Sonntag, Oktober 6

Seit zwei Jahren profitiert das Spital im Val Müstair von einer Zusammenarbeit mit Südtirol. Nun könnte das Pilotprojekt verlängert werden. Über einen Sonderfall im Schweizer Gesundheitssystem.

Am östlichsten Zipfel der Schweiz liegt das Val Müstair. 1500 Menschen leben hier. Es gibt sechs Dörfer, einen Volg, einen Denner, ein paar Hotels, ein Skigebiet. Und ein kleines Spital mit vier Patientenzimmern.

In der Schweiz sind zwei Drittel aller Spitäler in finanzieller Not, wie eine Studie der KPMG jüngst zeigte. Die Kosten steigen, insbesondere beim Personal. Zwischen 1998 und 2022 hat sich die Zahl der Spitäler in der Schweiz halbiert, von 203 auf 101. Man hat Spitäler zusammengelegt und zig kleine Einrichtungen geschlossen, um Kosten zu sparen.

Das Spital im Val Müstair aber bleibt offen. Ausgerechnet hier, am Rande der Schweiz, schreibt eine Gesundheitseinrichtung schwarze Zahlen.

Dabei ist die Gesundheitsversorgung in den Bergtälern eine besondere Herausforderung. Das nächste Spital ist oft weit weg. Die wenigen Ärztinnen und Ärzte müssen stets abrufbar sein und jeden Bereich der Medizin beherrschen. Gleichzeitig kommt wenig Kundschaft. Um mehr Umsatz zu machen, geht man im Val Müstair buchstäblich über Grenzen: Das Spital empfängt Patientinnen und Patienten aus Südtirol.

Alleskönner gesucht

Das Spital steht an der Hauptstrasse, die durch das Tal führt. Es ist bekannt als das kleinste Spital der Schweiz. Aber es ist mehr: Im vergangenen Jahrzehnt ist das Spital zum Gesundheitszentrum herangewachsen, zum Center da sandà Val Müstair. Es betreibt eine Hausarztpraxis, eine Spitex, einen Zahnarzt, eine Physiotherapie, eine psychiatrische Beratung, ein Altersheim. All-inclusive-Gesundheitsversorgung ist die Philosophie. Das erfüllt den Wunsch vieler Einheimischer: im Tal versorgt zu werden.

Im Center da sandà arbeiten 120 Personen, unter ihnen fünf Ärztinnen und Ärzte und zwei Assistenzärzte. Im Zentrum teilen sich Altersheim, Spitex, Spital die Ressourcen, zum Beispiel für das Personalwesen. Und wenn im Spital einmal Leute fehlen, können Mitarbeitende aus dem Altersheim einspringen. Mit dieser Strategie kann das Gesundheitszentrum Defizite vermeiden.

Im Spital werden im Schnitt vier bis fünf Patientinnen und Patienten täglich behandelt, die Obergrenze liegt bei zehn bis zwölf. An einem Dienstag im Sommer heisst das für den Chefarzt Theodor von Fellenberg: drei Darmspiegelungen.

Theodor von Fellenberg führt im Zickzack durch das Spital. Erste Tür: Notfallzimmer. Zweite Tür: Hausapotheke. Dritte Tür: Ultraschall. Und gleich gegenüber: das Labor. Fellenberg sagt: «Wir machen hier fast alles, was man in einem grossen Spital auch macht.» Fellenberg hebt die Stimme, Blick zur Laborantin, stolz: «Oder was machen wir hier nicht, was man in einem grossen Spital macht?»

Theodor von Fellenberg kam vor mehr als zwanzig Jahren ins Val Müstair, seit 2006 ist er Chefarzt. Aufgewachsen ist Fellenberg im Unterland, in Solothurn. Nach der Ausbildung arbeitete er als Tropenarzt und Infektiologe in Haiti und Simbabwe. Dann plante er die Rückkehr in die Schweiz und sah, dass man im Val Müstair einen Arzt suchte. Ein Kollege sagte ihm: «Da ziehen sie sogar noch Zähne im Spital!» Das fand er gut.

Wenn Fellenberg über das Spital spricht, schwärmt er. Ein einzigartiger Ort sei das. Fellenberg ist Generalist. Und hat im Val Müstair seine Berufung gefunden. Hier muss man als Ärztin oder Arzt so gut wie alles können. Da das Spital so klein ist, stellt man keine Spezialisten an. Fellenberg sagt: «Ich würde mich langweilen, wenn ich nur ein Organ behandeln dürfte.»

Doch in der Medizin werden heute kaum mehr Generalistinnen und Generalisten ausgebildet. Das beschäftigt Fellenberg. Assistenzärzte kommen für die zweijährige Ausbildung gerne ins Val Müstair. Aber Leute zu finden, die länger bleiben wollen, sei schwer, sagt Fellenberg. Ohne Generalisten sterbe die Gesundheitsversorgung in der Peripherie.

Das Spital in Santa Maria wurde im Jahr 1934 gebaut. Davor, so erzählt man es sich hier, hat ein Arzt die Einheimischen in seiner Küche behandelt und im Notfall operiert. Wurde die Behandlung zu kompliziert, lud man die Person auf einen Heuwagen und fuhr sie auf holprigen Strassen über den Ofenpass nach Zernez. In der Ausschreibung für den ersten Arzt des Spitals in Santa Maria stand, die Person müsse «alle Einwohner des Tals ärztlich behandeln und besuchen, wann er gerufen wird und so oft er es für nötig empfindet».

