Mittwoch, Februar 12

Vor der Bundestagswahl wird der Holocaust instrumentalisiert. Links und rechts greift man nach der Hitler-Keule. Da gibt es nur eine Lösung: die Wahl eines Juden zum Regierungschef.

Deutschland bietet gegenwärtig keinen allzu schönen Anblick. Der Wahlkampf hat sich zu einem würdelosen Schauspiel entwickelt, in dem sich Politiker und Kommentatoren mit Anspielungen auf das «Dritte Reich» übertreffen. Selten ist man sich für einen Nazi-Vergleich zu schade.

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Das Tor zur Hölle steht angeblich sperrangelweit offen, es ist wieder 1933: Friedrich Merz’ Vorstoss zum Asylrecht, der erwartbar auf die Gegenliebe der AfD gestossen ist, hat das Land in helle Aufregung versetzt.

Vorher drehte Alice Weidel semantische Pirouetten, als sie im AfD-Neusprech den Nationalsozialismus zum Kommunismus, Hitler zum Sozialisten umdeutete. Robert Habeck wiederum warnte in einem Video mit durchgestrichenen Hakenkreuzfahnen vor den Iden des Merz. Überall lauert das N-Wort. Jeder hat stets eine Hitler-Keule griffbereit. Neu ist das nicht.

Aber es nimmt epidemische Ausmasse an. Links wie rechts gibt es keine Scham mehr vor der Shoah. Auf der einen Seite die selbstgefälligen Warner: Wie ein Laientheater, eine bundesweite Performance-Art, wirken die Demos gegen die offenbar bevorstehende neue NS-Machtergreifung. Massenhaft haben sich Statisten selbst gecastet in der Rolle der Anständigen.

Ein Shoahgraben tut sich auf

Auf der anderen Seite der rechtsgewickelte Wutbürger, der die Augen verdreht, wenn man in seiner Gegenwart den Holocaust nur schon in den Mund nimmt. So wie Alice Weidel mit ihrer Gesichtsentgleisung, als sie bei Caren Miosga auf Auschwitz angesprochen wurde. Offenbar eine Zumutung: Auschwitz nervt.

Der passende Begriff, um die Sache auf den Punkt zu bringen, ist ein jiddischer: Deutschland steckt im Schlamassel. Ein Shoahgraben teilt das Land. Die einen sehen die KZ kurz vor der Wiedereröffnung, die anderen schwadronieren von einem angeblichen Schuldkult, der die Deutschen auf immer und ewig kollektiv belasten wolle.

Beide Seiten gehen ungeniert mit dem Holocaust hausieren. Er ist zur argumentativen Allzweckwaffe geworden. «Grenzen dichtmachen, weil Holocaust. Grenzen aufmachen, weil Holocaust»: So drückt es Mirna Funk in der «Welt» aus. Der Holocaust wird «kommunikativ als Joker» eingesetzt. Eine Karte, die mittlerweile bedenkenlos leicht gespielt wird. Sie ist ordentlich abgegriffen.

Scholz blendet die Juden aus

80 Jahre lang hat sich Deutschland bemüht, einen Umgang mit seiner verbrecherischen Vergangenheit zu finden. Man hat Denkmäler gebaut und Stolpersteine verlegt, grosse Worte wurden geprägt: Gedenkkultur, Erinnerungspolitik, Staatsräson. Aber wie unverfroren nun in den politischen Debatten die Nazi-Verbrechen für die jeweilige politische Agenda instrumentalisiert werden, zeigt die Vergeblichkeit der Liebesmüh.

Während die letzten Zeitzeugen wegsterben, verkommt die Shoah zur leeren Chiffre. Exemplarisch dafür: In einem Instagram-Post zum Jahrestag der Auschwitz-Befreiung erwähnte Bundeskanzler Scholz die Juden mit keinem Wort.

Überraschend ist das nicht. Vielmehr zeigt es symptomatisch auf, wo immer schon der Konstruktionsfehler in der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung lag: Es ging nie um die Juden. Die Deutschen beschäftigten sich vor allem mit sich selbst.

Anfangs war das schlüssig: Der Täter muss erkennen, dass er der Täter ist. Und dann, was ihn zum Täter gemacht hat. Aber für eine gelungene Resozialisierung reicht das noch nicht, wie man aus dem Strafvollzug weiss: Es genügt nicht, dass der Täter in sich geht, er muss sich auch mit dem Opfer auseinandersetzen. Daran hat es in Deutschland immer gefehlt. Wenn man ehrlich ist, hat man sich nie für das Judentum interessiert.

Otto Normalbürger hat davon keine Ahnung. Schläfenlocken, Bagel und irgendwas mit Zionismus: Das ungefähr ist sein Wissensstand. Was folgt daraus? Talmudschule für alle? Viel einfacher, die Lösung liegt auf der Hand.

Es braucht einen jüdischen Kanzler.

Nicht, um deutschlandweit den Schabbes einzuführen. Oder weil die Wahl einer Jüdin oder eines Juden zum Regierungschef überfällig ist: Nach dem sechsmillionenfachen Mord wäre es das Mindeste gewesen.

Nein, ein jüdisches Kanzleramt drängt sich auf, weil es den gordischen Knoten lösen könnte, an dem die deutsche Nation seit 80 Jahren zerrt.

