Donnerstag, März 13

Walter Salles erzählt vor allem aus der Sicht der Privilegierten von der Militärdiktatur. Die Gesellschaftsschichten, die am meisten gelitten haben, kommen zu kurz. Vielleicht ist das nicht überraschend beim drittreichsten Filmemacher der Welt.

Brasilien sieht wohlhabend aus in Walter Salles’ unlängst mit dem Oscar für den besten internationalen Film ausgezeichnetem Werk «I’m Still Here». Die Farben sind satt, die Häuser gross, die Menschen schön, das entspannte Leben am Strand ist sonnig. Erstaunlich, wie sehr die ersten Bilder dieses in den 1970er Jahren seinen Ausgang nehmenden Dramas an Tourismuswerbungen erinnern.

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Es wird geschwommen und Beachvolleyball gespielt, allen geht es auffällig gut. Man wartet nur darauf, dass Ronaldinho oder Pelé ins Bild springen, um mit dem Ball zu jonglieren. Immerhin: Ab und an trüben schwarze Militärfahrzeuge das Bild, sie sind die Vorboten eines kommenden Unheils, das über die Familie Paiva hereinbrechen wird.

Basierend auf dem autobiografischen Roman des Sohnes Marcelo Rubens Paiva, erzählt der Film vom Verschwinden des ehemaligen Kongressabgeordneten und regierungskritischen Rubens Paiva. Eines Tages tauchen finster dreinschauende Männer im Auftrag der Militärdiktatur im friedlichen Haus der Familie auf und nehmen den Mann mit. Wohin, bleibt unklar, was genau mit ihm geschieht, lange Zeit auch.

Er ist ein Desaparecido, ein Verschwundener, eines der vielen Opfer südamerikanischer Militärdiktaturen. Auch seine Frau Eunice Paiva wird verhört und tagelang festgehalten. Als sie zurück in ihr Haus darf, ist nichts mehr wie zuvor.

Fernanda Torres als Ikone

Der Film setzt in jenen Tagen ein, in denen die Entführung des Schweizer Botschafters Giovanni Enrico Bucher durch die linksrevolutionäre Nationale Befreiungsallianz zu besonderen Spannungen im Land führt.

Die gelegentlich aufblitzende Stimmung der Paranoia gibt Salles nach und nach auf, um vom Durchhaltevermögen der von Fernanda Torres gespielten Eunice zu erzählen, die trotz Angst und Trauer ihre Familie zusammenhält und eine wichtige Menschenrechtsaktivistin wird. Torres legt ihre Figur mit einer effektiven Mischung aus Stolz, Kraft und Verletzlichkeit an.

Die Kamera filmt ihr Gesicht wie das einer Ikone, fest und weitblickend. Sie wiegt den Horror mit Würde auf. Das ist überzeugend gespielt, mutet aber auch ein bisschen seltsam an, weil hier vor allem der Widerstand der Eliten gezeigt wird.

Obwohl sie die schlimmsten Nachrichten über ihren Ehemann erfährt, geht sie mit ihren Kindern Eis essen. Ihr Blick driftet ab, und sie beobachtet die glücklichen Familien an den anderen Tischen, wohlwissend, dass ihr dieses Glück fortan versperrt bleibt. Die Tränendrüsen werden gedrückt.

Ja, auch die Privilegierten hatten nichts zu lachen, wenn sie oppositionell eingestellt waren. Aber Armut und jene Gesellschaftsschichten, die am schlimmsten unter dieser von 1964 bis 1985 regierenden Diktatur gelitten haben, bleiben durchgehend unsichtbar. Das ist vor allem deshalb erstaunlich, weil sich Eunice Paiva in ihrem Aktivismus für die indigene Bevölkerung einsetzte.

Billige Tricks

Ebenso unsichtbar bleiben die Verstrickungen der Oberklasse mit dem Regime sowie die für dessen Fall entscheidenden Streiks von Arbeitern, an denen bekanntlich auch der derzeitige Präsident Lula da Silva als Gewerkschaftsführer mitwirkte. Ein Film wie «ABC da Greve» von Leon Hirszman aus dem Jahr 1990 zeigt diesen weitaus gewichtigeren Aspekt der Geschichte.