Im Spital hat Theodor von Fellenberg überall etwas zu besprechen: eine Rückfrage hier, eine Antwort da. Im Vorbeilaufen sagt er zu einem alten Mann mit Verband am Handgelenk: «Sieht gut aus, gell.» Immer wieder klingelt das Telefon. Dann sagt Fellenberg in den Hörer: «Wahrscheinlich hat er einfach die Medis nicht genommen. Frag mal.»

Fellenberg kennt die Leute hier im Tal, und die Leute kennen ihn. Um abschalten zu können, hat er gelernt, die Krankheitsgeschichte seiner Patientinnen und Patienten zu vergessen, sobald er das Spital verlässt. Aber klar: Wer Privatsphäre sucht, ist in diesem Tal falsch. Man weiss, wo Fellenberg wohnt und wann er Ferien macht. Er sagt: «Würde ich einen groben Fehler machen, müsste ich das Tal verlassen.»

Internationale Zusammenarbeit

Fellenberg hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren stark für dieses Spital und die Menschen im Tal eingesetzt. Als in den nuller Jahren die Spitalversorgung im Kanton Graubünden neu organisiert wurde, hat man im Spital im Val Müstair Leistungen gestrichen. Die chirurgische Abteilung wurde geschlossen, ebenso die Geburtenabteilung. Fellenberg protestierte. Den Leuten in der Peripherie mute man mehr zu, sagt er.

Aber was passiert, wenn bei Schneefall oder Lawinengefahr der Ofenpass geschlossen ist? Wenn das Wetter keinen Helikopterflug zulässt?

Die Wege aus diesem Tal sind weit. Einmal die Stunde fährt das Postauto über den Ofenpass nach Zernez, mit dem Auto dauert die Fahrt ohne Verkehr etwa 45 Minuten. Eine Zuglinie gibt es nicht. Das nächste Spital in Samedan ist 1 Stunde und 15 Minuten Autofahrt entfernt.

Weil das Val Müstair abgelegen ist, ist eine Schliessung des Spitals laut Kanton ausgeschlossen. Doch wie in vielen Bergtälern der Schweiz ist die Bevölkerung auch im Val Müstair überaltert. Und die Jungen ziehen weg. Heisst: In Zukunft wird es im Tal immer weniger Kundschaft geben. Und immer weniger Einnahmen für das Spital.

Schon vor Jahren überlegte sich Fellenberg gemeinsam mit anderen Personen aus der Institution deshalb, wie das Spital den Umsatz sichern kann. Die Idee liegt nur vier Kilometer entfernt: eine Zusammenarbeit mit den Leuten «dusse», wie sie im Tal sagen. Also: mit Südtirol, Italien.

Die Südtiroler Gemeinde Taufers liegt an der Schweizer Grenze und hat 960 Einwohnerinnen und Einwohner. Das nächste italienische Spital steht in Schlanders, 30 Kilometer weit weg. Fellenberg und seine Kollegen schlugen vor, in der Notfallpraxis auch Patientinnen und Patienten aus Taufers zu behandeln. Das war 2005.

Mit dem Vorschlag gingen sie damals bis nach Bern und Rom. Sie scheiterten an Italien. Und versuchten es wieder und wieder. 2020 kam die Pandemie, es gab eine Änderung im italienischen Gesundheitssystem. Neu ist statt Rom nun die Landesregierung Bozen gefragt bei Gesundheitsthemen. Bozen willigte ein, der Kanton Graubünden ebenfalls. Im Sommer 2022 startete die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen dem Val Müstair und Taufers in Form eines Pilotprojektes.

Das funktioniert so: Patientinnen und Patienten aus Taufers dürfen im Notfall statt nach Schlanders ins Val Müstair fahren. Dafür könnten sie sich beim Südtiroler Rettungsdienst, dem Weissen Kreuz, melden. Doch die meisten kommen allein über die Grenze und stehen irgendwann unangekündigt im Spital. Abgerechnet wird über den Südtiroler Sanitätsbetrieb.

Im Sommer 2024 ist das Projekt zwei Jahre alt, die Gemeindepräsidentin von Val Müstair, Gabriella Binkert Becchetti, und die Institutionsleitung des Center da sandà sagen, sie seien zufrieden. Und die Patientinnen und Patienten aus Taufers auch. Täglich kommen sie über die Grenze in die Notfallpraxis. Manchmal sind es zwei, manchmal mehr. Laut Spital bringen die Gäste aus Italien etwa 10 Prozent des Umsatzes. Die Abmachung ermöglichte dem Center da sandà, einen fünften Arzt anzustellen.

Das Val Müstair und das westliche Südtirol liegen zwar in zwei Ländern, aber in derselben Region. Man spricht dieselbe Sprache, hat dieselbe Mentalität. Täglich kommen 450 Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Italien ins Münstertal, um zu arbeiten. In der Schweiz profitiert man von den Menschen ennet der Grenze. Sie bewahren die Firmen vor dem Fachkräftemangel, helfen der Wirtschaft. Und nun auch dem Spital.

Das grenzübergreifende Spitalprojekt ist bis Ende Jahr befristet. In Taufers und im Spital hofft man, dass es um weitere drei Jahre verlängert wird. Laut der Gemeinde stehen die Chancen gut. Der Chefarzt Theodor von Fellenberg träumt aber schon weiter. Man könnte ja die nächsten Südtiroler Gemeinden in die Abmachung einbinden, sagt er. Die Leute aus Glurns, eine Nachbargemeinde von Taufers, hätten schon gestürmt. Sie wollten auch kommen.

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