Die AfD hätte ein Problem

Das Gedankenexperiment lohnt sich. Zunächst einmal wäre, für alle ersichtlich, nicht mehr 1933. Diese Hysterie hätte ein Ende. Aber auch der AfD würde das Leben schwerer gemacht. Denn wenig tut die Partei lieber, als sich über die angeblich aufoktroyierte generationenübergreifende Schuld auszulassen. Mit einem jüdischen Kanzler wäre die Schuldigkeit getan.

Es wäre der Schlussstrich gezogen, den sich die Gaulands, Weidels und Höckes so sehnlich wünschen. Ein Schlussstrich allerdings, der einen Neuanfang initiiert, den ein Jude diktiert. Der AfD müsste schwindlig werden.

Aber es wird noch besser. Aussenpolitisch hätte die hohle Phrase von Israels Sicherheit als Staatsräson endlich ein konkretes Gesicht. Und innenpolitisch wäre der Clou, dass sich das Asylproblem tendenziell von selbst erledigen würde. Nämlich ganz einfach deshalb, weil Deutschland deutlich weniger attraktiv wäre für irgendwelche Islamfanatiker. Diese träumen von einem islamischen Gottesstaat: Garantiert wollen sie ungern in einem Land leben, das von einem Juden regiert wird.

Von Vorteil mit Kippa

Ein jüdischer Kanzler brächte viele Vorteile. Die Schwierigkeit besteht darin, die geeignete Person zu finden. Was die Religiosität betrifft, sollte man sich flexibel zeigen. Bei einem männlichen Kanzler wäre ein Kippa-Träger von Vorteil, Peies sind nicht Pflicht, aber je orthodoxer das Erscheinungsbild, desto stärker die Wirkung.

Doch auch ein Reformjude ginge. Selbst ein blosser Vaterjude wäre notfalls denkbar. Alles, was verlangt ist, ist ein gesundes Verhältnis zum Judentum. Am Stockholm-Syndrom leidende «Juden in der AfD» sind ausgeschlossen.

Man sollte sich auch kein Vorbild an den Österreichern nehmen, wo der wirre Bruno Kreisky das eigene jüdische Volk verleugnet und sich mit Israel angelegt hat. Zionist müsste der Mensch an der Spitze Deutschlands schon sein. Ein Israel-Kritiker würde die aussen- und die innenpolitischen Vorteile zunichtemachen, dann könnte man gleich bei Scholz bleiben.

Abgesehen davon wäre alles erlaubt. Nun ist Friedrich Merz viel zuzutrauen, so oft, wie er seine Prinzipien ändert – aber für eine langwierige Konversion zum Judentum wäre er wahrscheinlich zu ungeduldig. Wer also würde sich für den Posten eignen?

Die üblichen Verdächtigen, die Michel Friedmans und Daniel Cohn-Bendits, gelten zu sehr als Establishment. Spontan drängt sich auch deshalb kein Kandidat auf, weil sich in der deutschen Politik praktisch keine Juden finden. Kaum zu glauben: Im Bundestag sitzt nicht ein einziger jüdischer Abgeordneter.

Fast wünschte man sich Weimar zurück

Ronen Steinke erinnerte unlängst in der «Jüdischen Allgemeinen» daran, dass in der Weimarer Republik die Juden noch anständig in der Politik vertreten waren. «So glänzend wie schillernd: der Reichsaussenminister Walther Rathenau. Parteiübergreifend respektiert: der Fraktionschef der Liberalen, Ludwig Haas. Unbeugsam und idealistisch: Hugo Haase, der Anführer der Linkssozialdemokraten.»

Fast wünschte man sich Weimarer Verhältnisse zurück, den «Höhepunkt der gesellschaftlichen und politischen Emanzipation der Juden». Rathenau wurde freilich 1922 von einem rechtsradikalen Antisemiten ermordet. Genauso wie Kurt Eisner, der bis zu seinem Tod 1918 der erste Ministerpräsident des Freistaats Bayern war.

Später, so Steinke, hätten es die jüdischen Deutschen, die am Grundgesetz mitschrieben, «für nötig gehalten, ihre jüdische Identität eher zu verstecken». Er erinnert an den konservativen Walter Strauss von der CDU, Rudolf Katz, SPD. Dass sich in den darauffolgenden Jahrzehnten kaum einer politisch zu exponieren wagte, zeigt, wie es um die Bewegungsfreiheit für Juden in dem Land nach wie vor bestellt ist.

Als Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, 1993 für das Amt des Bundespräsidenten ins Gespräch gebracht wurde, wiegelte er sofort ab. «Dieses Land ist für ein jüdisches Staatsoberhaupt noch nicht reif», sagte er. Wenige Jahre später starb Bubis als resignierter Mann. Er habe «diese Ausgrenzerei, hier Deutsche, dort Juden, weghaben» wollen, sagte er im letzten Interview, kurz vor seinem Tod 1999. «Aber, nein, ich habe fast nichts bewegt.»

Vielleicht war die Zeit im Gegenteil überreif. 25 Jahre später drängt sich die Einsicht auf, dass sich in dem Land erst etwas bewegt, wenn alles einmal ordentlich auf den Kopf gestellt wird.

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