Donnerstag, September 19

Der fünfte Teil unserer Serie «Spaziergänge durch
das Bewusstsein» beschäftigt sich mit einem grossen Rätsel
in der Evolution des Menschen – dem Schlaf.

Wenn der Schlaf uns übermannt, verschwindet die Welt vor unseren Augen, und wir verschwinden mit ihr. Dass wir auch im traumlosen Tiefschlaf weiterexistieren, ist gedanklich nicht leicht zu erfassen. Kleinkinder etwa behaupten am Morgen nach dem Aufwachen oft, sie seien gerade erst eingeschlafen. Die Erklärung der Eltern, dass sie stundenlang bewusstlos im Bett gelegen seien, ist für sie unverständlich – sie haben ja nichts Derartiges erlebt. Erst im Alter von sieben bis neun Jahren entwickeln wir Menschen die Vorstellung einer beständigen objektiven Zeit, die im Schlaf an uns vorbeizieht.

Das tägliche An- und Ausknipsen unseres inneren Erlebens könnte uns Menschen überhaupt erst auf die Idee gebracht haben, dass das Bewusstsein etwas «ist». Dies zu erkennen, ist nämlich alles andere als trivial. Wenn wir wach sind, hören wir Töne, sehen wir Farben, riechen wir Gerüche. Ein Roboter kann die entsprechenden Schallwellen, Lichtwellen und Geruchsstoffe ebenfalls registrieren, verarbeiten und sogar darauf reagieren. Doch er kann sie nicht erleben. Dafür wäre das Bewusstsein zuständig.

Dieses leistet aber noch viel mehr: Es bündelt etwa unsere Sinneseindrücke zu einer einheitlichen Erfahrung. Würde es das nicht tun, gäbe es jemanden in unserem Kopf, der Töne hören, jemand Zweites, der Farben sehen, und jemand Drittes, der Gerüche riechen würde. Das Bewusstsein jedoch konstruiert in uns ein einziges Subjekt, das all diese und weitere Dinge gleichzeitig und zusammen erlebt: wir selbst.

Das Bewusstsein arbeitet diskret

Die stetige Konstruktion dieser erlebten Einheit ist ein Prozess, der unbemerkt im Hintergrund läuft. Unser Geist ist so beschäftigt damit, Töne, Farben und Gerüche wahrzunehmen, dass wir die Vereinheitlichung dieser Eindrücke und die Bewusstheit des Erlebens routinemässig übersehen. Uns entgeht quasi die Wahrnehmung der Wahrnehmung.

Das ist kein Zufall, sondern ein Ergebnis der Evolution. Das Bewusstsein selbst muss nämlich so diskret wie möglich arbeiten. Nur so können wir unsere Aufmerksamkeit ganz auf die Gefahren und Chancen richten, die in der Welt um uns herum lauern. Ein Bewusstsein, das sich stetig selbst in den Vordergrund drängte, würde uns zu sehr ablenken.

Wir wären gegen Raubtiere, Felsspalten und andere Bedrohungen weniger gefeit und zugunsten von Menschen mit einem diskreter arbeitenden Bewusstsein wohl längst ausgestorben. Der Philosoph Thomas Metzinger nennt diese Eigenschaft des Bewusstseins «Transparenz». Es ist unser Fenster zur Welt, verschwindet aber gleichzeitig aus unserer Wahrnehmung wie eine sauber geputzte Fensterscheibe.

Kann man lernen, die transparente Fensterscheibe zu sehen? Viele fernöstliche Religionen lehren Meditationstechniken, die einen Zustand reinen Bewusstseins zum Ziel haben: das buddhistische «Dharmakaya» etwa, das für die allumfassende Einheit und Leerheit des Geistes steht, oder das «Turiya» des Hinduismus. Die Erlebnisberichte Hunderter solcher meditativer Zustände hat Thomas Metzinger in seinem im November erschienenen Buch «Der Elefant und die Blinden» gesammelt. Das reine Bewusstsein wird dort etwa als «ein Gefühl extremer Klarheit» oder als «von tiefklarer Präsenz» beschrieben: Man nimmt nur noch die Fensterscheibe wahr und nicht mehr das, was sich dahinter befindet.