Salles bemüht stattdessen die billigsten Tricks, um möglichst sentimental Identifikation mit der Musterfamilie Paiva zu schaffen. So wird ein lieber Hund eingeführt, der selbstverständlich von den bösen Schergen getötet wird. Oder der Vater wird als besonders liebevoll gezeigt, weil er den ersten Milchzahn seiner Tochter mit ihr am Strand verbuddelt. Heimlich behält er ihn doch bei sich, nur damit die Mutter ihn später hervorzaubern kann, als der Vater schon längst nicht mehr am Leben ist.

Dazu gibt es die bekannten Kinogesten einer betonten Tragik samt passendem Musikeinsatz und der Nahaufnahme im richtigen Augenblick. Alles ist so geglättet, man fühlt sich fast wohl, wenn man den eigentlich grauenvollen Ereignissen beiwohnt. Komplexer ist da der Umgang mit Trauer. Vor allem das wiederholte Lächeln, zu dem sich Eunice zwingt, ihr Wille, sich nicht vom Leben besiegen zu lassen, bewegt und schreibt einem nicht vor, wie man sich dazu verhalten muss.

Die Szenen, in denen sich Menschliches und Widersprüchliches zeigen, sind vermehrt in den letzten Minuten des Films zu sehen, dann erkennt man im Halten einer Zigarette oder in einer kaum merklichen Geste, was es bedeutet, in dieser politischen Wirklichkeit gelebt zu haben.

Erinnert an den Meilenstein

Zuvor wagt der Film zwei Zeitsprünge, zunächst einen in die 1990er Jahre, dann einen ins Jahr 2014. Das erinnert unter anderem an den für das brasilianische Kino wegweisenden Film «Cabra Marcado para Morrer» von Eduardo Coutinho aus dem Jahr 1984.

Was eigentlich ein Spielfilm über den Tod des Revolutionärs João Pedro Teixeira werden sollte, wurde Mitte der sechziger Jahre von der Militärdiktatur gestoppt, indem viele Mitglieder des Filmteams verhaftet wurden. Zwanzig Jahre später kehrte der Regisseur jedoch zu seinem Stoff zurück und besuchte Menschen, die am ursprünglichen Film mitgewirkt hatten.

Die Filme könnten unterschiedlicher nicht sein. Coutinho ist wütend, analytisch, präzise und nüchtern. Salles ist romantisch, verklärend und manipulativ. Aber es eint die beiden Werke, dass sie auch die Langzeitwirkungen einer Diktatur betrachten. Man darf «I’m Still Here», wenngleich die Buchvorlage vor der Amtszeit Jair Bolsonaros entstanden ist, sicherlich als politische Geste verstehen. Salles selbst äusserte, dass sein Film in einer der Diktatur nostalgisch zugetanen Regierung Bolsonaro wohl kaum grünes Licht bekommen hätte.

Ob der Erbe des Unibanco-Imperiums und laut dem Magazin «Forbes» drittreichste Filmemacher der Welt (hinter Steven Spielberg und George Lucas) mit einem Nettovermögen von 4,2 Milliarden Dollar in der sowohl staatlich als auch privat geförderten brasilianischen Filmindustrie wirklich keine Möglichkeit gehabt hätte, diesen Film zu realisieren, sei dahingestellt.

Sämtliche Rekorde gebrochen

Trotzdem darf die internationale Präsenz des Films durchaus als erstes Zeichen eines kulturellen Aufschwungs verstanden werden. Die Fördersituation hat sich seit dem Abtreten Bolsonaros und eine gewisse Zeit nach der Pandemie erheblich entspannt, es entstehen wieder mehr geförderte Filme in diesem für die Kinogeschichte so wichtigen Land.

Filmkritiker aus Brasilien berichten von einem grösseren Zusammenhalt in der Kulturszene, die ihre Existenz nicht mehr für selbstverständlich erachten konnte. «I’m Still Here» brach sämtliche Rekorde an den Kassen, als er vergangenes Jahr in die heimischen Kinos kam. Damit ist Salles nach «Central Station» (1998) erneut ein Grosserfolg gelungen.

Online kann man Videos finden, die die Reaktion der wegen des Karnevals zu Tausenden auf den Strassen feiernden Menschen auf den Oscar-Triumph des Films eingefangen haben. Man merkt, dass dieser Film, ob gerechtfertigt oder nicht, für mehr steht als nur einen Film, er ist zum Symbol eines kulturellen Neuanfangs geworden. Bleibt zu hoffen, dass ihm gelungenere oder zumindest mutigere Filme folgen.

I'M STILL HERE | Official Trailer (2025)

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