Freitag, September 27

Prostitution, Glücksspiel, Waffenbesitz – Nevada gilt als Sündenpfuhl der USA und ist ein wichtiger Swing State bei der Präsidentenwahl. Die Bürger treibt vor allem eines um: wie teuer Lebensmittel geworden sind.

Ein Donnerstagnachmittag vor einem Walmart-Supercenter in Reno, im Nordosten Nevadas. Kunden strömen in den riesigen Supermarkt rein und raus, ihre Einkaufswagen sind gefüllt mit Grosspackungen von Cerealien, Toastbrot, Milch. Egal, wen man fragt – den Veteranen der Luftwaffe, die dreifache Mutter, die 80-jährige Rentnerin –, sie alle treibt die gleiche Sorge um.

Alles sei erheblich teurer geworden, erzählt Marielle, eine Frau mit langem braunem Haar und Brille: das Benzin, die Lebensmittel, «lassen Sie mich erst gar nicht über die Windeln reden». Die 24-Jährige ist hier im Nordosten Nevadas geboren und arbeitet im Kundendienst einer Firma, auf dem Arm trägt sie ihre zweijährige Tochter. Die Teuerung sei ihr wichtigstes Thema bei der anstehenden Präsidentenwahl, sagt Marielle, im November werde sie zum ersten Mal wählen. Für wen, das wisse sie noch nicht. Ihr Mann wolle Donald Trump wählen, auch, weil unter ihm die Inflation nicht so hoch gewesen sei.

1300 Dollar im Monat für Lebensmittel

Die Wirtschaft, insbesondere die hohe Teuerung, könnte die Präsidentenwahl entscheiden. Kein Thema beschäftigt die Wähler mehr, das zeigen landesweite Umfragen.

Gerade in Nevada, einem wichtigen Swing State, sind die Preise enorm gestiegen. Seit die Administration von Präsident Joe Biden im Januar 2021 angetreten ist, betrug die Inflation kumulativ 22 Prozent, wie der überparteiliche Wirtschaftsausschuss des Kongresses berechnet hat. Der Benzinpreis in Nevada ist in dieser Zeit um 47 Prozent, die Mietkosten sind um 22 Prozent gestiegen.

Auch die Preise für Lebensmittel sind in die Höhe geschossen. Verglichen mit Januar 2021, zahlt ein durchschnittlicher Haushalt monatlich 153 Dollar mehr für seine Einkäufe im Supermarkt. Insgesamt gibt er dafür fast 1300 Dollar aus. Das ist viel Geld in einem Gliedstaat, in dem das Gehalt vor Steuern im Schnitt bei 4600 Dollar liegt. Damit hat Nevada die zweithöchsten Lebensmittelkosten im ganzen Land; nur das deutlich wohlhabendere Kalifornien ist noch teurer.

«Wir mussten enorm zurückstecken», erzählt eine schwangere Hausfrau, die vor dem Walmart gerade einen Kinderwagen aus ihrem Minivan wuchtet. Ihr zweijähriger Sohn krabbelt hinein, der Vierjährige blieb zu Hause. Sie kaufe nun weniger Lebensmittel. Und sie versuche, das Essen über mehr Tage zu strecken: mehr Nudeln und maximal ein Käsestück für die Kinder pro Tag, «auch wenn sie um ein zweites betteln».

Es sei «verrückt», wie viel das Essen inzwischen koste, sagt auch Michelin, 39 Jahre, kurze blonde Haare, Sportkleider. Ihre Jungs tränken literweise Milch. «Eine Gallone (rund 3,8 Liter) kostet heute vier Dollar, früher waren es zwei. Manchmal sage ich, ‹hey, könnt ihr auf Wasser umschwenken?›» Hinzu kommt, dass in Nevada die Arbeitslosigkeit mit 5,5 Prozent die zweithöchste im ganzen Land ist, nach dem Hauptstadtbezirk Washington.

Verpönte Aktivitäten als Geschäftsmodell

Die Wirtschaftssorgen in Nevada könnten womöglich über die Präsidentenwahl entscheiden. Denn liefern sich Harris und Trump tatsächlich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, könnte der «Silver State» mit seinen sechs Elektorenstimmen womöglich zum Königsmacher werden.

