Dienstag, Oktober 8

20,1 Millionen Logiernächte zählte Schweiz Tourismus im ersten Halbjahr 2024. Das sind mehr als im sehr erfolgreichen vergangenen Jahr. Doch ausgerechnet das Tessin gehört zu den Verlierern.

In den Schweizer Städten funktioniert der Tourismus unabhängig vom Wetter, und auch vielen ländlichen Destinationen geht es blendend. 20,1 Millionen Logiernächte zählte Schweiz Tourismus im ersten Halbjahr 2024. Das sind nochmals mehr als im sehr gut besuchten Jahr 2023. Zu den gefragtesten Tourismusdestinationen gehören die Genfer Flughafengemeinde Vernier mit einem Plus von 75,9 Prozent gegenüber der Vorjahresperiode. Aber auch die Bündner Gemeinden Pontresina und Chur konnten einen Zuwachs von 12,3 und 21,4 Prozent verzeichnen.

Doch ausgerechnet in der «Sonnenstube» Tessin ist der Trend gegenläufig: Im Schnitt sind die Tessiner Übernachtungszahlen im ersten Halbjahr 2024 im Vergleich zu den letzten beiden Jahren deutlich gesunken. Laut Schweiz Tourismus verzeichnet etwa Lugano ein Minus von 7,9 Prozent.

Schlechtes Wetter, schlechte Saison

Und woran liegt das? Am Wetter und an der Berichterstattung über das Wetter – vor allem an der Berichterstattung in den Deutschschweizer Medien über das Wetter, heisst es bei Tessiner Touristikern. Die Gäste aus der Deutschschweiz seien sich gewöhnt, dass es im Süden der Schweiz im Sommer kaum regne. Deshalb würden viele Tourismusorte gezielt mit ihren Grotti, Campings und Badeanstalten werben. Auch die meisten Restaurants hätten das gute Wetter bereits einkalkuliert und böten die Mehrzahl ihrer Sitzplätze draussen an. Bleibe es aber länger nasskalt, erlitten Grotti, Hotels und Campingplätze schnell Einbussen.

Denn im Tessin gilt die Formel: Schlechtes Wetter hält die Stammkundschaft, die Deutschschweizer Touristen, von einer Reise in den Süden ab. Vor allem die wichtige Klientel der Tagestouristen zeigt sich regenscheu: Sie kommen gerne für ein gutes Essen und ein wenig Shopping in den Südkanton und garantieren damit vielen kleinen Betrieben ein Auskommen. In Bergtälern wie dem Maggiatal sind Wanderer und Rustico-Touristen manchmal sogar oft die einzige Einnahmequelle, die es für Einheimische vor Ort gibt.

Doch wenn die Sonne nicht scheint, reagieren die Deutschschweizer sensibel und bleiben zu Hause. Darauf reagiert man wiederum auf der Südseite des Gotthards empfindlich. Seit man den Begriff der «Sonnenstube» geprägt habe, gelte der Südkanton offenbar nur bei schönem Wetter als attraktiv, klagt Massimo Suter, der Präsident von Gastroticino, der kantonalen Organisation des schweizerischen Verbandes für Hotellerie und Restauration.

Suter weiss, wovon er redet. Er besitzt in Morcote am Luganersee ein Restaurant und hat die Auswirkungen des vielen Regens am eigenen Leib zu spüren bekommen: «Das Klischee der Sonnenstube schadet uns enorm», sagt er. Dabei sei das Tessin schön und anziehend, auch wenn es regne. Schliesslich biete es auch ausserhalb der Sommersaison sehr viel.

Weil das in der Deutschschweiz offenbar zu wenig bekannt ist, bleibt nur ein Imagewechsel. Suter und andere Mitstreiter versuchen deshalb seit Jahren, mit dem Mythos der Sonnenstuben aufzuräumen. Denn die Not ist gross: Laut einer Erhebung von Gastroticino sind die Umsätze im letzten halben Jahr um 20 bis 50 Prozent eingebrochen. Darunter leiden vor allem Restaurationsbetriebe von mittlerer Grösse. In einigen Tessiner Grotti sind die Einnahmen sogar um bis zu 70 Prozent eingebrochen.

Laut Suter ist die Gefahr gross, dass diese Betriebe in den nächsten sechs Monaten Konkurs anmelden müssen. Spätestens seit der Pandemie und dem Lockdown stünden sie finanziell auf schwachen Beinen, sagt er. Selbst wenn das Wetter bis tief in den Herbst hinein schön bleibe, könne dies die Verluste nicht mehr wettmachen.

Schuld daran sind in Suters Augen vor allem die Deutschschweizer Medien. Sie hätten, behauptet er, regelrechte Desinformation betrieben, indem sie schwierige und dramatische Wettersituationen in einer einzelnen Tessiner Region zu einem katastrophalen Ereignis für den ganzen Südkanton hochstilisiert hätten.

Diese Berichterstattung habe natürlich die Deutschschweizer Kundschaft abgeschreckt und sie davon abgehalten, eine Reise ins Tessin zu unternehmen. Weil die deutschsprachigen Zeitungen nicht differenzieren könnten, sei der Eindruck entstanden, dass es im Süden der Schweiz überall gleich schlimm aussehe. Das sei auch der Grund, weshalb sich das kantonale Tourismusbüro Ticino Turismo genötigt gesehen habe, eine Gegenkampagne unter Mitwirkung der Tessiner Ex-Miss-Schweiz Christa Rigozzi zu lancieren.

Doch ganz so schlimm ist die Lage nicht. Zwar sind die Tessiner Übernachtungszahlen im ersten Halbjahr 2024 tatsächlich deutlich gesunken. Im Hinblick auf den Durchschnittswert vor der Pandemie, von 2015 bis 2019, stelle man aber ein Plus der Übernachtungen um 6 Prozent fest, heisst es bei der Tourismusfachstelle der Universität Lugano. Auch liege die Quote der Hotelreservierungen für die Monate August bis Oktober leicht über jener der Vorjahresperioden.

«Wir müssen Mythen wie dem von der Sonnenstube ein Ende setzen»

Auch Suter gibt zu, dass das Tessin nach dem wirtschaftlich desaströsen Lockdown einen ungewöhnlichen Ansturm von Deutschschweizer Touristen erlebt hat. Doch er sieht keinen Grund zur Zuversicht. Der Nach-Pandemie-Effekt habe sich nun abgeschwächt, und der Südkanton sei auf das touristische Standardniveau abgesunken, sagt er. Auch dürfe man nicht vergessen, dass die Übernachtungszahlen in der Zeit von 2015 bis 2019 alles andere als ermutigend gewesen seien.

Das Tessin, fordert er, müsse deshalb intensiv an der Verbesserung seiner touristischen Produkte arbeiten. Man solle sowohl die Schweizer Touristen als auch die ausländischen Gäste noch stärker umwerben. Das Tessin müsse die Nebensaison und den Winter stärker ins Auge fassen, sagt Suter, und: «Wir müssen Mythen wie dem von der Sonnenstube ein Ende setzen.»

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