Merz ist neuer deutscher Regierungschef, doch die turbulente Wahl zeigt einmal mehr: Die Regierung steht vor enormen Herausforderungen.

Der Tag, an dem Merz Bundeskanzler wurde, begann mit einer historischen Niederlage. Er verpasste im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit und wurde nicht zum Kanzler gewählt. Als erster Kandidat in der Geschichte der Bundesrepublik.

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Wenige Stunden später erreichte Merz dann doch, worauf er ein halbes Leben hingearbeitet hatte: Der Bundestag wählte ihn zum Kanzler. Im zweiten Wahlgang stimmten 325 Abgeordnete für ihn, damit erreichte er doch noch die absolute Mehrheit. Gelöst und erleichtert sagte er zur Bundestagspräsidentin Julia Klöckner: «Frau Präsidentin, ich bedanke mich für das Vertrauen und nehme die Wahl an.»

Blamage für Merz

Am Vormittag hatte Merz die Wahl zum Kanzler um 6 Stimmen verpasst. 316 Stimmen hätte er für die absolute Mehrheit benötigt, nur 310 hatte er erhalten. Das, obwohl seine Koalition aus CDU, CSU und SPD insgesamt 328 Abgeordnete stellt.

Nach der gescheiterten Wahl war es im Bundestag zunächst sonderbar still. Klöckner unterbrach die Sitzung auf unbestimmte Zeit, die Abgeordneten standen auf und zogen sich zu Beratungen zurück. Merz, aber auch der SPD-Chef und künftige Vizekanzler Lars Klingbeil mussten klären: Wer sind die Abweichler in der rot-schwarzen Koalition? Kann man sie noch umstimmen? Und ja, auch diese Frage stellte sich: Wussten die Abweichler überhaupt, wie umständlich es ist, die Kanzlerwahl zu wiederholen?

Die Wahl zum Bundeskanzler findet jeweils anonym statt, heisst: Nachvollziehen, woher die Nein-Stimmen kommen, ist schwierig. Wahrscheinlich ist, dass es in beiden Fraktionen Abgeordnete gab, die mit Nein stimmten. Um Merz tatsächlich zu verhindern – oder um ihm im ersten Wahlgang eine Lehre zu erteilen.

So vergingen die Stunden nach der Wahl, und zunächst schien niemand so genau zu wissen, wie es nun weitergeht. Klar war nur: Mit diesem Wahlergebnis hatten in den Fraktionen die wenigsten gerechnet. Doch man raufte sich zusammen. Um am selben Tag überhaupt eine zweite Wahl durchführen zu können, mussten zwei Drittel der Abgeordneten einer Änderung der Tagesordnung zustimmen. Union und SPD sprachen sich mit den Grünen und der Linken ab, doch auch die AfD stimmte dafür. Der Weg für Merz war frei. Im zweiten Wahlgang erhielt er 15 Stimmen mehr. Deutschland hat, genau sechs Monate nach dem Zusammenbruch der Koalition zwischen SPD, Grünen und FDP, eine neue Regierung.

Trotzdem ist die gescheiterte Wahl eine kleine Blamage für die Regierung unter Merz. Eigentlich war man ja unter Zeitdruck, wollte sich angesichts der angespannten weltpolitischen Lage so schnell wie möglich an die Arbeit machen. Merz hat in den vergangenen Wochen mehrfach einen Politikwechsel verkündet, er sprach von der «letzten Chance der Mitte», der CSU-Chef Markus Söder bezeichnete die Zusammenarbeit mit der SPD gar als «letzte Patrone der Demokratie».

Nun startet die Regierung geschwächt. Und die Abstimmung im Bundestag zeigt auch: So einige Abgeordnete aus den Reihen von Union und SPD scheinen der schwarz-roten Koalition zu misstrauen. Die Aufgabe von Merz, Söder und Klingbeil wird sein, sie von ihr zu überzeugen.

Höchste Erwartungen

Merz muss sich intensiv um die deutsche Aussenpolitik kümmern. Voraussichtlich fliegt er bereits am Mittwochmorgen nach Frankreich, um den französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu treffen. Die anderen europäischen Länder richten hohe Erwartungen an Deutschland als Partner. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine, aber auch die USA unter Donald Trump werden die Regierung unter Merz in den kommenden Monaten fordern.

Aber auch innenpolitisch gibt es einiges zu tun. Im März boxte Merz gemeinsam mit SPD und Grünen Milliardeninvestitionen in Verteidigung und Infrastruktur durch den Bundestag. Die finanzielle Grundlage seiner Kanzlerschaft ist seither gesichert. Doch wofür wird die Regierung das ganze Geld ausgeben? Und schafft es Merz, aus Deutschland wieder ein Land mit wachsender Wirtschaft zu machen?

Auch die Migration wird die neue Regierung beschäftigen. Merz will Asylsuchende künftig direkt an der Grenze zurückweisen. Zudem sollen straffällige Asylsuchende konsequenter abgeschoben werden. Wie ihm das gelingen soll, ist unklar.

Dann ist da noch die AfD. Die Partei hat bei der Bundestagswahl 20,8 Prozent aller Stimmen bekommen, in Umfragen erreicht sie mittlerweile bis zu 25 Prozent Zustimmung. Gleichzeitig stufte der Verfassungsschutz die Partei am vergangenen Freitag als Partei mit «rechtsextremistischen Bestrebungen» ein. Offen ist, was dies für den Umgang mit ihr bedeutet.

Klar ist hingegen, dass gerade die AfD von solchen Episoden der Unsicherheit wie am Dienstag im Bundestag zu profitieren versucht. Kaum war die erste Abstimmung beendet, stellte sich die AfD-Vorsitzende Alice Weidel vor die Presse, verlangte Neuwahlen und forderte Merz zum Rücktritt auf. Doch es kam anders. Wenige Stunden später gratulierte sie Merz zur Wahl.

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