Spaziergänge durch das Bewusstsein

In einer Artikelserie verknüpfen der Autor und Biochemiker Nils Althaus und der Wissenschaftskommunikator Mirko Bischofberger philosophische Fragen über das Bewusstsein mit den neuesten Erkenntnissen aus der Forschung.

Serie

Im Schlaf verschwindet beides: die Fensterscheibe und das dahinter – zum Glück. Wäre das Bewusstsein immer da, hätte uns womöglich nie die Ahnung beschlichen, dass das Innenleben von Steinen oder Erdklumpen anders ist als unseres. Was nirgendwo hervorsticht und sich nie verändert, wird von unseren Gehirnen schnell ausgeblendet.

Das weiss jeder, der schon einmal einen neuen Kühlschrank gekauft hat. Das ungewohnte Brummen, das uns anfänglich auffällt, nehmen wir bald einmal nicht mehr wahr. Wird ein ruhender Ton hingegen unterbrochen, horchen wir auf. Der Tiefschlaf, der das Bewusstsein unterbricht, ist somit erkenntnistheoretisch wohl ein Glücksfall – er macht uns auf das Bewusstsein aufmerksam. Evolutionsbiologisch hingegen ist der Tiefschlaf ein grosses Rätsel.

Keine Reparaturen an laufenden Motoren

Tagaktive Tiere (wie wir) sind auf helle Umgebungen spezialisiert und gehen deshalb tagsüber auf Nahrungssuche. In der Nacht würde sich unser Einsatz weniger auszahlen, weshalb eine energiesparende Ruhephase Sinn ergibt. So weit, so gut, doch warum verlieren wir dabei über weite Strecken das Bewusstsein? Energie liesse sich auch mit offenen Augen und Ohren sparen. Stattdessen liegen wir wehrlos und aller Sinne beraubt am Boden und machen uns wortwörtlich zu einem gefundenen Fressen.

Allan Rechtschaffen, ein Pionier auf dem Gebiet der Schlafforschung, formulierte es so: «Wenn der Schlaf nicht irgendeine lebenswichtige Funktion hat, ist das der grösste Fehler, den die Evolution je begangen hat.» Ein allgegenwärtiger Fehler überdies. So schlafen sämtliche Tiere, die bisher untersucht wurden.

Eine mögliche Erklärung ist, dass die regelmässige Wartung und Pflege des Gehirns ein globales Abschalten erfordert – so wie man Motoren abschaltet, bevor man Reparaturen an ihnen durchführt. Im Schlaf werden Erinnerungen gefestigt, Nervenverbindungen neu kalibriert, DNA repariert und Abfallprodukte des Gehirnstoffwechsels entsorgt. All dies ist mit einem aktiven Bewusstsein vielleicht schlicht nicht möglich.

Denkbar ist auch, dass wir die energetischen Kosten eines laufenden Bewusstseins unterschätzen. Der Tiefschlaf wäre dann eine Art Stromsparschalter für die Sinne, wenn die Umwelt wenig Informationen bietet – bei Dunkelheit beispielsweise.

Das Rätsel des bewusstlosen Schlafens harrt noch einer endgültigen Lösung. Einen Vorteil besitzt die nächtliche Bewusstlosigkeit freilich immer: Sie unterbricht das Grübeln über die Natur des Nichtseins – und bringt uns manchmal auf Lösungen, die uns im Wachzustand verborgen bleiben.

Das wusste bereits Thomas Edison, der Erfinder der Glühbirne. Er machte sich den Kreativitätsschub beim Abgleiten in den Schlaf regelmässig zunutze: Bei seinen Nickerchen hielt er einige Metallkugeln in der Hand. Sobald sich seine Handflächen entspannten und die Kugeln geräuschvoll zu Boden fielen, wachte Edison auf und hatte eine Lösung parat.


Spaziergänge durch das Bewusstsein

In einer Artikelserie verknüpfen der Autor und Biochemiker Nils Althaus und der Wissenschaftskommunikator Mirko Bischofberger philosophische Fragen über das Bewusstsein mit den neuesten Erkenntnissen aus der Forschung.

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