Dabei ist Nevada weniger als politische Hochburg und vielmehr als «Vice State», als Sündenstaat der USA, bekannt. Prostitution, Glücksspiel, freier Alkoholkonsum – hier darf man, was in anderen Landesteilen teilweise oder ganz verboten ist.

Es war eine bewusste Entscheidung, mit der sich Nevada einst das Überleben sicherte. Als der Silberboom des 19. Jahrhunderts vorbei und die Minenarbeiter abgezogen waren, kämpfte der Wüstenstaat in den dreissiger Jahren um sein Überleben. Gerade einmal 91 000 Bürger wohnten damals auf einer Fläche so gross wie Grossbritannien. Nevada war mit Abstand der am dünnsten besiedelte Staat der USA.

Verzweifelt suchte die gliedstaatliche Regierung nach Einnahmequellen – und wagte Neues. Als erster und bis heute nahezu einziger Gliedstaat legalisierte Nevada Glücksspiel und Prostitution. Obendrauf führte man die laxesten Gesetze zur Eheschliessung und Scheidung ein. Bordelle, Kasinos, Pfandleiher wuchsen aus dem Boden. Im Norden wurde Reno, im Süden Las Vegas zum Unterhaltungsmekka. Die Strategie ging auf: Die Steuererträge vom Glücksspiel sind so üppig, dass der Gliedstaat bis heute darauf verzichtet, Einkommens-, Firmen- und Erbschaftssteuern zu erheben.

Inzwischen hat Nevada 3,1 Millionen Einwohner. Die allermeisten leben im Süden im Grossraum Las Vegas, viele auch im Norden um Reno. Verlässt man die Städte, wird Nevada schnell sehr einsam und trocken. Nirgends in den USA regnet es weniger, vielerorts darf man nicht bauen, weil der Bundesregierung gut 80 Prozent der Landfläche gehören. Nicht umsonst trägt der Highway 50, der sich quer durch Nevada schlängelt, seinen Spitznamen: die einsamste Strasse Amerikas.

Nevada ist politisch ausgeglichen wie kaum ein Gliedstaat

Auf diesen «Wild West»-Charakter sind viele Nevadans bis heute stolz. Das spiegelt sich auch im Wahlverhalten. Nevada ist der einzige Gliedstaat, in dem Wähler das Feld «keiner der oben genannten Kandidaten» ankreuzen können, wenn ihnen niemand auf dem Stimmzettel zusagt. Bei der republikanischen Vorwahl im Februar siegte dieser «Niemand» vor der Anwärterin Nikki Haley.

Seit der Staatsgründung 1864 hat man hier 20-mal den republikanischen Präsidentschaftskandidaten, 19-mal den demokratischen und einmal eine Drittpartei gewählt. «Es ist der Inbegriff eines Swing State», sagt der Politologe Thom Reilly von der Arizona State University, der jahrzehntelang in Nevada arbeitete. «Die Bürger haben keine Loyalität zu einer einzigen Partei, ihr Verhalten ist schwer vorherzusagen.» Auch die Kongressdelegationen aus Nevada setzen sich im Zeitverlauf bemerkenswert ausgeglichen aus Demokraten und Republikanern zusammen, ebenso die gliedstaatliche Regierung.

Die Bürger hier lassen sich ungern vorschreiben, was sie zu tun haben. Entsprechend bezeichnen sich etwa gleich viele Wähler als «Independents», also als Parteilose, wie als Republikaner und als Demokraten.

Zu den Parteilosen zählt sich Pat Cantwell. Der 65-Jährige arbeitet in Reno als Werbemanager für ein Medienunternehmen, ursprünglich stammt er aus New York. Bei einer Abendveranstaltung der lokalen Handelskammer erzählt er, dass er früher den Republikanern angehört habe; heute fühle er sich keiner Partei zugehörig. «Beide Seiten sind zu extrem geworden.»

