsse stellen, indem wir es von der Bevölkerung her denken», sagt er. «Die wichtigen Fragen sind doch: Habe ich einen Hausarzt? Was ist, wenn ich einen Notfall habe?»

Antworten darauf böten zum Beispiel sogenannte «First Responder», wie es sie auch in Zürich gibt: ausgebildete Laien, die bei einem Notruf schnell vor Ort sind. Oder die Telemedizin: Fachleute, die per Telefon oder Internet beurteilen, ob eine Verletzung nach einem Sturz wirklich so schlimm ist, dass die Ambulanz kommen muss. Oder Apotheken mit ausgebildeten Pflegefachleuten. Das wäre die erste Stufe seines vierstufigen Modells.

Auf einer zweiten Stufe sollten laut Locher regionale Gesundheitszentren folgen: ehemalige kleine Bezirks- oder Regionalspitäler, die ihr Angebot aufs Wesentliche beschränkt haben. Eine Ambulanz, Sprechstunden und eine Palliativabteilung etwa. Erst auf einer dritten Stufe folgten schliesslich Spitäler mit spezialisierten Kliniken. Die höchste Stufe bildeten Spitäler für hochspezialisierte Medizin – im Kanton Zürich das Cluster um Unispital, Balgrist und Kinderspital.

Spezialisierte Spitäler der dritten Stufe braucht es laut Locher für den Kanton Zürich und die angrenzenden Versorgungsregionen nur noch vier, aufgeteilt nach geografischen Räumen. Diese Zentrumsbetriebe bekämen vom Bund den Auftrag und die Kompetenz, mit den kleineren Spitälern in ihrem Einzugsgebiet auszumachen, welche Leistungen wo angeboten werden.

Fürs obere Zürcher Seebecken lanciert Locher die Idee eines neuen Zentrumsspitals in Rapperswil-Jona. Diesem wären als Gesundheitszentren die heutigen Spitäler von Wetzikon bis Uznach (SG), Lachen (SZ) und allenfalls sogar Glarus zugeordnet.

Ein solcher Umbau sei erst etwas für die nächste Generation, sagt Locher. «Das kann Jahrzehnte dauern, aber das macht ja nichts.» Als Vorbild nennt er die Genferseeregion, wo er in den 1990er Jahren einen ähnlichen Prozess angestossen habe. Heute gibt es dort statt fünf Spitäler, die auf zwei Kantone verteilt waren, nur noch eines.

Die weiteren Zürcher Spitalregionen wären gemäss Lochers Ideenskizze:

  • der Nordosten mit Zentrum in Winterthur und angeschlossenen Betrieben von Uster über Wil und Frauenfeld bis Münsterlingen am Bodensee, allenfalls auch mit Schaffhausen. «Wil braucht es eigentlich nicht – dass dieses Spital ausgebaut wurde, ist unverständlich.»
  • der Westen mit Zentrum in Baden und Nebenstandorten in Bülach und Schlieren (Spital Limmattal). «Eigentlich müsste das Zentrum in Spreitenbach stehen, die Spitäler Limmattal und Baden hätte man in den siebziger Jahren nicht bauen dürfen.»
  • die Stadt Zürich mit Zentrum im Triemli und angeschlossenen Betrieben Zollikerberg, Männedorf und Affoltern. «Das Waidspital in Zürich sollte sich auf Altersmedizin beschränken – es war ein Fehler, dort weiterhin auch alles andere anzubieten.»

Dabei müsste laut Locher über neue Geschäftsmodelle nachgedacht werden. Wie im Spital von Vaduz, das viel zu wenige Patienten hatte, um alle Behandlungen selbst anzubieten, aber doch nicht darauf verzichten wollte. Heute übernehmen dort Spezialisten aus Chur die Sprechstunden, zur Operation geht es dann ins Bündner Kantonsspital.

Für Locher sind das auch mit Blick auf Zürich weit mehr als blosse Gedankenspiele: «Die Spitalplanung müsste zwingend auf den Bund übertragen werden, sonst bekommt man solche Veränderungen nicht hin», ist er überzeugt.

Selbst das Unispital kann infrage gestellt werden

Der Zürcher Gesundheitsökonom Willy Oggier hingegen bezweifelt, dass man das Politikversagen in der Spitalplanung lösen kann, indem man die politische Verantwortung auf eine höhere Ebene verschiebt. Ihn irritiert am Vorstoss von GLP-Nationalrat Hässig, dass dieser zwar den Bund ermächtigen will, aber zugleich «grösstmögliche Einflussnahme der Kantone» verlangt. «Wenn man das so angeht, dürfte sich kaum etwas ändern – ausser dass noch mehr Papier produziert wird», sagt Oggier.

Auch wenn Bundesrat oder Parlament die Planung übernähmen, würden regionale Interessen einen grundsätzlichen Umbau der Spitallandschaft wohl verhindern, fürchtet er.

Dabei wäre es laut Oggier wichtig, über die Kantonsgrenzen hinaus zu planen. So könnte man ganze Abteilungen und Spitäler zusammenlegen oder schliessen.

Logische Kandidaten wären auch für ihn das Limmattalspital und das Spital Baden sowie Winterthur, Wil und Frauenfeld. Anders als sein Kollege Locher fasst er aber Männedorf mit Uznach und Glarus zusammen und Bülach mit Schaffhausen.

Für Oggier ist selbst das Universitätsspital nicht heilig: «Wenn es zu sehr mutigen Entscheiden käme, dann wäre einer der drei Standorte Basel, Bern und Zürich infrage zu stellen», sagt er. Ihre Einzugsgebiete seien im internationalen Vergleich zu klein.

Mehr Wettbewerb statt mehr Staat

Der Gesundheitsökonom Tilman Slembeck, Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur, findet staatliche Spitalplanung grundsätzlich schwierig – egal, auf welcher Ebene.

Er zieht einen wettbewerbsbasierten Ansatz vor, den er kürzlich im Interview mit der NZZ erklärt hat.

Ähnlich wie Locher plädiert er aber dafür, dass Kantone und Gemeinden in Permanencen und Notfallstationen investieren, statt weiterhin viel Geld in den Erhalt von Spitalstandorten zu stecken.

Müsste Slembeck wider Willen doch eine Spitalplanung am Reissbrett vornehmen, hätte er eine radikale Idee. Die Erreichbarkeit sei im Kanton Zürich heute kein Problem mehr, sagt er. «Wenn wir eine exzellente, flächendeckende Rettung und Notfallversorgung haben, würde daher für Wahleingriffe im Prinzip ein einziges Spital genügen.»

Diesen Vorschlag wird man von der Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli höchstwahrscheinlich nie zu hören bekommen.

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