Als er das erzählt, dreht sich Cantwell mehrmals um und achtet darauf, dass keiner der Gäste zuhört. «Ich versuche, im Privaten nicht über Politik zu reden», erklärt er. Immer wieder komme es vor, dass Leute auf Partys nach einem Glas Wein ihre politische Meinung episch ausbreiteten, sei es pro Harris oder pro Trump. «Das will ich bei einem privaten Anlass nicht hören.» Auch von einem Freund habe er sich deswegen schon entfremdet.

Was ihm am meisten im Land Sorgen bereite? Cantwell überlegt kurz. Sicher die Wirtschaft, aber auch die Lage an der amerikanischen Südgrenze. Die Vizepräsidentin Harris hätte bei der Sicherung der Grenze «energischer vorgehen können», wie Cantwell findet – überhaupt sei sie ihm etwas zu progressiv. Dennoch werde er im November für sie stimmen. Denn Trump kennt Cantwell noch aus den achtziger Jahren in New York City, «damals hat er mir schon Angst gemacht, und das tut er heute noch».

Ganz andere Pläne hat Kara Pedroni. Pedroni, sorgfältig geschminkt, blond gefärbte Haare, ist in Reno geboren und zur Schule gegangen, einige Semester hat sie auch am lokalen Community College studiert. Wie 75 Prozent der Bevölkerung in Nevada hat die 45-Jährige aber keinen Hochschulabschluss.

Seit einigen Jahren arbeitet Pedroni selbständig als Reinigungskraft, sie putzt vor allem Airbnb-Wohnungen im angrenzenden Touristenmekka Lake Tahoe. An einem freien Vormittag sitzt sie in einem Café in der Innenstadt von Reno und führt aus, wie sie ihre Einnahmen plant. Sie achtet darauf, gerade so viel zu verdienen, dass sie die Hypothek für ihr Haus zahlen kann. Und gleichzeitig so wenig, dass sie Medicaid – die staatliche Krankenversicherung für Geringverdienende – in Anspruch nehmen darf. «Am freien Markt kostet eine Krankenversicherung 700 Dollar, wie soll ich mir das denn leisten?», sagt sie.

Pedroni schimpft über die Inflation. «Ich gehe aus dem Supermarkt mit zwei Säcken in der Hand und habe 100 Dollar dafür gezahlt.» Scherzend kneift sie sich in die Hüfte und fügt hinzu: «Diese Figur ist teuer.» Jüngst sei sie wieder nach San Diego geflogen, um hinter der mexikanischen Grenze zum Zahnarzt zu gehen. «Die Flugtickets kosten mittlerweile doppelt so viel wie noch vor zwei Jahren.» Pedroni schreckt aber davor zurück, die gestiegenen Lebenshaltungskosten an ihre Kunden weiterzugeben. «Vermutlich sollte ich das tun, aber ich will nicht riskieren, wegen 20 Dollar einen Kunden zu verlieren.»

Vor sechs, sieben Jahren, unter Präsident Trump und vor der Corona-Pandemie, sei die Wirtschaft viel besser gelaufen, findet sie. Pedroni stimmte 2020 für Trump – und sie will es auch im November wieder tun. «Im Moment macht mir die Wirtschaft wirklich Angst.» Sie wisse, dass Inflation ein komplexes Problem sei, aber sie sei überzeugt: «Trump kann das wieder richten.»

Gewerkschaften als Zünglein an der Waage

Ob Trump oder Harris – historisch gesehen entscheiden oft wenige Zehntausend Stimmen über den Ausgang der Präsidentenwahl in Nevada. Das Zünglein an der Waage bilden meist die Gewerkschaften, insbesondere die Culinary Union. Ihr gehören fast 60 000 Angestellte aus dem Gastgewerbe an, viele davon hispanisch- oder asiatischstämmig. Am Wahltag organisiert die Gewerkschaft gar Fahrdienste für ihre Mitglieder an die Urnen, damit diese auch ja abstimmen.

Die Culinary Union hat sich dieses Jahr für Harris ausgesprochen, ebenso die lokale Niederlassung der Teamsters, der Gewerkschaft der Lastwagenfahrer. Doch in Umfragen schmilzt Harris’ Vorsprung zurzeit dahin, sie und Trump liegen in Nevada praktisch gleichauf. In welche Richtung der Gliedstaat diesmal schwingen wird, ist völlig offen.

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